2009


13. August 2009
Kammergericht Berlin
Pressemitteilung
Entscheidung über Teilnahmerechte des Vereins ehemaliger Heimkinder e.V. am „Runden Tisch Heimerziehung“ - PM 40/09

27. Mai 2009
Die Welt
Missbrauch: Bischöfe entschuldigen sich

20. Mai 2009
SPIEGEL ONLINE
SKANDAL IN IRLANDS KIRCHE

Geschlagen, gedemütigt, vergewaltigt

20. Mai 2009
SPIEGEL ONLINE
UNTERSUCHUNGSBERICHT
Tausende Kinder in Heimen der irischen Kirche missbraucht

20. Mai 2009
Tagesschau ARD
Bericht über jahrzehntelangen Missbrauch veröffentlicht
Erschütterndes aus Irlands "Häusern des Horrors"

17.05.2009
Neue Westfälische
Diakonie-Chef entschuldigt sich für Gewalt
Untersuchung über Heimkinder vorgelegt

15.05.2009
Der Westen

Diakonie entschuldigt sich bei Heimkindern

12.05.2009
DerWesten
Früheres Johanna-Helenen-Heim

Misshandelte Kinder suchen Gehör

8. Mai 2009
der Freitag
Zeitgeschichte
Aufstand der Heimkinder

8. Mai 2009
Hannover Zeitung
Therapeutische Hilfen für misshandelte ehemalige Heimkinder

6.Mai 2009
Neue Osnabrücker Zeitung
Es läuft nicht rund mit dem Runden Tisch

4.Mai 2009
Kölner Stadt-Anzeiger
Die Opfer schwiegen lange

4.Mai 2009
Kölner Stadt-Anzeiger
HEIMKINDER
Geschlagen und gedemütigt

21. April 2009
Frankfurter Allgemeine FAZ
Heimerziehung
Die Betreuer wurden mit den Kindern ausgestoßen

9.4.2009
NÜRNBERGER NACHRICHTEN
1.Stapf-Heimleiter: «Ich war überrascht«
Franz Ochs über die Missstände von damals

2.
Stapf: Kleinkinder im Bett festgebunden
Zeitzeugen berichten Grausamkeiten aus ihrer Zeit im Kinderheim

2.02. April 2009
Frankfurter Allgemeine
Heimerziehung
„Wir dachten, wir retten diese Kinder“

02.04.2009
Rheinischer-Merkur
ERZIEHUNG / Ein dunkles Kapitel aus den frühen Jahren

der Bundesrepublik kommt ans Licht.
Zwei Wissenschaftler erforschen die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge

01.04.2009 
taz.de
Bischöfin Käßmann über Heimkinder
"Eine Entschuldigung ist zu banal"

28.03.2009
FR-online.de
Behinderte Heimkinder
Im Herz der Finsternis

26. 03. 2009
Presseinformation der Geschäftsstelle Runder Tisch
"Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren"

19.03.2009
Wiesbadener Kurier
Hoffen auf Genugtuung und Entschädigung

17. März 2009
Rhein-Zeitung
1. Landesjugendamt Rheinland-Pfalz: Keine Hinweise auf Missbrauch
2. Die Schattenkinder des Wirtschaftswunders
3. Kein Einzelschicksal: Wenn die Diakonisse mit dem Schlüssel schlägt
4. Die Liste der bekannten Heime im nördlichen Rheinland-Pfalz

08. März 2009
Sonntagsblatt
Ausgabe 10/2009 vom
Zwangsarbeit im Kinderheim

08. März 2009
Sonntagsblatt
Ausgabe 10/2009 vom
»Wir sind kein Tribunal«

5. März 2009
Radio Vatikan
Im Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,

Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, anlässlich der
Pressekonferenz zum Abschluss der
Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz
am 5. März 2009 in Hamburg zum Thema
Ehemalige Heimkinder

17. Februar 2009
Spiegel-Online
UNRECHT GEGEN HEIMKINDER
"Ich bin hier nicht als Bittstellerin"

12.02.2009
Stuttgarter Zeitung
Heimerziehung in den 50er Jahren
Streng geregelte Kindheit

10.02.2009
Saarbrücker Zeitung:
Runder Tisch zum Schicksal der Heimkinder startet am nächsten Dienstag

04.02.2009 
taz.de
Missbrauch im Heim
Herr Focke will Wiedergutmachung

04.02.09
jungle-world.com - Archiv - 05/2009 - Inland -
Die Debatte um die Entschädigung für ehemalige Heimkinder

ZDF
ML Mona Lisa
25.01.2009
http://monalisa.zdf.de/ZDFde/inhalt/2/0,1872,7508066,00.html

Viele Zöglinge von Kinderheimen

wurden in den 60er Jahren als Zwangsarbeiter missbraucht.
ML Mona Lisa
Keine Entschädigung für Heimkinder?

22. Januar 2009
18:40 Uhr
Deutschlandfunk
Hintergrund

"Wenn du nicht spurst, kommst du ins Heim!"
Späte Hilfe für westdeutsche Heimkinder
Von Detlef Grumbach

20. JANUAR 2009
Kölner Stadt-Anzeiger
MISSHANDLUNG IM KINDERHEIM

18.1.2009
Westpol WDR
19.30 - 20.00 Uhr
Ehemalige Heimkinder sind enttäuscht

15.1.2009
Pressemitteilung WebService
Ehemalige Heimkinder:

Was hat "Röschen" Albrecht da Ursula von der Leyen eingebrockt?

15.1.2009
domradio - 16.01.2009 10:52:55
„Ich entschuldige und schäme mich“
Bischöfin Käßmann entschuldigt sich bei ehemaligen Heimkindern

14.1.2009
NDR Radio
Bischöfin Käßmann

entschuldigt sich öffentlich bei misshandelten Heimkindern

13.01.2009
Berliner Zeitung
Martyrium Erziehungsanstalt

13.1.2009
Tagesspiegel
Missbrauchsfälle
Neuer Streit um Entschädigung von Heimkindern

13.01.2009
Frankfurter Rundschau
Aufarbeitung light
Familienministerin von der Leyen

gefährdet Wiedergutmachung für misshandelte Heimkinder
VON VERA GASEROW

13.01.09
mz-web.de
Naumburger Tageblatt
Mitteldeutsche Zeitung
Heimkinder
Wiedergutmachung wird zum Streitfall

13.01.2009
domradio
12.1.2009
„Das ist für uns ein Hohn“
Streit um den Runden Tisch für Heimkinder

12.1.2009
Bundespressekonferenz, 12.1.2009, 11.30 Uhr
Protokollauszug

12.01.09
Mitteldeutsche Zeitung
Schicksal misshandelter Heimkinder
Bock wird zum Gärtner

12.1.2009
epd
Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers
Streit um Runden Tisch für ehemalige Heimkinder

12.01.09
Kölner Stadt-Anzeiger
GEWALT IN KINDERHEIMEN
Streit um Wiedergutmachung

12.01.2009 
TAZ.de
Von der Leyen will nicht entschädigen
Heimkinder gehen leer aus

10. Januar 2009, 02:02 Uhr
Welt-Online

Neuer Streit um Entschädigung für Ex-Heimkinder

3.1.2009
Pfälzischer Merkur
Schläge im Namen des Herrn

2009


13. August 2009
Kammergericht Berlin
Pressemitteilung

Berlin, den 13.08.2009

Entscheidung über Teilnahmerechte des Vereins ehemaliger Heimkinder e.V. am „Runden Tisch Heimerziehung“ (PM 40/09)
Pressemitteilung Nr. 40/2009

Die Präsidentin des Kammergerichts
Pressestelle der Berliner Zivilgerichte
Elßholzstraße 30 – 33, 10781 Berlin

Der Verein ehemaliger Heimkinder e.V. ist mit seinem Begehren gescheitert, mit gerichtlicher Hilfe im Wege einer einstweiligen Verfügung die Teilnahme dreier von ihm benannter Delegierter sowie eines Rechtsanwalts am Runden Tisch Heimerziehung durchzusetzen. Das Kammergericht wies heute nach mündlicher Verhandlung die sofortige Beschwerde des Vereins gegen eine gleichfalls abweisende Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 9. Juni 2009 zurück.

Der klagende Verein hatte argumentiert, bei dem auf Empfehlung des Petitionsausschusses vom Deutschen Bundestag unter dem Vorsitz der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer eingerichteten „Runden Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ handele es sich um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Daraus hatte er für sich Rechte als Gesellschafter abgeleitet. Der beklagte „Runde Tisch“ hatte dem entgegengehalten, das vom Petitionsausschuss angeregte Konzept sei bewusst informal gehalten worden. Eine Verrechtlichung des Gesprächskreises sei gerade nicht beabsichtigt gewesen.

Landgericht Berlin – Beschluss vom 9. Juni 2009 – 19 O 396/09
Kammergericht – Urteil vom 13. August 2009 – 23 W 46/09
Bei Rückfragen: Dr. Ulrich Wimmer
(Tel: 030 – 9015 2504, - 2290) http://www.berlin.de/sen/justiz/presse/archiv/20090814.1215.135114.html

27. Mai 2009
Die Welt
Missbrauch: Bischöfe entschuldigen sich

Streit in Irland über Schadenersatzzahlungen - Beratungen des Kabinetts
Dublin - Die irischen Bischöfe haben sich bei den Opfern kirchlicher Missbrauchsfälle entschuldigt. Die Vorfälle seien "umso schlimmer" gewesen, weil sie von denjenigen ausgegangen seien, die sich "im Namen Jesu Christi" um die ihnen anvertrauten Kinder hätten kümmern sollen, erklärte die ständige Kommission der irischen Bischofskonferenz am Montagabend. Nach einem vergangene Woche veröffentlichten unabhängigen Bericht wurden über Jahre hinweg mehr als 2000 Kinder in kirchlichen Erziehungsheimen, Schulen und anderen Betreuungseinrichtungen in Irland misshandelt, geschlagen und sexuell missbraucht. Untersucht wurde ein Zeitraum von 60 Jahren bis in die 1980er-Jahre.
Der Bericht sei ein "bedeutender Schritt zur Wahrheitsfindung", so die Bischöfe. Um die Fehler der Vergangenheit anzusprechen, müsse die Kirche "analysieren, wie und warum man eine solche Umgebung der Gewalt zugelassen hat". Die Bischöfe sehen es als ihre Pflicht, die Opfer zu unterstützen" und den Aufbau einer "liebenden Gesellschaft" für Kinder zu fördern, um ihnen bestmöglichen Schutz zu gewähren. Der Missbrauchsbericht soll bei der nächsten Generalversammlung der Bischöfe im Juni detaillierter diskutiert werden.
Gleichzeitig ist ein innerkirchlicher Streit über Schadenersatzzahlungen an die Opfer ausgebrochen. Laut Bericht der Tageszeitung "Irish Examiner" sprachen sich sowohl der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Kardinal Sean Brady, als auch der Dubliner Erzbischof Diarmuid Martin für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen aus. Dies lehnten aber die 18 Gemeinden ab, die sich im Jahr 2002 mit der Regierung auf eine Höchstgrenze für Schadenersatzzahlungen von 128 Millionen Euro geeinigt hatten. In einer ersten Stellungnahme betonten die Geistlichen und Ordensleute, dass die Abmachung von 2002 nicht angetastet werden solle. Das irische Kabinett beriet am Dienstag über eine mögliche Neuverhandlung der Einigung von 2002. Bildungsminister Batt O'Keefe will demnach die Übereinkunft nicht antasten, Premier Brian Cowen juristischen Rat einholen. KNA

20. Mai 2009
SPIEGEL ONLINE
SKANDAL IN IRLANDS KIRCHE
Geschlagen, gedemütigt, vergewaltigt


Aus Dublin berichtet Martin Alioth

Irland arbeitet einen Missbrauchsskandal ungeheuren Ausmaßes auf: In katholischen Heimen und Schulen wurden jahrzehntelang Tausende Minderjährige gequält. Schweigender Komplize war der Staat, der das System finanzierte - die Einrichtungen erhielten eine Kopfprämie für jedes Kind.

Die Leidtragenden mussten draußen bleiben. Als die Untersuchungskommission der irischen Regierung am Mittwoch ihren Bericht zu dem schwerwiegendsten Missbrauchsskandal in der Geschichte des Landes im edlen Conrad Hotel in Dublin vorstellte, hatte sich dort auch eine Gruppe von Opfern versammelt - doch zu ihrem Zorn wurden die Menschen nicht eingelassen.

"Leer und betrogen" fühlten sich die Opfer, klagte John Kelly, Sprecher der Organisation SOCA, mit wuterfüllter Stimme. Die bloße Untersuchung der Vorfälle geht ihm nicht weit genug. Die Schuldigen, so Kelly, müssten belangt, vor Gericht gestellt werden.

Tausende von irischen Kindern wurden jahrzehntelang systematisch in Anstalten missbraucht, die von der Katholischen Kirche in Irland geführt, aber vom irischen Staat finanziert wurden. Zu diesem Schluss kommt der 2500 Seiten starke Bericht. Seit dem Jahr 2000 hatte eine Expertenkommission unter der Leitung eines Richters ermittelt, von den über 3000 Opfern, die sich als Zeugen gemeldet hatten, wurden aus Zeitgründen nur etwa 1800 persönlich befragt und angehört.
Das Oberhaupt der katholischen Kirche in Irland entschuldigte sich am Mittwoch. Er sei "zutiefst beschämt, dass Kinder in diesen Institutionen auf so schreckliche Weise leiden mussten", sagte Kardinal Sean Brady, der Primas von Irland und Erzbischof von Armagh, der Nachrichtenagentur AFP zufolge.

Die Kommission war nach einer Fernsehdokumentation eingesetzt worden, die den damaligen irischen Premierminister, Bertie Ahern, 1999 zu einer offiziellen Entschuldigung im Namen des irischen Staates veranlasst hatte.
Insgesamt erhoben die Opfer Beschuldigungen gegen mehr als 200 Institutionen. Es handelt sich um Besserungsanstalten, Arbeitsheime, Waisenhäuser und dergleichen, in die uneheliche, delinquente, verwaiste oder ansonsten missliebige Kinder von willfährigen Gerichten überwiesen wurden. Sie waren im Durchschnitt acht Jahre alt.

Es handelte sich also oft um Kinder, die sich an keine Angehörigen um Hilfe wenden konnten - und wenn sie es wagten, glaubte man ihnen nicht. Glaubte man ihnen doch, blieben Kirche und Staat untätig.

Sexueller Missbrauch war endemisch
Die Komplizenschaft von Kirche und irischem Staat kommt nicht von ungefähr - die Verflechtungen waren einst so dicht, dass eine Unterscheidung bisweilen schwer fiel: Der damalige Erzbischof von Dublin, John Charles McQuaid, durfte die noch immer gültige irische Verfassung von 1937 vorweg redigieren.
Die Mehrheit der Missbrauchsfälle trug sich in den Jahren 1936 bis 1970 zu, aber der Bericht enthält auch ältere und jüngere Fälle. Es ist ohnehin bekannt, dass klerikaler Missbrauch in Irland nicht 1970 endete - damals wurden bloß die viktorianischen Anstalten geschlossen.

Der Bericht spricht von systematischem, körperlichem, sexuellem und emotionalem Missbrauch. Federführend waren bei den Jungen die Christian Brothers, die die beiden größten "Industrial Schools" in Artane (Dublin) und Letterfrack (Donegal) führten. In diesen beiden Anstalten sei der sexuelle Missbrauch "endemisch" gewesen, sagt der Bericht schneidend, also permanent und im System eingebaut. Pikanterweise wurden die wesentlichen Beweise für den sexuellen Missbrauch dieses Ordens in den Archiven des Vatikans gefunden.

Die Täter wurden geschützt, sofern es sich nicht um einen Gärtner oder einen Chauffeur handelte. Schlimmstenfalls wurden chronische Kriminelle einfach in eine andere Institution versetzt. Zeitweise gingen mindestens sieben Kleriker gleichzeitig in derselben Schule ihren sexuellen Begierden nach.
Körperlicher Missbrauch bei den "Sisters of Mercy"

Bei den Institutionen für Mädchen herrschte körperlicher Missbrauch vor, also Prügel. Diese wurde oft täglich und grundlos verabreicht, für die Kinder sei das ein "täglicher Terror" gewesen. Der dominante Orden für Mädchen hieß perverser Weise "Sisters of Mercy" - die Schwestern der Barmherzigkeit. Dieser Orden betrieb auch die in einem anderen Film angeprangerten "Magdalen Laundries", Wäschereien für "gefallene Mädchen", also Frauen, deren Lebenswandel Anstoß erregte.

Der irische Staat, vertreten durch sein Bildungsministerium, finanzierte diesen Missbrauch der Kinder. Die katholischen Orden erhielten eine Kopf-Prämie pro Kind und bemühten sich regelrecht um zusätzliche Kinder, denn das Geschäft lohnte sich. Aber das Ministerium griff aus Angst oder Respekt vor der katholischen Kirche nie ein, wenn Klagen über Missbrauch bekannt wurden. Der Staat wurde so zum schweigenden Komplizen des Unrechts, denn offiziell blieb die Sorgepflicht ja beim Staat, die Orden handelten im Auftrag der Öffentlichkeit.

Sowohl das Ministerium als auch die religiösen Orden versuchten, die Arbeit der Kommission zu sabotieren. Die erste Vorsitzende, Richterin Mary Lafoy, trat nach drei Jahren aus Protest gegen diese amtliche Obstruktion zurück.
Bis zu 500 Priester könnten verstrickt sein

Am hartnäckigsten wehrten sich die Christian Brothers. Ihren dauernden Sabotageversuchen ist es zuzuschreiben, dass der Bericht keine Namen nennt.
SOCA-Sprecher Joe Kelly ist empört, dass die Willfährigkeit der Gerichte nicht untersucht wurde. Er verlangte, dass die Führung der Kirche und der religiösen Orden ebenso vor Gericht gestellt werde wie die duckmäuserischen Ministerialbeamten.

Mary Raftery, die Produzentin des Fernsehfilms "States of Fear", der 1999 das öffentliche Bewusstsein geweckt hatte, meinte am Mittwochabend im irischen Rundfunk, sie glaube dennoch, der schockierende Bericht werde den Opfern endlich Genugtuung verschaffen, da er den Wahrheitsgehalt ihrer Anklagen amtlich und ausführlich bestätige.

Die groben Tatsachen, die in diesem fünfbändigen Bericht aufgelistet werden, waren schon bekannt. Der Ruf der katholischen Kirche hat in den vergangenen Jahren in Irland durch aktuelle Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester und die anschließende Vertuschung durch die zuständigen Bischöfe derartigen Schaden genommen, dass er durch die neuen Einzelheiten kaum mehr weiter beeinträchtigt werden kann.

Möglicherweise kommt es aber noch schlimmer: Im Sommer soll ein Bericht über Missbrauch durch Priester in der riesigen Erzdiözese Dublin veröffentlicht werden; der gegenwärtige Erzbischof von Dublin, der überaus ehrenwerte Diarmuid Martin, hat schon mehrfach gewarnt, es seien bestürzende Einzelheiten zu erwarten. Es ist die Rede von bis zu 500 Priestern, die in die Vorgänge verstrickt gewesen sein könnten.

Am Mittwochabend wiederholte der irische Provinzial der Christian Brothers die Entschuldigungen des Ordens für den vergangenen Missbrauch in einer Sendung des irischen TV-Kanals RTE. Christine Buckley, ein prominentes Opfer der "Sisters of Mercy" wurde in derselben Nachrichtensendung gebeten, die Aussagen des Provinzials zu kommentieren. "Ich glaube ihm kein einziges Wort", sagte sie mit kaum unterdrücktem Zorn.

URL:
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,626099,00.html
© SPIEGEL ONLINE 2009


20. Mai 2009
SPIEGEL ONLINE
UNTERSUCHUNGSBERICHT
Tausende Kinder in Heimen der irischen Kirche missbraucht


Sie wurden geschlagen, gedemütigt, vergewaltigt: In Irland ist nun erstmals offiziell bestätigt worden, dass in katholischen Institutionen bis in die neunziger Jahre Tausende Minderjährige missbraucht wurden. Dem Untersuchungsbericht zufolge wurden die Opfer "wie Sklaven" behandelt.

Dublin - Neun Jahre lang arbeitete die Untersuchungskommission an ihrem Bericht, jetzt liegt er vor und bestätigt erstmals offiziell, was sich bislang aufgrund von Zeugenbeschreibungen vermuten ließ: In katholischen Schulen Irlands sind jahrzehntelang Tausende von Kindern geschlagen, gedemütigt und vergewaltigt worden.

Für den 2600 Seiten umfassenden Bericht wurden Tausende ehemalige Schüler und ehemaliges Personal der mehr als 250 von der katholischen Kirche betriebenen Einrichtungen befragt. In die Berufsschulen, Besserungsanstalten, Waisenhäuser und Herbergen wurden in den sechs Jahrzehnten des Berichtszeitraums mehr als 30.000 Kinder eingewiesen, die als Taschendiebe und Schulschwänzer galten oder deren Familien als zerrüttet galten.

Vor allem in Jungenschulen des Ordens Christian Brothers seien Belästigung und Vergewaltigung an der Tagesordnung gewesen, heißt es in dem Bericht. Mädchen in meist vom Orden der Barmherzigen Schwestern betriebenen Schulen seien weniger sexuell belästigt worden, hätten aber regelmäßig Schläge und Demütigungen über sich ergehen lassen müssen, die ihnen ihre Wertlosigkeit vor Augen führen sollten.

Pädophile vor Strafverfolgung geschützt
"In einigen Schulen war eine ritualisierte Form des Schlagens Routine. Mädchen wurden mit Utensilien auf alle Körperteile geschlagen, die für die Verursachung maximaler Schmerzen konstruiert wurden. Persönliche Herabsetzung und Verunglimpfung der Familie waren weit verbreitet", heißt es in dem Bericht.
Staatliche Kontrolleure hätten es von den dreißiger bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein versäumt, die chronischen Misshandlungen zu unterbinden.

Die meisten Ordensführer haben die Vorwürfe als Übertreibungen und Lügen zurückgewiesen. In vielen Aussagen hieß es, die Verantwortung für Missbräuche falle allein seit langem verstorbenen Personen zu.

Der in fünf Bänden vorgelegte Bericht folgt dagegen meist den Aussagen ehemaliger Schüler, die heute zwischen 30 und 80 Jahre alt und noch immer traumatisiert sind. Er folgert, dass viele Schulleiter rituelles Schlagen ermutigten und Pädophile vor Strafverfolgung schützten.

"Ein Klima der Angst"
Die Kinder seien als "Sklavenarbeiter" an Bauern vermietet worden, sagte der Vorsitzende des Opferverbandes SOCA, John Kelly. Schläge seien für die nicht bei ihren Namen, sondern mit Nummern gerufenen Minderjährigen an der Tagesordnung gewesen. "Ich war nicht John Kelly, ich war

Nummer 253, das werde ich niemals vergessen." Die Einrichtungen hätten teilweise sowjetischen Arbeitslagern geglichen, sagte Kelly.
"Ein Klima der Angst", so konstatiert auch der Bericht der Untersuchungskommission, habe in den Institutionen geherrscht, hervorgerufen von allgegenwärtiger, exzessiver und willkürlicher Bestrafung: "Die Kinder lebten mit dem täglichen Schrecken nicht zu wissen, warum sie das nächste Mal geschlagen werden."

Dies gehe aus fast allen Aussagen der befragten Männer und Frauen hervor, die diese Schulen durchmachen mussten, schreibt die Kommission. Sie hätten zweifelsfrei ein Bild ergeben, nach dem das gesamte Schulsystem Kinder eher wie Häftlinge und Sklaven denn als Menschen mit Rechten und Potential behandelt habe.
pad/Shawn Pogatchnik, AP/AFP

URL:
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,626068,00.html

20. Mai 2009
Tagesschau ARD
Bericht über jahrzehntelangen Missbrauch veröffentlicht
Erschütterndes aus Irlands "Häusern des Horrors"


Albtraum ohne Ausweg: Tausende irische Kinder wurden im vergangenen Jahrhundert in Heimen missbraucht - seelisch, körperlich und auch sexuell. Jetzt hat die Regierung einen Untersuchungsbericht vorgelegt. Aber viele Opfer sind mit dem Ergebnis alles andere als zufrieden.
Von Ralf Borchard, ARD-Hörfunkstudio London

Zehn Jahre ist diese Entschuldigung bereits her: 1999 bat der damalige irische Regierungschef  Bertie Ahern die Opfer von Kindesmissbrauch in meist katholischen Schulen und Heimen stellvertretend um Vergebung. Die Regierung leitete damals eine umfassende staatliche Untersuchung ein - deren Bericht jetzt vorliegt.

Es ist ein erschütternder Bericht über den seelischen, körperlichen und sexuellen Missbrauch von Kindern in Irland, vor allem in den 1940er bis 1980er Jahren. Erstmals ans Licht gekommen waren die Fälle systematischen Missbrauchs durch Isolation, Schläge und Vergewaltigungen vor gut zehn Jahren durch zwei Fernseh-Dokumentationen über die so genannten "Häuser des Horrors".

"Das Schlimmste war der Verluste der Freiheit"
Patrick Walsh war zwei Jahre alt, als er in eine katholische Erziehungsanstalt kam, 14 Jahre lang war er dort: "Der Missbrauch war emotional, psychologisch und, vor allem im fortgeschrittenen Kindesalter, sexuell. Wenn ich gefragt werde, was das schlimmste an allem war, denke ich immer wieder darüber nach und sage heute: der Verlust der Freiheit."

Die inneren Verletzungen fühle er nach wie vor, sagt Walsh: "Als Erwachsener hat mich das in allen menschlichen Beziehungen sehr scheu und vorsichtig gemacht, supervorsichtig, übervorsichtig, oder wie immer man das nennen will."

Anklagen vor allem gegen die Kirche
Die meisten Missbrauchsopfer waren als Waisen oder Sozialfälle per Gerichtsbeschluss in die Heime eingewiesen worden. 2500 Opfer haben vor der Kommission ausgesagt. Ihre Anklage richtet sich zum einen gegen die katholische Kirche, die den Missbrauch lange vertuscht und die Täter gedeckt hat, etwa, in dem diese schlicht in andere Heime versetzt wurden.

Zum anderen richtet sich der Unmut der Opfer gegen die irischen Staat, der seine Aufsichtspflicht verletzt und die Aufklärung nur zögernd vorangetrieben hat. Die erste Vorsitzende der Untersuchungskommission war vor Jahren wegen mangelnder Unterstützung zurückgetreten.

Opfer kritisieren Bericht
Auch über den Abschlussbericht sind die Opferverbände empört: "Die Ergebnisse greifen viel zu kurz", sagt John Kelly, Sprecher einer der Gruppen, "etwa was die Verantwortung irischer Gerichte angeht, die uns in die Heime eingewiesen und die Täter unzureichend verfolgt haben. Sie werden geradezu reingewaschen." Kritisiert wird etwa auch, dass im Bericht nur solche Täter namentlich genannt werden, die bereits gerichtlich verurteilt sind.

Dieses besonders dunkle Kapitel der irischen Geschichte ist auch mit dem jetzt vorgelegten Bericht längst nicht abgeschlossen.

Siehe dazu auch:
http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video499914.html
http://tagesschau.vo.llnwd.net/d3/audio/2009/0520/AU-20090520-1915-5301.mp3

17.05.2009
Neue Westfälische
Diakonie-Chef entschuldigt sich für Gewalt
Untersuchung über Heimkinder vorgelegt


Hannover/Bielefeld (epd/kb). Diakonie-Präsident Klaus-Dieter Kottnik hat sich im Namen seiner Einrichtung für die Misshandlung von Heimkindern in den 50er bis 70er Jahren entschuldigt. "Ich bedauere zutiefst, was damals im Namen der Diakonie geschehen ist", sagte Kottnik, Präsident des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland. Kottnik stellte die erste wissenschaftliche Untersuchung über das Schicksal von Heimkindern in diakonischen Einrichtungen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik vor.

Das 370-seitige Buch "Endstation Freistatt" untersucht die Erziehungsmethoden in der "Diakonie Freistatt" bei Bremen, die für viele Zöglinge von Zwang, Gewalt und Willkür geprägt waren. Rund 7.000 Jungen hätten zwischen 1949 und 1974 in der Tochtereinrichtung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel gelebt. "Ich habe mir bis vor zwei Jahren nicht vorstellen können, dass wir so etwas in unserer Geschichte der Diakonie mitschleppen", sagte Kottnik.

Mehrere hunderttausend Kinder und Jugendliche waren in der frühen Bundesrepublik oft aus nichtigen Anlässen in vorwiegend kirchliche Heime eingewiesen worden. Viele von ihnen wurden geschlagen und zur Arbeit gezwungen, zudem gab es sexuelle Misshandlungen. Eine Schulausbildung erhielten die Kinder häufig nicht. Er habe früher von Einzelschicksalen gesprochen, so Kottnik. Heute wisse er, dass dies eine unzulässige Bagatellisierung gewesen sei.
Drakonische Strafmaßnahmen
Die v. Bodelschwinghschen Anstalten waren nach Medienberichten über Betroffene in die Kritik geraten und hatten daraufhin Wissenschaftler der Hochschule Wuppertal beauftragt, die Geschichte der Heimkinder in der Bethel-Anstalt Freistatt aufzuarbeiten. Die Historiker analysierten Akten, in denen auch die Gründe für die Einweisung der Kinder vermerkt waren, und führten Interviews mit Heimkindern und Erziehern.

Der Betheler Vorstandsvorsitzende, Pastor Ulrich Pohl, sagte, in Freistatt sei damals versucht worden, die Jugendlichen zum Teil mit drakonischen Strafmaßnahmen zu disziplinieren. "Die Fürsorgeerziehung geschah auch in den Betheler Einrichtungen in einem System, das häufig von Gewalt, Einschüchterung und Angst geprägt war", erläuterte Pohl. Er sei sehr dankbar, dass sich die Betroffenen, die auf Wunsch auch therapeutisch begleitet worden seien, zu den Gesprächen bereit erklärt hätten.

Der hannoversche Diakonie-Direktor Christoph Künkel sagte, in Gesprächen mit ehemaligen Heimkindern werde immer wieder deutlich, dass viele Wunden von damals noch offen seien. Er schäme sich für das Unrecht und die Gewalt, die Menschen in den Einrichtungen der Diakonie angetan worden seien.

"Ich will, dass es für die Betroffenen in irgendeiner Form eine Wiedergutmachung gibt", betonte Diakonie-Präsident Kottnik. Der vom Bundestag eingerichtete runde Tisch, an dem sich auch die Diakonie beteiligt, wolle Ende Juni erste Vorschläge unterbreiten.

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URL: http://www.nw-news.de/owl/?em_cnt=2947726&em_loc=279

15.05.2009
Der Westen
Diakonie entschuldigt sich bei Heimkindern


Zwang, Gewalt und Willkür: Kottnik spricht sich für Wiedergutmachung aus

Hannover. Das Diakonische Werk hat sich für die Misshandlung von Heimkindern in den 50er bis 70er Jahren entschuldigt.
„Ich bedauere zutiefst, was damals im Namen der Diakonie geschehen ist”, sagte ihr Präsident Klaus-Dieter Kottnik gestern in Hannover.

Kottnik stellte die bundesweit erste wissenschaftliche Untersuchung über das Schicksal von Heimkindern in diakonischen Einrichtungen in den Anfangsjahren der Bundesrepublik vor. Das 370-seitige Buch „Endstation Freistatt” untersucht die Erziehungsmethoden in der Diakonie Freistatt bei Bremen, die für viele Zöglinge von Zwang, Gewalt und Willkür geprägt waren. Rund 7000 Jungen hätten zwischen 1949 und 1974 in dem Tochterunternehmen der Bodelschwinghschen Anstalten Bethel gelebt.

„Ich habe mir bis vor zwei Jahren nicht vorstellen können, dass wir so etwas in unserer Geschichte der Diakonie mitschleppen”, sagte Kottnik. Mehrere hunderttausend Kinder und Jugendliche waren in der frühen Bundesrepublik oft aus nichtigen Anlässen in vorwiegend kirchliche Heime eingewiesen worden. Viele von ihnen wurden geschlagen und zur Arbeit gezwungen, zudem gab es sexuelle Misshandlungen. Eine Schulausbildung erhielten die Kinder häufig nicht.

Er habe früher von Einzelschicksalen gesprochen, sagte der Präsident. Heute wisse er, dass dies eine unzulässige Bagatellisierung sei. „Ich will, dass es für die Betroffenen in irgendeiner Form eine Wiedergutmachung gibt”, betonte Kottnik. Der vom Bundestag eingerichtete Runde Tisch, an dem sich auch die Diakonie beteiligt, wolle Ende Juni erste Vorschläge unterbreiten. WR

http://www.derwesten.de/nachrichten/nachrichten/wr/westfalen/2009/5/15/news-119900605/detail.html

12.05.2009
DerWesten

Früheres Johanna-Helenen-Heim
Misshandelte Kinder suchen Gehör

Wetter, Klaus Görzel
Die Freie Arbeitsgruppe Johanna-Helenen-Heim zeigt sich enttäuscht, dass speziell den Gräueltaten an behinderten Kindern am „Runden Tisch Heimkinder” in Berlin keine besondere Beachtung zukommen soll.

Letzte Hoffnung der Arbeitsgruppe: Die Einrichtung eines solchen „Runden Tisches Heimkinder” auf Länderebene - unter erklärter Einbeziehung der Misshandlungen von behinderten Kindern.
„Man sperrt die Hilflosesten der Gesellschaft, behinderte und Schulkinder, die im Alter ihr Recht einfordern, vom ,Runden Tisch' aus”, so Helmut Jacob. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Zustände im Johanna-Helenen-Heim der unmittelbaren Nachkriegsjahre zu benennen und den Opfern beizustehen.
Von Zwangsfütterungen, Tritten und Schlägen, aber auch von sexuellen Übergriffen auf behinderte Kinder ist in dem Zwischenbericht zweier Historiker die Rede, die im Auftrag der heutigen Evangelischen Stiftung Volmarstein die Heimwirklichkeit in der Zeit der Orthopädischen Anstalten Volmarstein erforschen.
Der „Runde Tisch”, der in Berlin vom Bundestag aufgestellt wurde, werde sich seinem Auftrag gemäß „ausschließlich mit der damaligen Heimerziehung befassen können”, zitiert die Freie Arbeitsgruppe aus einem Antwortschreiben aus Berlin. Überraschend kommt das für die Arbeitsgruppe aber nicht.
Seit langem hätten die behinderten Heimopfer einen engagierten Vertreter, der sich intensiv für ihre Rechte einsetze, so Helmut Jacob. Gemeint ist der Psychologe und Theologe Dierk Schäfer. „Er wurde mit dem gleichen Schreiben auch abserviert”, so der Gruppensprecher.

Ohne Angst bis
zum Lebensende

Die Vermutung von Helmut Jacob: „Offensichtlich ist Schäfer für die Rechtsnachfolger der Einrichtungen, die damals so viel Unheil angerichtet haben, zu unbequem.” So fordert Schäfer etwa einen Opferentschädigungsfonds.
Damit die misshandelten Kinder aus Behinderteneinrichtungen doch noch entsprechendes Gehör finden, hat die freie Arbeitsgruppe bereits Regina van Dinther angeschrieben. Die Landtagspräsidentin soll einen „Runden Tisch Heimkinder” für Nordrhein-Westfalen einrichten. Ziel dieses Tisches müsse es sein, Assistenz für behinderte Menschen bis zum Lebensende abzusichern, „damit die Opfer von damals ohne Angst ihren Lebensabend verbringen können.”
http://www.derwesten.de/nachrichten/nachrichten/staedte/wetter/2009/5/12/news-119613711/detail.html


8. Mai 2009
der Freitag

Zeitgeschichte

Aufstand der Heimkinder

Dieter Hanisch

Im schleswig-holsteinischen Glückstadt kam es vor 40 Jahren zu einer Rebellion gegen ein Heimerziehungssystem, das noch in der Tradition der Nazizeit stand

Erst seit wenigen Jahren interessiert sich die Öffentlichkeit überhaupt für das Schicksal von Heimkindern in der Bundesrepublik der fünfziger und sechziger Jahre. Seit Februar 2009 beschäftigt sich auf Initiative des Bundestags sogar ein „Runder Tisch Heimkinder“ mit dem Thema. Frühere Heiminsassen verlangen vehement Aufklärung über das geschehene Unrecht. Eine Einrichtung im schleswig-holsteinischen Glückstadt tat sich in dieser Hinsicht besonders hervor. Vor genau 40 Jahren, in der Nacht vom 7. zum 8. Mai 1969, gab es dort einen Aufstand von Heimzöglingen, der möglicherweise sogar mit Hilfe von Marinesoldaten niedergeschlagen wurde. Unter den rebellierenden Jugendlichen, die als Strafe teilweise KZ-Kleidung tragen mussten, war auch der spätere RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock.
Bis heute sind die Hintergründe der Ereignisse kaum geklärt. Unter der Regie des Sozialministeriums in Kiel gibt es inzwischen auf Landesebene auch einen Runden Tisch zum Thema Heimerziehung. Langsam tastet dieser sich an die Wahrheit heran und hat dabei besonders die Geschehnisse um Glückstadt im Auge, wo es zu mehreren es Todesfällen kam. Manfred Schrapper, Erziehungswissenschaftler der Universität Koblenz-Landau, begleitet das Kieler Gremium. „Die Quellenlage ist gar nicht einmal schlecht. Es gibt viele behördliche Dokumente zu den Vorgängen, wir haben Augenzeugenschilderungen, Presseberichte von früher, Protokolle von Parlamentsdebatten und zwischenministeriellen Schriftverkehr“, sagt Schrapper. Dass all die Darstellungen je nach Sichtweise nicht immer identisch sind, versteht sich fast von selbst.
Personelle Kontinuität seit der Nazi-Zeit
In Glückstadt wurde bereits im 18. Jahrhundert ein Zuchthaus errichtet. Während der NS-Zeit wurden dort 1933 und 1934 Regimegegner in sogenannte Schutzhaft genommen. Daneben und danach war die Einrichtung zugleich ein Konzentrationslager für Arbeitshäftlinge unter SA-Aufsicht. Seit dem 1. April 1951 nannte sich die Einrichtung Landesfürsorgeheim, in das Jugendliche und junge entmündigte Erwachsene beiderlei Geschlechts eingewiesen werden konnten. Aus Mangel an geeignetem Personal griff man in dieser Zeit auch auf „vorbelastete“ Beschäftigte aus der NS-Zeit zurück. Das haben Nachforschungen der Heiminsassen beim United States Holocaust Memorial Museum in Washington ergeben. Die Besserungsanstalt war daher eher vom Charakter des Verwahrens und Wegschließens als von einer pädagogischen Erziehung geprägt. Und alle Heimzöglinge wurden zudem zu Zwangsarbeiten herangezogen. Verweigerung und Widerstand wurden mit Isolationshaft und Schlägen gemaßregelt.
Nicht nur aus Schleswig-Holstein, sondern auch aus anderen westdeutschen Bundesländern wurde Jugendliche nach Glückstadt geschickt, das sich schnell den Ruf einer besonders strengen Einrichtung erwarb. Wenn der Heimaufenthalt mit renitenten Jugendlichen andernorts Probleme bereitete, sollte die „Glückstädter Härte“ die Widerspenstigen auf einen tugendhaften Weg bringen. Und es wurde Jugendlichen in anderen Heimen offen gedroht: „Wenn Du Dich nicht fügst, dann kommst Du nach Glückstadt!“
Matratzen mit Hakenkreuz
Der heute 57-jährige Otto Behnck aus dem schleswig-holsteinischen Schwedeneck, der im Herbst 1970 für drei Monate nach Glückstadt eingewiesen wurde, sagt rückblickend: „Man wollte uns brechen.“ Der in Kiel lebende Frank Leesemann (54) war als Jugendlicher von September 1969 bis Mitte 1971 in Glückstadt. Dort schlief er noch auf einer Matratze mit Reichsadler und Hakenkreuz. In der Kleiderkammer fiel ihm grau-weiß gestreifte Kleidung des ehemaligen NS-Arbeitslagers auf. Nach einem ersten von insgesamt über 20 Ausbruchsversuchen bekam er ein KZ-Hemd mit rotem Winkel und der Aufschrift „Außenkommando“ verpasst. Bei seiner Entlassung ließ er seine Karteikarte mitgehen, auf der das Wort Arbeitserziehungslager per Hand in Landesfürsorgeheim verändert wurde, aus „Häftling“ wurde „Zögling“, aus dem „Lagerkommandanten“ der „Heimleiter“.
Angesichts der Erzählungen von ehemaligen Heiminsassen in Glückstadt, die von Drill und Drangsalierung, von sexuellen Übergriffen und Misshandlungen berichten, die sich ausgebeutet und zum Teil um Jahre ihrer Jugend beraubt fühlen, versteht man Ulrike Meinhofs Frage in ihrem 1971 veröffentlichten Buch Bambule nach der „Fürsorge – Sorge für wen?“. Es handelte sich dabei nicht nur um Einzelschicksale, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen, das rund 800.000 Kinder und Jugendliche betraf - mit zum Teil psychischen Folgen bis zum heutigen Tag. Das war auch ein maßgeblicher Grund dafür, weshalb sich erst seit wenigen Jahren die Betroffenen mit ihren Erlebnisschilderungen an die Öffentlichkeit trauen, in der nun heftig darum gestritten wird, ob die erzieherischen Verfehlungen systematische Züge besaßen oder nicht.
Zeuge: Marinesoldaten schlugen Aufstand nieder
Dass es in Glückstadt vor genau 40 Jahren zum Aufstand kam, hatte sicherlich auch mit der Kritik am damaligen Erziehungssystem durch die Studentenbewegung und die Außerparlamentarische Opposition zu tun. Die Ereignisse auf der Straße gingen auch an den Heimen nicht spurlos vorbei. Der Auslöser des Aufstandes war dabei eher banal. Später hieß es, dass Päckchen, die den Zöglingen von Familienangehörigen zugeschickt wurden, nicht ausgehändigt worden seien. In ihrem Film „Der Baader Meinhof Komplex“ versuchten Uli Edel und Bernd Eichinger, den Aufstand in wenigen Bildsequenzen zu skizzieren.
Die in Haus 1 und 2 untergebrachten 80 Heimzöglinge zündeten Matratzen und Kleidungsstücke an, rissen sanitäre Anlagen aus den Wänden, zertrümmerten Fenster wie Möbel und attackierten das Heimpersonal. Einer der Rebellierenden war der damals 17-jährige Peter-Jürgen Boock, der nach der Heimrevolte in das hessische Jugendhaus von Rengshausen verlegt wurde. Dort kam er unter anderem mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Kontakt, die sich wie Meinhof für die Interessen von Heiminsassen einsetzten, und fand kurze Zeit später Unterschlupf in deren WG, ehe er selbst zum Terroristen der zweiten Generation wurde.
Brisant im Zusammenhang mit der Glückstädter Heimrevolte sind die Aussagen des gelernten Rohrschlossers Gerd Meyer aus Schleswig. Dieser war als damaliger Zögling Augenzeuge. Der heute 57-Jährige beteuert, gesehen zu haben, wie in Glückstadt stationierte Marinesoldaten im Innenhof vorfuhren und unter Einsatz von Tränengas den Aufstand niederschlugen. „Ich kannte doch den Unterschied von Polizei- und Bundeswehruniformen, von Polizei- und Militärfahrzeugen“, sagt Meyer. Auch Boock hatte bereits auf den verfassungswidrigen Bundeswehreinsatz hingewiesen, doch wollte man ihm keinen Glauben schenken. Im Bericht des damaligen Heimleiters Walter Blank hieß es dagegen, nur 20 Heiminsassen hätten sich an den Aktionen beteiligt und man habe noch bevor die gerufene Polizei und Feuerwehr eingreifen mussten, die Lage wieder in den Griff bekommen.
Ausbeutung von Jugendlichen
Als einen von zwei verantwortlichen Rädelsführern benannte Oberamtmann Blank Harry Radunz, der am 31. Mai 1969 erhängt in seiner Arrestzelle aufgefunden wurde. In der Folge häufen sich kritische Zeitungsberichte über die Zustände in Glückstadt. Die Nordwoche titelte etwa „Terror im Erziehungsheim“ und „Methoden aus dem Mittelalter“. Sogar im Kieler Landtag wurde daraufhin über Glückstadt gestritten – am Ende zunächst ohne Folgen. Das anfangs stets mit 140 Zöglingen belegte Heim wurde erst wegen rückläufiger Zahlen zum 31. Dezember 1974 geschlossen.
Heute weiß man von diversen als Suizide registrierten Todesfällen. Inzwischen geht es den früheren Heimzöglingen um eine öffentliche Entschuldigung für das begangene Unrecht. Die Geschichte der so genannten „schwarzen Pädagogik“ soll nicht mehr tabubehaftet sein, es soll über Verantwortliche und Verantwortung gesprochen werden und die heutzutage nur in den seltensten Fällen in gut situierten Verhältnissen lebenden Betroffenen diskutieren auch die heikle Frage nach einer Entschädigung. Für Arbeitsleistungen wurden sie damals entweder gar nicht entlohnt oder nur symbolisch etwa mit Zigaretten; ganz zu schweigen von der sozialversicherungsrechtlichen Seite. Fakt ist: Firmen wie landwirtschaftliche Betriebe haben mit billigen Arbeitskräften Gewinne erzielt.
der Freitag Artikel-URL: http://www.freitag.de/politik/0919-heimkinder-aufstand-glueckstadt
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8. Mai 2009
Hannover Zeitung

Therapeutische Hilfen für misshandelte ehemalige Heimkinder

Hannover, Niedersachsens Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann hat bei NDR 1 Niedersachsen konkrete therapeutische Hilfen für ehemalige Heimkinder angeboten, die bis in die 70er Jahre hinein misshandelt worden sind. "Mir ist heute noch einmal deutlich geworden, dass man einen therapeutischen Ansatz braucht", sagte die CDU-Politikerin in der Diskussionssendung "Unser Thema", die NDR 1 Niedersachsen am gestrigen Abend ausgestrahlt hat. Das Land werde gemeinsam mit den Betroffenen überlegen, wie diese Hilfen dann organisiert werden können, so Ross-Luttmann weiter.
Sowohl die niedersächsische Sozialministerin als auch die Bischöfin der evangelisch-lutherischen Landeskirche Käßmann sprachen sich in der Radiosendung gegen pauschale Entschädigungszahlungen für Betroffene aus. Jeder Einzelfall müsse genau geprüft werden. Allerdings "erfüllt mich das Ausmaß des Unrechts mit Scham" sagte Bischöfin Käßmann bei NDR 1 Niedersachsen.
Experten gehen von bis zu einer halben Million misshandelter ehemaliger Heimkinder aus. Der Bundestag hatte vor vier Wochen die Einsetzung eines Runden Tisches zur Aufarbeitung des Unrechts in den Kinderheimen der Nachkriegszeit beschlossen.
(tw/hz)

6.Mai 2009
Neue Osnabrücker Zeitung

Es läuft nicht rund mit dem Runden Tisch

Von Uwe Westdörp
Hannover.
Viele wurden erniedrigt, geschlagen, mussten Zwangsarbeit leisten: Die Betroffenheit über solche Heimkinder-Schicksale in den 1950er- und 1960er-Jahren ist groß. Dennoch kommen die Bemühungen um eine Aufarbeitung des Geschehens nur zäh voran, wie gestern eine Anhörung der SPD-Landtagsfraktion in Hannover zeigte.
„Da sind noch dicke Bretter zu bohren“, lautete am Ende das Fazit eines SPD-Sprechers, der auf mehr Unterstützung für das Ziel seiner Fraktion gehofft hatte, auch in Niedersachsen – ähnlich wie auf Bundesbene – einen Runden Tisch zum Thema Heimerziehung einzurichten. Skepsis kam vor allem vonseiten der Kirchen.
„Unrecht bleibt Unrecht, selbst wenn Tatbestände strafrechtlich verjährt sind“, versicherte Christoph Künkel, Direktor des Diakonischen Werkes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. Er äußerte aber auch Zweifel, „ob und in welcher Hinsicht ein Runder Tisch in Niedersachsen über die Berliner Bemühungen hinaus weitere Hilfen erarbeiten kann“.
Künkel dämpfte zudem Hoffnungen früherer Heimkinder auf finanzielle Entschädigungen. „Erlittenes Leid“, so sagte er, „kann nicht wiedergutgemacht werden. Von daher geht es bei der Frage von Entschädigungen weniger um Ausgleich als um Anerkennung für erlittenes Unrecht.“ Die damit zusammenhängenden komplexen juristische Fragen könnten hoffentlich auf Bundesebene gelöst werden.
Ähnlich wie Künkel argumentierte Prälat Felix Bernard vom Katholischen Büro Niedersachsen. Er begrüßte zentrale Punkte der SPD-Initiative: so die Forderung der Sozialdemokraten nach einer wissenschaftlichen Erforschung der niedersächsischen Heimerziehung in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten, nach einer schnellen und kompletten Sicherung von Akten und nach einem Bericht über Umfang und Struktur der Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Die Ziele der SPD seien „begrüßenswert“, sagte Bernard. Er äußerte aber Zweifel, ob ein Runder Tisch auf Landesebene das richtige Instrument zur Erreichung der Ziele sei. Und er warnte in diesem Zusammenhang vor Doppelstrukturen, „die letztlich dazu führen könnten, die wichtigen Ziele nicht oder nicht optimal zu erreichen“.
„Uns ist klar geworden, dass der Runde Tisch in Berlin nur die große politische Aufarbeitung der Zustände in den Jahren 1945 bis 1965 diskutiert“, hatte dagegen eingangs der in Bramsche bei Osnabrück lebende Jürgen Beverförden als Sprecher ehemaliger Heimkinder in Niedersachsen betont. Er mahnte eine Arbeitsteilung an: „Die Politik muss in Berlin laufen, die Sach- und Facharbeit – vor allem die Akteneinsicht – in den Ländern.“
Eindringlich rief Beverförden mit Blick auf Demütigungen, Missbrauch und Zwangsarbeit in Kinderheimen der jungen Bundesrepublik dazu auf, die Forderungen ehemaliger Heimkinder ernst zu nehmen. „Die Heimzeit ist lange vorbei, doch die Folgen der Heimaufenthalte werden für die Betroffenen niemals vorbei sein“, sagte er. Und mit Tränen kämpfend, fügte er hinzu: „Die Verantwortlichen haben über die Missstände jederzeit Bescheid gewusst. Die Frage der Ex-Heimkinder ist deshalb einfach und kurz: Warum? Warum habt ihr trotz besseren Wissens nicht damit aufgehört?“
Im Übrigen blieb Beverförden trotz der skeptischen Haltung der Kirchen zuversichtlich, dass es doch noch einen Runden Tisch in Niedersachsen geben wird: „Wir kriegen das hin.“

Diesen Artikel finden Sie unter: http:
//www.neue-oz.de/information/noz_print/nordwest/22366426.html
© Neue OZ online 2006

4.Mai 2009
Kölner Stadt-Anzeiger

Die Opfer schwiegen lange


Schätzungen gehen davon aus, dass nach dem Krieg bis weit in die siebziger Jahre zwischen 500 000 bis 800 000 Kinder und Jugendliche in 3000 Heimen in Westdeutschland misshandelt wurden. Insgesamt 80 Prozent der Heime waren damals in christlicher Trägerschaft. Die meisten Opfer haben jahrzehntelang geschwiegen - aus Scham oder aus Angst, dass ihnen niemand glauben würde. Erst als 2006 das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ des „Spiegel“-Autors Peter Wensierski erschien, in dem zahlreiche Heimkinder erstmals ihr Schweigen brachen, gab es eine breite öffentliche Debatte.
Seit Februar 2009 tagt nun auf Bundesebene ein Runder Tisch zur Aufarbeitung des Schicksals der ehemaligen Heimkinder unter Leitung der Grünen-Politikerin Antje Vollmer. Bis 2010 soll geklärt werden, welche Erziehungsstandards zu dieser Zeit galten und an welcher Stelle möglicherweise Unrecht geschah. Evangelische und katholische Kirche sitzen mit am Tisch. Vorausgegangen war eine Petition ehemaliger Heimkinder, in der sie die Anerkennung erlittenen Leids und eine Wiedergutmachung in Form von therapeutischen Hilfen, nachträglich anerkannten Rentenansprüchen fordern sowie auch finanzielle Opferentschädigung etwa für die unbezahlte Arbeit, die die Kinder in den Heimen leisten mussten. Dafür soll ein bundesweiter Fonds eingerichtet werden.
Betroffenen steht unter der Nummer 0221 / 809-4001 eine LVR-Hotline zur Verfügung, die bei der Suche nach Informationen oder Akten aus der Zeit hilft. (cos)
http://www.ksta.de/jks/artikel.jsp?id=1238966906881
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4.Mai 2009
Kölner Stadt-Anzeiger

HEIMKINDER

Geschlagen und gedemütigt

Von Corinna Schulz,

Der Landschaftsverband Rheinland stellt sich einem wenig rühmlichen Abschnitt seiner Geschichte. Er hat ehemalige Heimkinder um Entschuldigung gebeten und die Zustände in seinen Kinderheimen in der Nachkriegszeit bedauert.

Die Schusterei im Rheinischen Landesjugendheim Fichtenhain in Krefeld. War dies sinnvolle Beschäftigung oder schon Zwangsarbeit? Wissenschaftler gehen im Auftrag des LVR dieser Frage nach. (Bild: LVR)
KÖLN - Noch immer sitzt der Schmerz tief. Die Jahre von 1953 bis 1956, die Peter Laxy im Krefelder Landesjugendheim Fichtenhain verbracht hat, haben sein Leben geprägt. „Wir wurden geschlagen, misshandelt und gedemütigt“, sagt der 71-Jährige. Einer der Erzieher des Heimes, dessen Träger der Landschaftsverband Rheinland (LVR) war, habe ihn an den Brustwarzen gepackt, hoch gehoben und dann geschüttelt. Bis heute habe er irreparable seelische und körperliche Schäden aus der Zeit im Heim zurückbehalten.

Einige tausend Kinder und Jugendliche verbrachten die Zeit nach dem Krieg bis weit in die 70er Jahre in sechs Jugendhilfeeinrichtungen des LVR. Viele mussten Prügelstrafen, Demütigungen, sexuellen Missbrauch und Zwangsarbeit erdulden. Eingewiesen wurde oft schon wegen kleinster Verfehlungen wie „Arbeitsbummelei“, „Verlogenheit“ oder „Umhertreiben“.
Jetzt hat der Landschaftsverband Rheinland (LVR) erstmals ehemalige Heimkinder um Entschuldigung gebeten und die Zustände in seinen Kinderheimen in der Nachkriegszeit bedauert. „Ich bin tief betroffen über die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche leben mussten und möchte hier und jetzt dafür öffentlich eine Entschuldigung aussprechen“, sagte der Vorsitzende des LVR-Landesjugendhilfeausschusses, Jürgen Rolle, auf einer Tagung in Köln. Der LVR wolle sich seiner Verantwortung stellen.
Studie liegt 2010 vor
Mitte vorigen Jahres hatte der Landschaftsverband fünf Wissenschaftler, darunter Historiker und Pädagogen, beauftragt, die Vergangenheit in den Heimen aufzuarbeiten. Bis Anfang 2010 sollen die Ergebnisse der Studie vorliegen. Zu den untersuchten Einrichtungen gehören das Rheinische Landesjugendheim Erlenhof in Euskirchen, das Rheinische Landesjugendheim Fichtenhain in Krefeld, das Rheinische Landesjugendheim Halfeshof in Solingen, der Dansweiler Hof in Freimersdorf, das Haus Hall in Ratheim und das Heilpädagogische Landesjugendheim Viersen.
Beleuchtet werden soll unter anderem die Frage, ob in den Heimen unnötig harte oder entwürdigende Strafen üblich waren und ob es zu Misshandlungen und anderen Straftaten gekommen ist. Dabei sollen neben den Aufzeichnungen der Erzieher und Heimleiter auch die Berichte von ehemaligen Heimkindern in die Studie einfließen. „Wir können zum jetzigen Zeitpunkt bereits erkennen, dass es Entgleisungen einiger Erzieher mit sadistischen Neigungen gegeben hat“, sagte Uwe Kaminsky, Mitglied der Forschungsgruppe. Zudem seien viele der 300 Erzieher kaum im Umgang mit Jugendlichen ausgebildet gewesen. Ein großer Teil des Personals setzte sich aus ehemaligen Soldaten, Gefängniswärtern oder Bauern zusammen. „Viele Erzieher waren gänzlich überfordert“, sagte Kaminsky.
Renate Künast, Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, lobte die Aufarbeitungsarbeit des Landschaftsverbandes. Die ehemalige Umweltministerin, die sich in der Vergangenheit für eine Anhörung der Heimkinder vor dem Petitionsausschuss des Bundestages eingesetzt hatte, forderte neben einer Entschuldigung auch die Einrichtung eines Bundesfonds, dessen Gelder den Betroffenen zu Gute kommen. Einzahlen sollen neben den öffentlichen und kirchlichen Heimträgern wie Caritas und Diakonie auch Unternehmen, in denen Heimkinder als billige Arbeitskräfte eingesetzt wurden. Auch der LVR unterstützt den Vorschlag. „Dabei kommt es nicht auf die Höhe der Entschädigung an, sondern auf den Respekt, den man den Betroffenen entgegenbringt“, sagte Künast.
Für das ehemalige Heimkind Peter Laxy wird nun langsam Realität, was er sich so viele Jahre gewünscht hat: Nach jahrelangem Schweigen und Verdrängen wird nun zunehmend das geschehene Unrecht öffentlich anerkannt. „Am Ende des bundesweiten Aufarbeitungsprozesses wünsche ich mir, das es kein Stigma, kein Makel mehr ist, ein Heimkind zu sein.“
http://www.ksta.de/jks/artikel.jsp?id=1238966906876
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21. April 2009
Frankfurter Allgemeine FAZ

Heimerziehung
Die Betreuer wurden mit den Kindern ausgestoßen

Von Susanne Kusicke, Ludwigsburg

21. April 2009 Werner Hertler kam als Neunzehnjähriger auf die Karlshöhe. Er stand in der Ausbildung zum Diakon, das erste Jahr hatte er in einem Kinderheim in Hamburg gearbeitet. Jetzt also die Karlshöhe in Ludwigsburg bei Stuttgart. „Nun, Bruder Hertler“, sagte der Direktor, „Sie gehen zu Fräulein März, der Erzieherin im Oberen Haus, Sie haben ja schon Erfahrung mit der Erziehungsarbeit.“ Und so wurde Hertler zum Hilfserzieher für 18 Jungen zwischen neun und 15 Jahren, fast allein verantwortlich für ihren gesamten Tagesablauf, für Gesundheit und Erziehung, mit einer Freistunde am Tag und freien Sonntagen alle zwei Wochen. „Es war eine Aufgabe, der ich mich mit ganzer Kraft gestellt habe“, sagt der leicht ergraute Mann.
Wie und ob er sie bewältigte, darüber hat Hertler in der zweiten Sitzung des runden Tisches in Berlin berichtet, der sich mit der Kinderheimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren befasst – und sich in seiner nächsten Sitzung im Juni mit den rechtlichen Voraussetzungen einer möglichen Entschädigung der Heimkinder beschäftigen wird. Hertler gehört zu den wenigen Erziehern und Verantwortlichen aus jener Zeit, die sich überhaupt öffentlich über ihre Rolle äußern und Vorverurteilungen nicht fürchten. Denn seit Erscheinen des Buchs „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski im Jahr 2006 fühlen sich viele frühere Erzieher pauschal verurteilt und zu Unrecht an den Pranger gestellt. Die Zeitumstände würden nicht berücksichtigt, lautet vielfach die Kritik, und es werde kaum gefragt, was in der Erziehung damals weithin für normal gehalten wurde.
Es war die Gesellschaft, die diese Kinder von sich schob
Eine Lehrerin jener Zeit schrieb: „Dass die Heimkinder die problematische Situation von uns Erwachsenen damals nicht ermessen können, ist Kindesrecht, erschwert aber eine Verständigung über die gemeinsame Zeit.“ Sie lehnte es ab, sich an einem der Gesprächskreise zu beteiligen, die mittlerweile in manchen Heimen entstanden sind. Viele andere Erzieher haben sich anders entschieden: Sie versuchen sich darüber klarzuwerden, was damals – auch mit ihnen – geschehen ist.
„Es war die Gesellschaft, die diese Kinder von sich schob, diese Waisen und Halbwaisen, Kinder von Alleinerziehenden oder gar Prostituierten, diese ,renitenten‘ Halbwüchsigen oder sonst wie Verhaltensauffälligen, und wir waren ein wenig mit ihnen ausgestoßen“, berichtet ein anderer Hilfserzieher jener Jahre.
Es musste nur alles funktionieren
Die jungen Leute, kaum älter als die Kinder, für die sie verantwortlich waren, kamen zum Teil selbst aus schwierigen familiären Zusammenhängen und gerieten nahezu ohne Ausbildung in die Heim-Situation. Reflexion darüber war weder erwünscht noch möglich. „Es gab keinerlei ,Feedback‘, wie man das heute nennen würde, keine Möglichkeit und keine Zeit, zurückzutreten und das Ganze mit Distanz zu betrachten. Es musste nur alles funktionieren. Wenn mal etwas Besonderes gelang, waren wir stolz und froh.“
Die Erzieher lebten und arbeiteten mit den Kindern, teilten ihren Alltag. Nachts weckten sie die Bettnässer, damit sie zur Toilette gingen, morgens schauten sie als Erstes unter die Betten, um noch unauffällig Pfützen zu beseitigen. Das Leben war klar strukturiert und arbeitsreich: Wecken, Waschen, Hausdienste versehen, Frühstück, Andacht, Schule für die Kinder – und für die Erzieher. Mittagessen, Mittagspause, dann drei- bis viermal in der Woche Arbeitseinsatz auf dem Feld oder in der Hauswirtschaft. „Wir arbeiteten je nach Jahreszeit, Rüben hacken, jäten, Äpfel ernten“, berichtet Hertler. „Diese Arbeiten waren für mich nicht immer erfreulich, aber selbstverständlich.“
„Ich dachte, den Kindern geht es gut“
Am späten Nachmittag gab es im Kinderhaus eine Vesper, Marmeladenbrot mit Tee oder Kakao, anschließend wurden Hausaufgaben erledigt. Dann konnten die Kinder spielen, Tischtennis im Haus oder Fußball davor, Brettspiele, Singen. Nach dem Abendessen folgte noch einmal eine Andacht, nach dem Waschen und Zähneputzen vielleicht eine Geschichte und zum Schluss das Abendgebet oder ein Lied. Doch es gab auch Höhepunkte: den Hallenbadbesuch einmal in der Woche, Ausflüge, Wanderungen, Feste, einmal im Jahr ein Zeltlager. „Ich hatte damals den Eindruck, dass viel für die Kinder unternommen wird. Ich dachte, den Kindern geht es gut und ich kann dabei mithelfen.“
Von den Schattenseiten ahnte Hertler damals nichts. Nichts von der Einsamkeit vieler, der Verzweiflung mancher Kinder, die in den großen Gruppen untergingen. „Als ich vor drei Jahren auf dem ersten Treffen des Gesprächskreises auf der Karlshöhe war, hat es mich schier umgehauen: diese Hasstiraden und die schrecklichen Geschichten von Prügeln und Strafen.“ Er erinnere sich zwar, „dass ich in kritischen Situationen, wie der Verweigerung von Diensten, bei einem Fünfzehnjährigen kräftig zugeschlagen habe. Aber Schläge als regelmäßige Züchtigung waren nicht die Regel.“
Züchtigung und Liebesentzug waren erlaubte und wirkungsvolle Erziehungsmittel
Die Karlshöhe, die heute unter der Schirmherrschaft von Eva Luise Köhler steht, der Frau des Bundespräsidenten, gehörte zu den ersten großen Institutionen, die sich mit ihrer Geschichte zu befassen begannen. Heute bietet sich dort ein differenziertes Bild, in dem Fehler und Versäumnisse zu erkennen sind, aber kaum Verletzungen der Menschenwürde. Und man erkennt auch ein ehrliches Bemühen, unter schwierigen Umständen das zu erreichen, was man damals als das Beste für die Kinder erachtete. „Die damalige Pädagogik sah in körperlicher Arbeit, Züchtigung und Liebesentzug erlaubte und wirkungsvolle Erziehungsmittel. Die gesellschaftlichen und finanziellen Rahmenbedingungen hatten für Mitarbeitende und vor allem für Kinder schlimme Folgen, die uns aus heutiger Sicht gemeinsam mit Schrecken erfüllen“, schrieb die Karlshöhe im Februar zu ihrem ersten öffentlichen Symposion über das Thema.
Ursache der Missstände war vor allem die karge materielle Ausstattung im Heim: Der baden-württembergische Pflegesatz pro Kind und Tag lag damals bei knapp sechs Mark. Dass die Kinder unter diesen Bedingungen fast nur gebrauchte Kleidung trugen und von Blechgeschirr aßen, war damals keiner Rede wert – erst recht nicht angesichts des allgemeinen Mangels jener Jahre: „In den Flüchtlingsheimen, die ja auch größtenteils von der Kirche getragen wurden, sah die Lage ganz genauso aus“, berichtet der heutige Direktor der Karlshöhe, Frieder Grau.
Typisch schwäbische Sparsamkeit
Hinzu kam eine Haltung, die man vielleicht als typisch schwäbische Sparsamkeit, vielleicht aber auch einfach nur als soziales Verantwortungsbewusstsein bezeichnen mag: „Alles Geld, das wir nicht verbrauchten, konnte anderen Bedürftigen zur Verfügung stehen, das war die Einstellung des damaligen Direktors“, sagt Grau. „Es war selbstverständlich, dass auch die Kinder ihren Teil dazu beitrugen. In diesem Geist wurden sie erzogen.“
Der Geldmangel führte aber zur Vereinsamung der Kinder. Die Gruppen waren zu groß für eine persönliche Betreuung, und die Erzieher wechselten immer wieder: „Eine Vertrauensbeziehung mit einem Erzieher ging ich nicht ein. Ich wusste ja, der geht nach einem Jahr wieder“, erinnert sich ein ehemaliges Heimkind. Den Erziehern blieb das verborgen. Sie sahen sich, jung wie sie waren, eher als Sparrings-Partner denn als Anwälte der seelischen Entwicklung der Kinder. „Erst in unserem Gesprächskreis wurde mir verständlich, in welcher Situation die Kinder waren“, sagt Hertler heute. „Das einzelne Kind mit seiner Persönlichkeit war nicht im Blick, die Gruppe stand im Vordergrund. Emotionale Einsamkeit, Alleinsein mit seinem Leid, das Fehlen von tragenden Beziehungen, die Trennung von der Herkunftsfamilie wegen deren möglicherweise schlechtem Einfluss, das war sicher sehr schmerzhaft für viele Kinder.“
Die Karlshöhe bat ihre ehemaligen Zöglinge zu Beginn des Jahres schriftlich um Verzeihung und verpflichtete sich, Betroffene seelsorgerisch zu unterstützen und Kontakte weiterhin zu fördern. Den offenen Umgang mit der Geschichte sucht auch Hertler: „Ich wünsche mir sehr, dass ich auf Verfehlungen in meiner Arbeit gegen Buben, die ich benachteiligt oder verletzt habe, angesprochen werde. Es tut mir leid, bis jetzt warte ich noch darauf.“

Text: F.A.Z.
Bildmaterial: Privat
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9.4.2009
NÜRNBERGER NACHRICHTEN
Stapf-Heimleiter: «Ich war überrascht«
Franz Ochs über die Missstände von damals
  
NÜRNBERG - Das katholische Kinder- und Jugendhaus Stapf hat mit seinem Vorläufer vor 50 Jahren nur mehr den Namen gemein. Dennoch sucht man dort das Gespräch mit jenen Menschen, die im «Stapf« einst schwer gelitten haben. Fragen an den Leiter des Hauses, den Sozialpädagogen Franz Ochs (49).

Herr Ochs, ehemalige Stapf-Kinder berichten von erschreckenden Misshandlungen und Quälereien. Sie haben mit ihnen gesprochen. Was war Ihre Reaktion?

Franz Ochs: Ich war wirklich überrascht von all dem. Man muss das sehr ernst nehmen, die schlechten Erlebnisse wie die guten, von denen in Leserbriefen in Ihrer Zeitung auch die Rede war. Das alles liegt 50 Jahre zurück und es geht sicher nicht darum, heute Rechenschaft von uns zu verlangen. Dass die Menschen ihre Zeit im Heim ganz unterschiedlich wahrgenommen haben, ist ganz normal.

Kinder wurden damals in den Betten festgebunden, in dunkle Keller gesperrt, bekamen nichts zu essen. Wussten Sie davon?

Ochs: Bisher haben wir von derartigen Vorfällen nichts gewusst. Was derzeit am aktuellen runden Tisch des Bundestags zur Frage der «Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren« zur Sprache kommt, verfolgen wir bei der Caritas ebenso, wie das die evangelische Diakonie tut. Das Thema steht bei uns auf der Tagesordnung, ganz klar.

Wie kann es ausgerechnet in einem christlichen Heim solche Brutalitäten gegeben haben?

Ochs: Eine naheliegende Frage, an Christen hat man natürlich die Erwartung, dass sie es besser machen. Doch alle Akteure waren Menschen ihrer Zeit, das galt für konfessionelle wie für die staatlichen Heime.

Was können Sie den Ehemaligen denn anbieten?

Ochs: Sie werden demnächst das heutige Heim besichtigen, ich werde die damals sehr spärlichen Eintragungen über sie im alten Heimbuch fotokopieren und an sie weitergeben. Auch der Kontakt mit der heutigen Niederbronner Schwesternschaft in Neumarkt wird hergestellt. Die Bereitschaft zum Gespräch ist auch dort vorhanden. Ob die Betroffenen darauf eingehen und was sie sich davon erhoffen, ist noch offen.

Glaubt man den Zeitzeugen, haben manche der Nonnen, die das Heim damals führten, ihren Schützlingen ein wahres Martyrium bereitet.

Ochs: Diese Zeit muss gesamtgesellschaftlich in den Blick genommen werden. Sozialarbeit ist immer Auftragnehmer der Gesellschaft, das gilt auch für die Heimerziehung. Denken Sie nur daran, dass bis 1979 das Schlagen in den Schulen nicht verboten war. Die pädagogische Praxis ist seither eine grundlegend andere geworden.

Was unterscheidet Ihr Haus heute vom damaligen Kinderheim Stapf?

Ochs: Es hat seit den 70er Jahren eine umfassende Professionalisierung gegeben. Wir sprechen heute von Heilpädagogik, also von einer Erziehung, die etwas heilen soll und kann. Nach wie vor kommen die Kinder aus zerbrochenen Familien, die psychischen Probleme bei den Eltern nehmen spürbar zu, das Jugendamt schickt uns Kinder, die in ihren Familien gefährdet sind.

Riesige Schlafsäle und Gruppen mit 28 Kindern sind Vergangenheit?

Ochs: Wir haben heute familiäre Heimgruppen mit acht Kindern, die von insgesamt fünf Mitarbeitern betreut werden. Daneben gibt es die Kindertagesstätte mit integrativen Förderplätzen unter anderem für Behinderte, unsere Tagespflege und das Wohnheim für junge Menschen ab 18. Das Haus Stapf der Caritas betreut zurzeit 360 Kinder und Jugendliche.

Interview: Claudine Stauber
© NÜRNBERGER NACHRICHTEN


9.4.2009
NÜRNBERGER NACHRICHTEN
Stapf: Kleinkinder im Bett festgebunden
Zeitzeugen berichten Grausamkeiten aus ihrer Zeit im Kinderheim

  
NÜRNBERG - Manche beschreiben in Leserbriefen «wunderschöne Erinnerungen« an das Kinderheim Stapf. Von Sadismus und schockierenden Grausamkeiten berichten dagegen fünf Betroffene, die Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in dem katholischen Heim waren.

Der NN-Bericht über die Erlebnisse des Nürnbergers Hans Jürgen Hauf («Kindheit hinter Mauern«) hat diese zwiespältigen Reaktionen ausgelöst. Immer mehr Menschen, die damals gelitten haben, melden sich jetzt zu Wort. Einige von ihnen sprechen überhaupt zum ersten Mal über eine schlimme Zeit, die sie geprägt hat.

Erbrochenes sei ihr von einer der betreuenden Nonnen wieder in den Mund gestopft worden, berichtet Petra Stettner (alle Namen geändert), eine 54-jährige Frührentnerin. Während der Jahre, die sie von 1956 bis 1962 in der Leopoldstraße verbracht hat, seien ihre Hände oft zur Strafe auf heiße Ofenplatten gepresst worden.

Sie sei in einem dunklen Keller gesperrt, geschlagen, an den Haaren gerissen und regelmäßig mit eiskaltem Wasser aus dem Duschschlauch ins Gesicht gespritzt worden. Kleinere Kinder seien regelmäßig mit Füßen und Händen in ihren Gitterbettchen festgebunden worden, das habe sie mit eigenen Augen gesehen.

Objekt von Quälereien

Einer der Niederbronner Schwestern, die sie «als Liebling und als Objekt« von Quälereien benutzt habe, wirft Petra Stettner sexuellen Missbrauch vor. Die Erzieherin habe sie beim Waschen so heftig berührt, dass es zu ständigen Scheidenreizungen gekommen sei. Die 54-Jährige hat bisher noch nie über ihre Zeit im Kinderheim gesprochen. Sie sagt: «Ich habe mich so sehr geschämt.«

Irgendwann habe er sich das Weinen abgewöhnt, sagt Andreas Lotter (56), der 1960 als Achtjähriger in das katholische Heim in St. Leonhard kam und dort drei Jahre lang gelebt hat. Er sei dort und in den Heimen, in denen er später war, sehr hart geworden, so der gelernte Kfz-Meister. Er habe um sich herum eine emotionale Mauer aufgebaut, die noch niemand eingerissen habe.

Der Mann erinnert sich an Schläge mit Handfegern und mit Kochlöffeln, an viele Stunden im Keller «bei Wasser und Brot«. Dass Kindern die Hände am Ofen verbrannt wurden, habe er gesehen, aber nicht selbst erlebt.

«Ich hatte immer Hunger«

Seine alleinstehende Mutter holte den Buben alle 14 Tage am Wochenende nach Hause. Deshalb hätten die Schwestern darauf geachtet, dass blaue Flecken und andere Spuren von Gewalt dann nicht mehr zu sehen waren. Auch er hat das Thema Heim nie ansprechen können. Nicht einmal seine Frau wisse davon. Lotter: «Erst durch den NN-Artikel ist das alles wieder hochgekommen.«

Maria Weber, eine 49-jährige Sozialpädagogin, war mit zwei Brüdern im Kinderheim Stapf, weil ihre Mutter arbeiten musste. «Ich hatte immer Hunger, das war ganz normal«, berichtet sie. Das Essen habe häufig nicht gereicht, oder es fiel zur Strafe ganz aus. Ihr Zahnarzt, so die alleinerziehende Mutter, habe an ihrem Gebiss Schäden durch Mangelernährung diagnostiziert. Unterschiedlich fallen die Erinnerungen ans «Stapf« auch in ihrer eigenen Familie aus. Ein Bruder lasse nichts auf das Heim kommen, der andere habe massiv gelitten.

Neue Kleidung und Spielzeug, das die Mutter ins Heim brachte, sei ihr und den Brüdern weggenommen worden. Eine Erinnerung, die auch die übrigen Betroffenen bestätigen. In der nahen Volksschule, die alle Heimkinder besuchten, habe man das Klischee des Heimkindes voll erfüllt. «Wir waren alle dürr, ich kam in Lumpen daher.« In der Schule sei das auch den Lehrern aufgefallen.

«Warum ein kleines Kind ins Bett binden, weil es nachts aus dem Bett wandert?«, schreibt eine heute 55-jährige Heimbewohnerin, die von 1953 bis 1960 im Heim war. Sie lebt heute in Houston, Texas, und hält per Mail Kontakt zu den Ehemaligen. Sie habe oft so lange geschrieen und geweint, bis sie ihre Stimme verloren habe. Auch die Wahl-Amerikanerin spricht von Nahrungsentzug. Ihr Fazit: Sie sei den Schwestern nicht böse, man müsse vielmehr der Kirche böse sein, die solche Zustände «im Namen Gottes« zugelassen habe.

Alle haben verkrüppelte Zehen

Alle Betroffenen, die da im Wohnzimmer von Hans Jürgen Hauf zusammensitzen, haben verkrüppelte Zehen, weil sie als Kinder lange Zeit zu enges Schuhwerk tragen mussten. Und sie teilen, was sie «unsere Ticks« nennen. Maria Weber etwa kann geschlossene Türen nicht ertragen, daheim habe sie alle ausgebaut.

Petra Stettner hat panische Angst vor Kellern und vor Spritzen. Der Grund: Eine der Nonnen habe sie unterm Tisch durch Stiche mit der Nähnadel bestraft. Er halte es nicht aus, wenn Schlüssel im Türschloss stecken, fügt Andreas Lotter an, der so oft eingesperrt wurde. Auch ein übersteigertes Gerechtigkeitsempfinden und die Unfähigkeit zur Zärtlichkeit seien gemeinsame Merkmale.

Seelische Blessuren

Seelische Blessuren und kleine Schwarzweiß-Fotos, das ist ihnen aus der Zeit im Heim geblieben. Für festliche Anlässe und den Fotografen seien die Buben und Mädchen fein ausstaffiert worden. Den heutigen Erwachsenen fallen auf den Bildern die ernsten Kinderaugen auf, mit denen sie damals in die Welt blickten. Andreas Lotter: «Wir sind eine totgeschwiegene Generation.« Das Leid jetzt endlich öffentlich zu machen, sei irgendwie erlösend.

Literatur zum Thema: Peter Wensierski, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. DVA Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.

Claudine Stauber
9.4.2009
© NÜRNBERGER NACHRICHTEN

02. April 2009
Frankfurter Allgemeine
Heimerziehung
„Wir dachten, wir retten diese Kinder“


Von Susanne Kusicke, Ludwigsburg

Wolfgang Bahr war sieben Jahre alt, als seine Mutter ihn im Heim abgab. Die Mutter hatte für ihn und seinen vier Jahre älteren Bruder die Koffer gepackt und die DDR samt geschiedenem Mann auf Nimmerwiedersehen verlassen - zur Tante nach West-Berlin, wie sie den Kindern erst sagte. Im Westen angekommen, hieß es dann, die Reise gehe zur Großmutter nach Konstanz. Doch auch dort kamen sie nie an: Unterwegs stieg die Mutter mit den Kindern aus dem Zug und brachte sie auf die Karlshöhe, ein evangelisches Kinderheim in den Hügeln über Ludwigsburg in der Nähe von Stuttgart.

„Dort saßen wir dann im Speisesaal, meine Mutter am Tisch der Heimleitung, mein Bruder am Tisch der Zehn- bis Vierzehnjährigen und ich bei den Kleinen, und ich verstand die Welt nicht mehr“, erinnert sich Wolfgang Bahr an seinen ersten Tag auf der Karlshöhe: den ersten Tag des ersten Monats des ersten Jahrs. Am zweiten Tag verabschiedete sich die Mutter. Das war 1958. Dann kamen die restlichen Tage, Wochen, Monate und schließlich Jahre, neun insgesamt. 1967 wurde Wolfgang Bahr, sechzehnjährig, entlassen, um eine Lehre anzutreten. „Ich hatte immer die Hoffnung, dass sie eines Tages kommt und mich wieder abholt.“

Anerkennung erlittenen Leids

Doch die Mutter kam nicht; allerdings fand sie später eine Anstellung in Stuttgart, und die Kinder konnten sie dann und wann besuchen. Von Seiten des Heims oder Jugendamts wurde seines Wissens niemals überprüft, ob es andere Unterbringungsmöglichkeiten innerhalb der Verwandtschaft für die beiden Jungen gegeben hätte - eines von vielen Versäumnissen, über die Wolfgang Bahr viele, viele Jahre später vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags in Berlin berichten sollte.

Denn der Petitionausschuss des Bundestags hat angesichts einer Fülle von Klagen ehemaliger Heimkinder nach zwei Jahre dauernden Vorarbeiten, Anhörungen und Rechtsberatungen Ende 2008 empfohlen, einen Runden Tisch über die Folgen der Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren einzurichten. Der Runde Tisch nahm seine Arbeit im Februar unter Moderation der Grünen-Politikerin, früheren Bundestagsvizepräsidentin und Theologin Antje Vollmer auf. Vorausgegangen war eine Petition ehemaliger Heimkinder, in der sie um Anerkennung erlittenen Leids und Wiedergutmachung in Form von therapeutischen Hilfen, Opferentschädigungen und nachträglich anerkannten Rentenansprüchen baten.

Damalige Zustände historisch einordnen

Die Sache ins Rollen gebracht hatte jedoch das Buch des „Spiegel“-Journalisten Peter Wensierski: „Schläge im Namen des Herrn“, erschienen im Jahr 2006. Damals meldeten sich aus ganz Deutschland Betroffene, die ihr eigenes Schicksal in den Schilderungen des Autors wiedererkannten. Auch die Kirchen, in deren Trägerschaft die meisten Kinderheime in den fünfziger und sechziger Jahren gelegen hatten, brachen vielfach ihr Schweigen über das unliebsame Thema: In mehreren Landeskirchen und Diözesen wurden Gesprächskreise gebildet, die ehemalige Heimkinder und Erzieher zusammenbringen, um zu einem Dialog, womöglich einer Versöhnung zu gelangen.

Ziel des zentralen Runden Tisches in Berlin soll es sein, sowohl Heimkinder als auch die Träger der Heime, Direktoren und Erzieher anzuhören und das Ausmaß des Unrechts zu klären. „Die Frage ist, was davon ganz selbstverständlich den Erziehungsstandards dieser Zeit entsprach und ob es sich um systematisches Unrecht oder um einzelne Verstöße handelte“, sagte Antje Vollmer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Derzeit gibt es nicht einmal genaue Zahlen, wie viele Kinder betroffen oder in dieser Zeit überhaupt in Heimen untergebracht waren; die Zahlen schwanken zwischen 200.000 und 500.000. In einem zweiten Schritt sollen die rechtliche Verantwortlichkeit geklärt und die damaligen Zustände historisch eingeordnet werden.

Eine Gratwanderung

Drittens soll es um die Frage möglicher Entschädigungen gehen. Antje Vollmer hütet sich jedoch, ein Ziel vor allem für den letzten Punkt vorzugeben. „Das Ergebnis soll so sein, dass alle zustimmen können. Eine Entschädigung ist natürlich nicht ausgeschlossen, aber eben auch nicht garantiert, und schon gar nicht sollen die Institutionen von vornherein in eine Verteidigungshaltung gedrängt werden.“

Es ist eine Gratwanderung, die der Runde Tisch wagen will: Schon haben sich prominente Opferanwälte, allen voran der umstrittene Münchner Anwalt Michael Witti, in die Sache eingeschaltet; von Sammelklagen auf dem Umweg über Amerika wegen sexueller Übergriffe und Ausbeutung durch Zwangsarbeit ist die Rede. Auch die Heimkindervereine untereinander haben es nicht leicht und sind über ihre Ziele uneins. „Es ist vollkommen irrational“, sagt Wolfgang Bahr. Er führt das auf die zum Teil schweren Traumatisierungen der Ehemaligen zurück. Die Traumatisierungen, das persönliche, jahrzehntelang verborgene Leid, sind nun allerdings - in einer positiven Wendung - genau der Punkt, über den gesprochen werden soll.

Auswirkungen von Krieg und Nationalsozialismus reichen bis in die Gegenwart

Denn die Gesellschaft der wiedervereinigten Bundesrepublik, die Deutschen des beginnenden 21. Jahrhunderts, blicken zurück auf ihre eigene Vergangenheit, wie sie es vielleicht noch nie getan haben: allmählich freier von ideologischen Scheuklappen und moralisch präjudizierten Denkverboten, mit einem mitfühlenderen Blick auf Lebensgeschichten, Familiengeschichten, lokale Ausprägungen der großen Weltgeschichte. „Die Anti-Heim-Kampagne der Achtundsechziger-Bewegung hat zwar die gröbsten Missstände in den Heimen beseitigt, und das ist ein hohes Verdienst“, sagt Antje Vollmer, „aber für das Individuelle hat man sich damals überhaupt nicht interessiert.“

Und das gilt nicht nur für die Geschichten der Heimkinder, sondern etwa auch für die Schicksale der Vertriebenen oder der Kriegskinder: Erst allmählich wird man sich bewusst, wie weit die seelischen und gesellschaftlichen Auswirkungen von Krieg und Nationalsozialismus reichen: bis in die Gegenwart, in die dritte Generation der Nachgeborenen.

Unverständliche und willkürliche Härte

Dass seine Erlebnisse im Heim etwas mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten, liegt für Wolfgang Bahr auf der Hand: „Es wehte noch dieser Geist im Haus: Wenn wir im Marschschritt zur Morgenandacht liefen, in den Speisesaal, ins Klassenzimmer, obwohl dazwischen nur wenige Meter lagen. Wir trugen alle die gleichen Topfschnitte, gebrauchte Kleidung, aßen in den ersten Jahren noch von Blechgeschirr. Wir durften das Gelände nicht verlassen, die Gruppen blieben getrennt; ich hatte dort einen Bruder und hatte ihn doch wieder nicht, diese Härte kam mir unverständlich und willkürlich vor.“

Zu den seelischen Verletzungen der Kinder, die aus ihren Familiengeschichten erwuchsen, kamen so die Zumutungen des kargen, streng geregelten Heimlebens: Arbeitseinsätze in Land- und Hauswirtschaft mehrmals wöchentlich, Disziplin und Unterordnung als Erziehungsziele, körperliche Strafen und Gruppenstrafen zur Durchsetzung von Anordnungen, Einsamkeit, Gruppenzwang - und daraus resultierend Bettnässerei. Einmal wurde Wolfgang Bahr gezwungen, das eigene Erbrochene aufzuessen. „Ich aß sehr gern Linsen mit Seidenwürstchen und Spätzle, aber an diesem Tag war mir schlecht, und ich übergab mich. Da setzte mich die Haupterzieherin an einen Einzeltisch, so lange, bis ich alles aufgegessen hätte. Danach habe ich jahrzehntelang keine Seidenwürstchen mehr herunterbekommen.“

„Wir dachten, sie hatten ein schönes Leben“

Jahre später berichtete Wolfgang Bahr im Projektkreis der Karlshöhe, den er selbst mit initiiert hat, über dieses Erlebnis. Seine ehemaligen Erzieher, junge, unausgebildete Leute von 18, 19 Jahren, reagierten entsetzt: „Niemals habe ich so etwas persönlich miterlebt, und bis ich es hörte, habe ich mir nicht einmal vorstellen können, dass so etwas geschehen sein könnte“, beteuerte einer von ihnen. Betroffenheit und Traurigkeit unter den damaligen Erziehern, die unter schwierigen Bedingungen vielfach versuchten, ihr Bestes zu tun, sind groß. „Wir dachten, wir retten diese Kinder, ermöglichen ihnen ein Aufwachsen ohne den schwierigen Einfluss der Eltern, unabhängig auch von der Entwicklung des Bruders beispielsweise im Falle Bahrs. Wir dachten, sie hatten ein schönes Leben, schöner, als manche von uns aufgewachsen waren. Doch heute sehen wir schwarze Wolken von Einsamkeit, ein geheimes Leben, eine ganz andere Welt. Diese Kluft ist erschreckend.“

Mit der Sicht und Situation der Erzieher beschäftigt sich der Runde Tisch in Berlin an diesem Donnerstag und Freitag. Die Berichte aus ihrer Welt werden absehbar ein anderes Licht auf die Ereignisse von damals werfen.

02.04.2009
Rheinischer-Merkur
ERZIEHUNG / Ein dunkles Kapitel aus den frühen Jahren

der Bundesrepublik kommt ans Licht. 
Zwei Wissenschaftler erforschen die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge

Blick in die Strafbücher

Rheinischer Merkur: Ehemalige Heimzöglinge erheben schwere Vorwürfe. Es geht um Schläge, Demütigungen, unentgeltliche Arbeit, sexuelle Übergriffe. Was hat Ihre Forschungsarbeit bisher ergeben? Wie war der Heimalltag in den 1950er- und 1960er-Jahren?

Traugott Jähnichen: Sozialpsychologische Untersuchungen haben gezeigt, dass Gehorsam als Erziehungsziel damals mehr als 80 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung hatte, das Ziel Freiheit höchstens 20 Prozent. In den 70er-Jahren hat sich das spiegelbildlich umgekehrt. Das kann man in den Heimen rekonstruieren. Die Heimreformen Anfang der Siebzigerjahre waren eine Zäsur. Erziehungsziele und -methoden hatten sich gewandelt, und die Erzieher waren nun besser qualifiziert.

Wilhelm Damberg: Diese Prozesse haben einen langen Vorlauf. Schon in den 50er-Jahren gab es Veränderungen in den pädagogischen Diskursen und Denkschriften auch der konfessionellen Verbände, um auf Missstände in der Heimerziehung aufmerksam zu machen. Aber es hatte keine durchschlagenden Konsequenzen in der Praxis.

RM: Warum zielen die Vorwürfe vor allem gegen die Kirchen?

Damberg: Rund zwei Drittel der Heime standen bundesweit in kirchlicher Trägerschaft. Doch was heißt das? Es muss erst einmal geklärt werden, was Heimerziehung ist, denndieHeimerziehung gibt es nicht. Es geht beispielsweise um Kinderheime, Fürsorge-Erziehungsheime, Waisenheime, um Behindertenheime und Lehrlingsheime. Von welcher Bezugsgröße reden wir also? Wir gehen davon aus, dass 800 000 bis eine Million Kinder von 1949 bis 1972 eine Heimerziehung durchlaufen haben. Unser Forschungsprojekt hat die Aufgabe, die Strukturen aufzuzeigen, die hinter dieser Problematik stehen.

RM: Aus welchen Gründen kamen Jugendliche damals in die Heime?

Damberg: Damals war man schneller in einem Heim, als man sich das heute vorstellt. Es hing zum Beispiel davon ab, wie ein Jugendamt zerrüttete Familienverhältnisse beurteilte. Das war regional sehr unterschiedlich. In Rheinland-Pfalz gab es viel mehr Fürsorgezöglinge als in Hamburg.

Jähnichen: Es gab viele Vollwaisen aufgrund von Flucht und Vertreibung. Bei Scheidungen oder unehelichen Kindern gingen die Jugendämter aus heutiger Sicht sehr rigide vor. Jugendliche waren erst mit 21 Jahren volljährig. Wenn einer mit 17 von zu Hause abgehauen ist, dann konnte das dazu führen dass er ins Heim kam. Oft waren es nichtige Gründe für eine Einweisung. Bis 1969 gab es den Kuppelparagrafen: Wer ein nicht verheiratetes Paar aufnahm, machte sich strafrechtlich schuldig. Jugendliche kamen dann ins Heim.

RM: Gehörte Züchtigung zum Alltag in den Heimen?

Damberg: Häusliche und schulische Züchtigung waren verbreiteter, als wir uns das heute vorstellen können. Dabei war aber im öffentlichen Raum ein Trend zu immer engerer Regulierung von Körperstrafen unübersehbar. Schule und Heim waren kein rechtsfreier Raum, die meisten Träger hatten relativ präzise Vorschriften. Ob die Erzieher sich daran gehalten haben, ist aber eine andere Frage.

Jähnichen: In vielen Heimen gab es Strafbücher. Das sind wichtige Quellen, die wir auswerten. Darin sind genau Vergehen und Strafe benannt. So sollte eine Willkür der Erzieher ausgeschaltet werden. Es waren Vorgaben, welche Strafe welchem Delikt entspricht.

RM: Waren die Erzieher damals mit ihrer Aufgabe überfordert?

Damberg: Im katholischen Bereich ging nach dem Krieg der Nachwuchs in den Ordensgemeinschaften (wie auch bei den Diakonissen) zurück. Junge Frauen, die noch vor den Krieg in großer Zahl in die Ordensgemeinschaften eingetreten sind und dort sozialkaritative und pädagogische Aufgaben übernommen haben, blieben nun weg. So wurde die Personaldecke in allen Einrichtungen immer dünner. Es gab weniger Leute und die waren älter und von den Jugendlichen schon deshalb immer weiter entfernt. Das ist die soziologische Grundstruktur, die vieles erklärt, wenn auch nicht rechtfertigt, was passiert ist.

Jähnichen: Weltliche Kräfte konnten nicht gewonnen werden, da das Berufsfeld von der Entlohnung, den Arbeitszeiten und dem Ansehen her sehr unattraktiv war. Im Bergbau oder in der Stahlindustrie war viel mehr zu verdienen. So haben die Heime Frührentner aus dem Bergbau und ehemalige Polizisten in Jungenheimen angestellt. Es gab insgesamt Qualifizierungsdefizite, weil die Ausbildung in modernen Fachschulen und Fachhochschulen erst später greifen konnte. Hinzu kam, dass die baulichen Verhältnisse in Heimen oft katastrophal waren. Der Wohnungsbau ging vor. Die Heime wurden von der Gesellschaft zuletzt in den Blick genommen. In den Einrichtungen für Behinderte kam es erst Ende der 70er-Jahre zu einer Modernisierungswelle. Das alles ergibt eine kritische Masse. Das wollen wir in unserer Studie herausarbeiten. Wir müssen empirisch zeigen, wie die Belastungssituation war, wie groß die Spielräume.

Damberg: Unsere Arbeit ist auch ein Beitrag zur politischen Debatte heute: Eine Gesellschaft muss wissen, was sie tut und nicht, und was das für Folgen hat oder haben kann. Wenn wir die Debatte individualisieren auf einzelne perverse Aufseher, dann entlasten wir das System, das das zugelassen hat, auch die Kirchen.

RM: Reden Sie auch mit den Opfern? Prüfen Sie deren Aussagen?

Damberg: Die zahlreichen Einzelschicksale, die an uns herangetragen werden, lassen uns nicht unberührt und haben uns sehr nachdenklich gemacht. Unser Forschungsprojekt ermöglicht es den Opfern, mit ihren Einzelschicksalen nicht als Querulanten abgetan, sondern ernst genommen zu werden, gerade weil das Projekt wissenschaftlichen Standards folgt. Allerdings sind wir keine „Wahrheitskommission“ wie der Runde Tisch, der hat diesen Anspruch. Aus Gesprächen mit Betroffenen ist aber erkennbar, dass diese nicht unbedingt anklagen wollen, sondern das Bedürfnis haben, das Erfahrene zu verarbeiten. Dazu möchten wir beitragen. Viele schreiben uns, sowohl Erzieher als auch damalige Zöglinge, mit positiven und negativen Assoziationen.

RM: Wie ist die Quellenlage für Ihre Untersuchungen?

Jähnichen: Es gibt Heime mit guter Aktenlage, die kooperieren sehr gut mit uns, es gibt auch andere, da sind keine Unterlagen mehr vorhanden. Einige Einrichtungen wurden bereits in den 60er-Jahren geschlossen. Heimaufsichtsakten sind jedenfalls sehr gut darstellbar.

RM: Wo sind die größten Probleme bei der Recherche?

Damberg: Für uns ist die größte Herausforderung, die Wahrnehmung zu durchbrechen, hier gehe es um Entschuldigungsmechanismen. Das macht uns zu schaffen. Deshalb ist es uns besonders wichtig, darauf hinzuweisen, dass an unseren Lehrstühlen schon länger zur Caritas- und Diakoniegeschichte und speziell zu Fürsorgeerziehung und Kinderheimen geforscht wird. Wir hätten uns sehr gewünscht, dass das öffentliche Interesse schon früher eingesetzt hätte!

Jähnichen: Man muss den historischen Kontext aufzeigen, in dem die Dinge passiert sind, er ist anders als heute. Das hat nichts mit Relativieren zu tun. Aus einzelnen Fällen darf man nicht schließen, das sei generell so gewesen, vor allem in kirchlichen Heimen. Wir wollen mit unserer Studie typologisieren: Es gab Schlimmes, Mittelmaß und Gutes – auch im kirchlichen Bereich. Im Idealfall wollen wir am Ende eine Zuordnung machen, unter welchen Bedingungen es katastrophal war oder eben gut. In der Öffentlichkeit und vor allem in den Medien werden nur die katastrophalen Dinge thematisiert. Zur historischen Arbeit gehört es, genau hinzuschauen.

Damberg: Dass wir einen wissenschaftlichen Zugang zum Thema haben, bedeutet nicht, dass wir die Legitimität all der individuellen Erfahrungen grundsätzlich in Frage stellen oder relativieren. Das sind unterschiedliche Zugangsweisen zu der einen und selben Wirklichkeit. Wir gehen analytisch dran, Menschen müssen aber auch einen Ort finden, wo sie mit ihrer Geschichte Platz haben. Die Kirchen tun jedenfalls gut daran, sich der Sache offensiv zu stellen.

RM: Wie sehen Sie die Problematik für das Gesamtbild der Kirchen?

Jähnichen: Seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ist Heimfürsorge ein zentrales Markenzeichen von Diakonie und Caritas und brachte den Kirchen ein hohes Maß an Reputation. Wenn dieser Kernbereich jetzt in ein schiefes Licht gerät, dann berührt das die Zustimmung zur Kirche insgesamt, in beiden Konfessionen. Das sollte man in seiner Dynamik nicht unterschätzen.

Der runde Tisch

Der Bundestag hat im November vergangenen Jahres auf Empfehlung des Petitionsausschusses die Einrichtung eines runden Tisches „Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren“ beschlossen. Dieses mit 20 Personen besetzte Gremium soll Unrecht aufarbeiten, das Heimkindern in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik widerfahren ist, und die rechtlichen Verantwortlichkeiten klären. Neben Betroffenen sitzen dort unter anderem auch Vertreter der konfessionellen Trägervereine. Einigen ehemaligen Heimkindern geht es auch um materielle Entschädigung für erlittenes Leid und geleistete Arbeit. Dafür gibt es zurzeit keine gesetzliche Grundlage. An diesem Donnerstag und Freitag tritt der runde Tisch, der von Antje Vollmer moderiert wird, zu seiner zweiten Sitzung zusammen. Dabei soll es um zeitgeschichtliche Fragen der Heimerziehung gehen

R. Z.

Wilhelm Damberg ist Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.
Traugott Jähnichen ist Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

 Das Gespräch führte Rudolf Zewell.

© Rheinischer Merkur Nr. 14, 02.04.2009

01.04.2009 
taz.de
Bischöfin Käßmann über Heimkinder
"Eine Entschuldigung ist zu banal"

Landesbischöfin Margot Käßmann will die Misshandlungen von ehemaligen Heimkindern aufarbeiten lassen und die Archive öffnen. Doch ihre Kollegen mauern und verweisen auf den zeitlichen Kontext.

taz: Frau Käßmann, am 2. April tagt der Runde Tisch zur Aufarbeitung des Schicksals ehemaliger Heimkinder zum zweiten Mal. Was muss der Runde Tisch leisten?

Margot Käßmann: Die Opfer müssen ihre Geschichte erzählen und die Täter müssen ihre Schuld erkennen. Nur so kann es eine Versöhnung geben. Lange Zeit gab es für das Schicksal der ehemaligen Heimkinder keine Plattform. Am Runden Tisch können sie das Unrecht, dass ihnen wiederfahren ist, öffentlich machen.

Rund 80 Prozent aller Heime wurden von kirchlichen Trägern geführt. Was muss die Kirche zur Aufarbeitung beitragen?

Wir können unsere Archive öffnen. Zum einen für unabhängige Historiker, die die Geschichte der westdeutschen Heimerziehung objektiv untersuchen. Zum anderen müssen die Betroffenen Zugang zu ihren Akten bekommen.

Wird sich die Kirche nicht auch bei den Opfern entschuldigen müssen?

Ich kann das für meine Kirche tun. Ich bitte um Entschuldigung. Aber ich finde das Wort 'Entschuldigung' im Grunde zu banal. Die Verletzungen, die man den Kindern und Jugendlichen beigebracht hat, haben deren gesamtes Leben geprägt. Ich kann nicht begreifen, wie Menschen mit einem christlichen Ethos so mit Kindern umgehen konnten.
Wie viele Kinder in der Nachkriegszeit in westdeutschen Kinderheimen misshandelt wurden, lässt sich nur schätzen. Es melden sich aber immer mehr Betroffene, um so mehr das Thema in die Öffentlichkeit rückt.


Ihre Kollegen vom Diakonischen Werk wollen die eigene Schuld an den Fehltritten trotzdem nicht eingestehen.

Ich sehe da Schuld. Diese Schuld besteht darin, dass die, die so verletzbar waren - nämlich die Kinder und Jugendlichen unter der Obhut der Erzieherinnen und Erzieher - nicht geschützt wurden. Wir müssen uns fragen, wie es dazu kommen konnte und warum es keine Kontrollen gab.

Als ich ein Kind war, gab es die Redewendung: "Wenn Du nicht brav bist, kommst Du ins Heim." Das zeigt doch, dass die Leute sehr wohl wussten, dass es in den Heimen nicht kinderfreundlich zuging. Die Kirchen verweisen darauf, dass man die Geschehnisse in den Heimen im zeitlichen Kontext betrachten müsse.

Natürlich kann man auf die andere Pädagogik der Fünfziger und Sechziger Jahre verweisen. Damals ging man nicht zuallererst von der Würde des Kindes aus. Aus einem Kind musste erst noch etwas werden, und zwar ein Erwachsener. Auch hatten viele Mitarbeiter in den Heimen keine pädagogische Ausbildung. Manche arbeiteten schon im Nationalsozialismus in den Kinderheimen. Natürlich gab es Ausnahmen. Nicht jedes Heim war gleich. Aber dass Erbrochenes aufgegessen werden musste und dass Kinder geschlagen und in Dunkelzellen eingesperrt wurden, ist meines Erachtens nicht mit dem Verweis auf den zeitlichen Kontext zu rechtfertigen.

Viele Betroffene berichten, dass sie in den Heimen zur Arbeit gezwungen wurden. Heute bekommen sie dafür keine Rente. Müssen diese Betroffenen entschädigt werden?

Ich schließe nicht aus, dass es Entschädigungszahlungen geben wird. Die Lösung wird hier aber nicht so pauschal möglich sein, wie bei den ehemaligen Zwangsarbeitern in der Nazi-Zeit. Die ehemaligen Heimkinder haben sehr individuelle Schicksale. Entschädigungszahlungen können deshalb auch nur für jeden Fall individuell entschieden werden. Eine nachträgliche Rentenversicherung sollte es in einigen Fällen aber sicher geben. Viele ehemalige Heimkinder leben heute in Altersarmut.

Weshalb stehen sie den Anliegen der ehemaligen Heimkinder offen gegenüber, während andere Kirchenvertreter mauern?

Mauern verstehe ich nicht. Mit Fehlern und Schuld muss man offen umgehen. Ich denke, die Kirchen haben nichts zu verlieren. Wenn wir uns offen mit diesem Thema auseinander setzten, können wir nur an Glaubwürdigkeit gewinnen.
INTERVIEW: MARLENE HALSER

MARGOT KÄSSMANN
Margot Käßmann ist Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannover. Innerhalb der Evangelischen Kirche gilt sie als liberale Kritikerin. Unter anderem fordert sie die Zulassung von Frauen zum Priesteramt und die Aufhebung des Zölibats. 2007 ließ sie sich von ihrem Mann scheiden und sorgte damit für Schlagzeilen in der konservativen Presse.

http://www.taz.de/nc/1/politik/deutschland/artikel/1/eine-entschuldigung-ist-zu-banal&src=PR
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28.03.2009
FR-online.de
Behinderte Heimkinder
Im Herz der Finsternis

Volmarstein. Körperbehinderte Heimkinder waren in einem Heim der Evangelischen Stiftung Volmarstein in den 50er und 60er Jahren körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt. Zu diesem Ergebnis kommen die Historiker Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler, die im Auftrag der Stiftung die Situation im Johanna-Helenen-Heim untersuchten.

Die etwa 60 Mädchen und Jungen, die in diesem Heim aufwuchsen, seien geschlagen und gedemütigt worden, sagte Schmuhl und nennt ein Beispiel: Ein Mädchen hatte sein Mittagessen stehenlassen. "Zwei Diakonissen legten sie auf den Boden, schaufelten das Essen in sie hinein und wenn sie erbrach, fütterten sie ihr auch Erbrochenes." Ulrike Winkler fasst zusammen: "In dem Heim herrschten Willkür, Zerstörung, Angst und Einsamkeit. Man blickte in das Herz der Finsternis."

Die Züchtigung sei auch nach damaliger Rechtslage als Körperverletzung strafbar gewesen, sagte Schmuhl und warf der damaligen Leitung des Sozialwerks vor, die Kinder nicht geschützt zu haben. Die Bewohner des Heims, die zum Teil noch heute in Volmarstein leben, forderten, dass beim Mitte Februar eingerichteten bundesweiten "Runden Tisch zur Aufarbeitung des Schicksals von Heimkindern" Misshandlungen körperbehinderter Kinder eigens behandelt werden.

In dem Heim lebten zwischen 1945 und 1968 etwa 60 körperbehinderte Kinder. epd

Copyright © FR-online.de 2009
Dokument erstellt am 27.03.2009 um 16:40:02 Uhr
Letzte Änderung am 27.03.2009 um 16:57:42 Uhr
Erscheinungsdatum 28.03.2009

URL: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/wissen_und_bildung/aktuell/?em_cnt=1701837&em_loc=1739

26. 03. 2009
Presseinformation der Geschäftsstelle Runder Tisch
"Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren":

Nachdem sich der Runde Tisch "Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren" am 17. Februar 2009 auf Beschluss des Deutschen Bundestages und unter Vorsitz von Frau Antje Vollmer, Bundestagsvizepräsidentin a. D., in Berlin Konstutuierte, tritt er nun am 2./3. April 2009 zur zweiten Sitzung zusammen.

Unter Anderem wird in dieser nichtöffentlichen Sitzung des Runden Tisches aus der Arbeit von Infostellen einzelner Bundesländer berichtet. Darüber hinaus wird es um Erfahrungsberichte Betroffener und ehemaliger Erzieher, sowie um eine zeitgeschichtliche Einordnung der Damaligen Heimerziehung durch Vertreter der Wissenschaft gehen.

Berlin, 26. 03. 2009

Pressekontakt:
Geschäftsstelle Runder Tisch "Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren"
Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe - AGJ
- Child and Youth Welfare Organisation -
Mühlendamm 3, 10178 Berlin - Deutschland / Germany
Tel.: 0049 (0) 30 - 400 40 228
Fax: 0049 (0) 30 - 400 40 232
E-Mail: Info@rundertisch-Heimerziehung.de

19.03.2009
Wiesbadener Kurier
Hoffen auf Genugtuung und Entschädigung

19.03.2009 - WIESBADEN

Von Claudia Nauth
Es ist lange her. 35 Jahre im Fall der Wiesbadenerin Monika Siebert*. Doch das Leben der heute 52-Jährigen steht noch immer im Bann jener Jugendjahre, die sie in einem konfessionell geführten Heim in Niddatal-Ilbenstadt verbringen musste. Distanziertheit und Bindungslosigkeit, so sagt sie rückschauend, prägte ihr Leben und ihre Beziehungen. Die gelernte Krankenschwester ist mittlerweile berufsunfähig, lebt von einer kleinen Rente und Grundsicherung, wie sie sagt.

Frage der Verantwortung

Ein Lichtblick für Menschen wie Siebert ist der Mitte Februar erstmals zusammengetretene Runde Tisch Heimerziehung, den der Bundestag im November 2008 auf Empfehlung seines Petitionsausschusses ins Leben rief. Er soll Unrecht und Menschenrechtsverletzungen aufarbeiten und auch die rechtliche Verantwortlichkeit klären. Vielleicht kann er auch den Boden bereiten für Entschädigungszahlungen oder Rentenaufstockungen, denn nicht wenige der einstigen “Fürsorgezöglinge" mussten Zwangsarbeit leisten ? beim Torfstechen, in Großküchen, Wäschereien oder der Landwirtschaft.

Rentenversicherungsbeiträge wurden dafür meist nicht entrichtet. Viele Jugendliche erhielten keine oder eine schlechte Ausbildung, was ihren Start ins Leben zusätzlich erschwerte. “Eine Rente oder eine Entschädigung wäre angebracht", meint auch Monika Siebert. Besonders viele Frauen, die in Heimen aufwuchsen, lebten heute am Existenzminimum, da früher auf deren Qualifizierung kein Wert gelegt gelegt wurde, weiß sie aus Erfahrung.

Den ehemaligen Heimkindern geht es allerdings nicht nur ums Geld. Sie suchen Erklärungen, fordern Entschuldigungen sowie Genugtuung und verlangen, dass noch lebende Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Auch Siebert wünscht sich, ihre ehemalige Betreuerin vom Jugendamt zur Rede stellen zu können. “Ich möchte wissen, warum sie mir damals nicht geholfen hat", sagt die 52-Jährige. Mehr als 500 000 Männern und Frauen, die als Kinder oder Jugendliche früher in Heimen untergebracht waren, dürfte es ähnlich gehen.

Brutalo-Pädagogik

Mit den Vertretern der Betroffenen am Runden Tisch sitzen auch Repräsentanten der sozialen Verbände, der katholischen und der evangelischen Kirche, der Länder und Kommunen sowie des Bundesfamilienministeriums.
Persönlich verantwortlich für die bis in die Siebzigerjahre praktizierte Brutalo-Pädagogik sind sie nicht. Besonders die Kirchen und kirchliche Organisationen, in deren Trägerschaft früher viele Heime waren, bemühen sich um Aufklärung und Hilfestellung.
Gegenüber dem Kurier äußerte Caritas-Sprecherin Claudia Beck tiefstes Bedauern über die Vorgänge in den früheren Heimen und betonte die grundsätzliche Offenheit der Organisation, mit Betroffenen zusammenzuarbeiten. Auch Monika Siebert hat von katholischer Seite Akteneinsicht erhalten und so viel über die Hintergründe ihrer Verwahrung in Ilbenstadt erfahren.

Die Berichterstattung über den Runden Tisch und die Vorfälle und Ereignisse von einst hat viele der ehemaligen Heimkinder aufgewühlt und mit der schrecklichen Vergangenheit konfrontiert. Seitdem verzeichnet der bereits 2004 in Idstein gegründete Verein ehemaliger Heimkinder e.V. den Angaben zufolge täglich drei bis vier Neuanmeldungen und etwa zehn Anrufer, die Informationen einholen wollen. Es bestehe viel Redebedarf, sagt dazu ein Vorstandsmitglied. Die Resonanz habe überrascht.

Allerdings scheuen viele der Betroffenen auch heute den Schritt in die Öffentlichkeit. Sie wollen sich untereinander austauschen, sind aber nicht bereit dazu, vor einem Publikum oder in einem Fernsehbeitrag zu sprechen. Im Heim gewesen zu sein, das gelte noch immer bei vielen als Schande, sagt auch Monika Siebert. Sie hat in Kindheit und Jugend seelische und körperliche Verletzungen erleben müssen und kann sich entsprechende Traumatisierungen vorstellen und die Reaktionen darauf verstehen. Mit dem Heim in Ilbenstadt sei sie noch “gut bedient gewesen", sagte die Wiesbadenerin im Nachhinein.

Schweigen über das Erlebte will sie allerdings nicht mehr. Auch Hans-Siegfried Wiegand geht jetzt diesen Weg und berichtet am Runden Tisch über seine Erlebnisse als Heimkind. Das war nicht immer so: “Ich habe nie jemandem erzählt, dass ich im Heim lebe. Ich habe mich meiner bloßen Existenz geschämt."

Auf dem Prüfstand

Jetzt haben die ehemaligen Heimkinder eine ehemalige Bundestagsvizepräsidentin als Fürsprecherin. Die Grünen-Politikerin Antje Vollmer leitet den Runden Tisch. “Wir werden alles prüfen, können nichts garantieren, schließen aber auch nichts aus", umschrieb sie ihre Arbeitshaltung bei der ersten Sitzung. Im nächsten Jahr soll der Bericht vorliegen.

17. März 2009
Rhein-Zeitung

Landesjugendamt Rheinland-Pfalz: Keine Hinweise auf Missbrauch


Rheinland-Pfalz Wo es zwischen 1945 und 1975 in Rheinland-Pfalz Kinderheime gab, darüber sind bislang nur bruchstückhafte Informationen vorhanden.
Das Landesamt für Soziales, Jugend und Versorgung beruft sich in der Antwort auf eine Anfrage unserer Zeitung auf Zahlen von 1978: Demnach gab es damals 28 Erziehungsheime mit 2129 Plätzen. Darunter war auch das Landeserziehungsheim in Gau-Algesheim, das 1968 nach Ingelheim (Kreis Mainz-Bingen) verlegt wurde.
Zwar gab es in diesem Heim auch "Maßnahmen der Fürsorge-Erziehung". Allerdings betont das Landesamt: "Berichte über Misshandlungen im Landeserziehungsheim liegen uns nicht vor." Und: "Aus rheinland-pfälzischen Heimen sind bisher keine konkreten Anschuldigungen über Misshandlungen bekannt."

Etwa 90 Prozent der Heime waren in kirchlicher Trägerschaft: Dazu gehörte auf evangelischer Seite unter anderem: das Mädchenheim "Bethesda" in Boppard (180 Plätze) für "gefallene Mädchen", die nach damaligen Moralvorstellungen als verwahrlost galten, weil sie ihre Freunde oder Sexualpartner häufiger wechselten. Sogenannte "Fürsorgezöglinge" hat es laut Diakonischem Werk auch im Kinderheim Wolf/Mosel (200 Plätze) gegeben.
Auf katholischer Seite gestaltet sich die Suche nach früheren Kinderheimen noch schwieriger. Allerdings gibt es auf der Internetseite früherer Heimkinder eine sehr detaillierte Liste früherer Einrichtungen. Dort findet sich unter anderem auch das Heim "Kloster zum guten Hirten" in Koblenz-Lützel. (ck)
Können Sie uns von den Verhältnissen in früheren Kinderheimen berichten? Wir suchen Zeitzeugen. Schicken Sie uns eine E-Mail an Christian.Kunst@Rhein-Zeitung.net oder rufen Sie uns an unter 0261/892-240.

Die Schattenkinder des Wirtschaftswunders

Koblenz
Verprügelt, misshandelt, missbraucht: Viele Kinder werden ihre schlimmen Erlebnisse in Kinderheimen der Nachkriegszeit nie vergessen.

Ein Runder Tisch soll dieses dunkle Kapitel jetzt beleuchten. Als einziger Wissenschaftler sitzt der Koblenzer Professor Christian Schrapper am Runden Tisch.

Die 50er- und 60er-Jahre waren für viele Deutsche eine Ära des Wohlstands. Die Stimmung des „Wir sind wieder wer“ verdeckte die dunklen Seiten des Wirtschaftswunders: In vielen Heimen fristeten Tausende Kinder ein oft menschenunwürdiges Dasein. Sie waren „Schattenkinder“ des Wirtschaftswunders. Waren die Misshandlungen Einzelfälle oder steckte dahinter System? Antworten gibt der Leiter des Instituts für Pädagogik an der Uni Koblenz, Professor Christian Schrapper, im Gespräch mit unserer Zeitung.
Experten sagen, dass in den 50er- und 60er-Jahren etwa eine halbe Million Deutsche in Kinder- und Erziehungsheime eingewiesen wurden. Wie viele wurden misshandelt?

Bislang weiß niemand, wie viele Kinder und Jugendliche in den Heimen missbraucht wurden. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele Kinder genau in den Heimen gelebt haben. Die Zahl von 500?000 Heimkindern ist eine Schätzung. Die Hochrechnungen schwanken zwischen 0,5 und 1,5 Millionen. Und nicht alle Heimkinder wurden misshandelt oder missbraucht. Es wird eine der wichtigsten Aufgaben des Runden Tisches sein, hier verlässliche Zahlen zu liefern.
Wie viele Heime gab es in Rheinland-Pfalz?

Die Heime in Rheinland-Pfalz zwischen 1945 und 1975 sind bekannt, aber ebenfalls nicht, wie viele Kinder und Jugendliche hier lebten. Wir „erkunden“ gerade im Auftrag des zuständigen Ministeriums, welche Aktenbestände in den Landesarchiven und in den „Kellern“ der Ministerien und des Landesjugendamtes noch über diese Zeit Auskunft geben können. 2008 gab es auf Einladung des zuständigen Sozialministeriums ein erstes Treffen von Vertretern der großen Trägergruppen, Caritas und Diakonie, bei der man sich grundsätzlich darauf verständigt hat, das Thema in Rheinland-Pfalz offen und aktiv zu bearbeiten. Im Gegensatz zu anderen Ländern gibt es bei uns aber noch keine Gruppe von aktiven ehemaligen Heimkindern.
In wessen Trägerschaft haben sich die Heime befunden?
Es soll bis Mitte der 70er-Jahre noch eine landeseigene Einrichtung nahe Bingen gegeben haben. Ansonsten waren die Einrichtungen nur in freier, überwiegend in kirchlicher Trägerschaft.
Wie gehen diese Träger mit ihrer Vergangenheit um?

Viele Einrichtungen haben sich bislang aus durchaus nachvollziehbaren Gründen mit diesem Teil ihrer Geschichte nicht sehr intensiv beschäftigt. Viele sagen auch, dass es keine Unterlagen aus dieser Zeit mehr gibt. Aber es ist in Rheinland-Pfalz ein deutliches Interesse erkennbar, sich dem Thema offen zu stellen.
Ist das eine Art Verdrängung?

Das will ich den heutigen Verantwortlichen nicht unterstellen. Sicherlich haben die Einrichtungen und die Jugendämter die Geschichte der öffentlichen Heimerziehung nicht sehr aktiv thematisiert. Und es hat ja auch unzählige Kinder und Jugendliche gegeben, die in den Heimen Menschen gefunden haben, die sich um sie gut um sie gekümmert haben.
Missbrauch war also kein flächendeckendes Problem?

Richtig. Nicht in allen Heimen gab es Misshandlungen. In der alten Bundesrepublik gab es ein dreistufiges System der Heimerziehung: Zuerst war da die „normale Heimerziehung“, für die die örtlichen Jugendämter zuständig waren. Dort wurden meist jüngere Kinder untergebracht, also Kinder, deren Eltern sich nicht genug kümmerten. Es waren aber keine Kinder, die als besonders auffällig galten. Zweitens gab es die sog. Freiwillige Erziehungshilfe, die interessanterweise während des Kriegs eingeführt wurde, um die „wertvolle“ aber verwahrloste deutsche Kinder auch ohne Gerichtsbeschluss in Erziehungsheimen unterbringen zu können. Diese Hilfe konnten Eltern beim örtlichen Jugendamt beantragen. Voraussetzung war aber, dass die Kinder und Jugendlichen schon deutliche Anzeichen von Verhaltensstörungen und Verwahrlosung zeigten.
Und die dritte Stufe?

Das war die Fürsorge-Erziehung. Sie wurde nicht von Eltern, sondern vom örtlichen Jugendamt beantragt. Ein Vormundschaftsgericht musste dann entscheiden, ob dieser junge Mensch verwahrlost war oder ob „Verwahrlosung drohte“. Dann wurde der Jugendliche meist in ein Fürsorgeheim eingewiesen, die Fürsorgeerziehung konnte aber auch in einer Familie, sogar in der eigenen Familie angeordnet werden – mit entsprechend enger Kontrolle. Die Eltern verloren das Sorgerecht. Meist betraf dies Jungen, die geklaut hatten und Mädchen mit „sexuell auffälligen Verhalten“ – dafür reichte aber manchmal schon eine zu kurzer Rock und ein zu großer Wunsch nach Eigenständigkeit. Für die freiwillige Erziehungshilfe und die Fürsorgeheime war immer das Land zuständig. Das dortige Landesjugendamt suchte das richtige Heim aus, oft weit vom Wohnort entfernt. .
Wo war das Risiko einer Misshandlung am größten?

Bei der Fürsorge-Erziehung gehen wir nach derzeitigen Erkenntnissen davon aus, dass es eine Gruppe von Einrichtungen gab, in denen nicht nur in Einzelfällen, sondern systematisch Kinder und Jugendliche misshandelt und zur Arbeit gezwungen wurden. In solchen Heimen war jeder junge Mensch Prozeduren wie Karzer, Prügel und Zwangsarbeit ausgesetzt.
Konnten die Eltern noch Einfluss nehmen?

Bei der freiwilligen Erziehungshilfe stellten sie ja den Antrag. Dann haben sie zwar einen Teil ihres Sorgerechts abgegeben, konnten den Antrag aber jederzeit widerrufen. Der Pferdefuß war nur, dass das Jugendamt eine ausführlichere Einschätzung ihrer Kinder vornahm. Wenn die Eltern den Antrag dann zurücknehmen wollten, war es für sie nicht leicht, dies gut zu begründen. Hielt das Jugendamt das Kind trotzdem für verwahrlost, konnte aus der freiwilligen eine Fürsorge-Erziehung werden. Die Eltern konnten den Beschluss in diesem Fall nur noch gerichtlich anfechten, was selten geschah und kaum erfolgreich war.
Wie kam es zu den Übergriffen gegenüber Kindern? Steckten dahinter noch Überreste nationalsozialistischer Erziehungsmethoden?

Das ist ein beliebtes Argument. Es erklärt die Zustände aber nur unvollständig. Man darf die Heimerziehung nicht generell unter Nazi-Verdacht stellen. Wir können dies nur an bestimmten Personen oder Praktiken festmachen, die in der Nähe zu rassistischen oder faschistischen Auffassungen stehen.
Was ist Ihr Erklärungsversuch?

Die Heimerziehung war einer der Schattenseiten des deutschen Wirtschaftswunders. Hier haben sich sehr konservative Erziehungsvorstellungen und Menschenbilder am längsten gehalten. Viele Heime sind im Krieg zerstört worden und in den Nachkriegjahren gab es auch als Folge der großen sozialen Zerstörungen der Kriegs- und Nachkriegszeit eine riesige Nachfrage nach Heimplätzen. Diesem Bedarf konnten die bestehenden Heime kaum entsprechen. Ausreichend Öffentliches Geld für Wiederaufbau und notwendige neue Heime ist erst sehr spät, an Mitte der 1960er Jahre geflossen. Außerdem war die Arbeit in den Heimen schlecht bezahlt und fand zu ungünstigen Zeiten statt. Bei der Arbeitskräftenachfrage im Wirtschaftwunder war bis weit in die 1970er-Jahre kaum qualifiziertes Personal für die Heimerziehung zu finden. Das hat sich erst mit den umfassenden Heimreformen und gleichzeitig dem explosionsartigen Anwachsen der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Studiengänge in den 80er-Jahren geändert. Die Arbeit in den Heimen wurde jetzt auch deutlich besser bezahlt..

Hat die heutige Heimerziehung vollständig mit den Zuständen von damals gebrochen?

Die heutige Heimerziehung ist mit den Zuständen von damals nicht mehr zu vergleichen – in Heimen arbeiten heute überwiegend qualifizierte und engagierte Fachkräfte. Aber ein Grundproblem der Heimerziehung ist geblieben: selbst „ungeliebtes Kind“ in der Kinder- und Jugendhilfe zu sein, weil man für Kinder sorgen muss, für die (sonst) nicht gesorgt wird. Die Heimerziehung muss sich bis heute rechtfertigen, dass sie so teuer ist.
Was kann der Runde Tisch leisten. Inwieweit kann er den Opfern helfen?

Der Runde Tisch darf kein Tribunal über die Heimerziehung werden. Er muss sich ernsthaft mit den berechtigten Anliegen und Forderungen von heute erwachsenen Menschen befassen, die eine Antwort auf die Frage haben wollen: Warum ist mir das damals angetan worden? Sie wollen Aufarbeitung, Rehabilitation, Entschuldigung und Entschädigung. Die Kernfrage wird sein: Waren die Misshandlungen bedauerliche Einzelfälle oder steckte dahinter ein System? Und: Ist die menschenrechtswidrige Erziehungspraxis durch das damalige Rechts- und Jugendhilfesystem gerechtfertigt gewesen? Oder hätten die Verantwortlichen wissen müssen, dass solche Praktiken nicht richtig war? Der Runde Tisch muss Grundlagen schaffen, um diese Fragen zu beantworten.
Und nur wenn die Methoden System hatten, haben die Opfer eine Chance auf Entschädigung?

Ja. Zumindest haben sie dann Aussicht auf eine Entschädigung, die keine aufwendige Einzelfallprüfung voraussetzt. Es wird eine Regelung geben müssen, die einerseits die Option für eine Einzelfallprüfung offen lässt, aber Kriterien für eine Entschädigung definiert. Und wir müssen festlegen, bei welchen Gruppen von Heimkindern es als sehr wahrscheinlich gelten kann, dass sie misshandelt worden sind und arbeiten mussten, ohne dafür angemessen entlohnt und versichert worden zu sein. Beim Thema Zwangsarbeit muss es geklärt werden, wie die damals beteiligten Firmen in die Verantwortung genommen werden können oder müssen. Mit der Stiftung für die Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern haben wir ein mögliches Modell für einen Entschädigungsfonds.
Das Gespräch führte Christian Kunst
RZO

Kein Einzelschicksal: Wenn die Diakonisse mit dem Schlüssel schlägt

Speyer/Zweibrücken
Monika Denger hat vergeben, aber sie kann nicht vergessen: Nicht, dass ihr Diakonisse Anna mit dem Schlüsselbund ein Loch in den Kopf schlug. Nicht die Stockschläge bis aufs Blut.
Und auch nicht die seelischen Wunden, die ihr als Mädchen und junge Frau zugefügt wurden. "Ich hörte immer nur: Monika ist dumm, Monika kann das nicht", erzählt die 62-jährige Zweibrückerin mit bebender Stimme.

Jahrzehnte lang hat sie geschwiegen , ihre schlimmen Erlebnisse "verkapselt", wie sie sagt. Nun, nachdem das Martyrium vieler Heimkinder in den 1950er und 1960er Jahren endlich öffentlich geworden ist, kann auch sie ihre Leidensgeschichte in Worte fassen. Als Siebenjährige kam Monika Denger in das protestantische Kinderheim Zoar in Rockenhausen und erlebte dort grausame Dinge: Sie wurde von den Heimbediensteten verprügelt, gedemütigt und musste in der Krankenstation als Pflegehelferin sowie in der Küche schwer arbeiten. Zur "Strafe" wurde sie in ein Zimmer eingesperrt, in dem Särge standen.

Ihr Schicksal ist typisch für das Schicksal von Tausenden: Im Nachkriegsdeutschland lebten nach Angaben des Vereins ehemaliger Heimkinder mit Sitz in Aachen rund 500.000 Kinder und Jugendliche unter zum Teil schrecklichen Bedingungen in Heimen. Rund 75 Prozent der "Fürsorgeheime" wurden von der evangelischen und katholischen Kirche getragen. Auch dort wurden viele Zöglinge körperlich und seelisch misshandelt, zu Arbeitsdiensten verdammt und sogar sexuell missbraucht.

Lange, zu lange habe sie darüber geschwiegen, was ihr zwischen 1953 und 1969 im evangelischen Kinderheim widerfahren sei, sagt Monika Denger. Jahre voller Gewalt, unter deren Folgen sie bis zum heutigen Tag leidet. "Die Depressionen, der Angstdruck sind da." Bis heute ist es der Mutter von zwei erwachsenen Kindern unbegreiflich, dass gerade in kirchlichen Heimen oft nicht der Geist der Nächstenliebe herrschte.
"Die Kirchen müssen sich entschuldigen, wir Opfer wollen vor allem Genugtuung", fordert Denger. Die Kirchen müssten das Geschehene aufarbeiten, den Opfern psychologische und therapeutische Hilfe bieten, aber auch finanzielle Entschädigung gewähren. Viele der ehemaligen Heimkinder sind heute im Rentenalter und könnten die Jahre ihrer Zwangsarbeit in Heimen nicht auf ihre Rente anrechnen lassen.

"Jederzeit", sagt Gordon Emrich , der pfälzische Diakoniepfarrer, müssten die Betroffenen von der Kirche psychologische und therapeutische Hilfen erhalten. Bei der Frage nach möglichen Entschädigungszahlungen müsse jedoch das Ergebnis des "Runden Tisches" abgewartet werden. Eine "Pauschallösung" könne es nicht geben. Der "Runde Tisch" unter Vorsitz der ehemaligen Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) besteht aus ehemaligen Heimkindern, Vertretern von Bund, Ländern, Kirchen und der Jugendhilfe. Er will bis 2010 klären, ob eine Entschädigung der Opfer möglich ist.

Einen Fonds für die Betroffenen, an dem sich neben den Kirchen auch das Land und andere Träger der Jugendhilfe beteiligen sollten, regt Gerhard Ritter, Geschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung Pfalz in Speyer, an. Als diakonischer Träger der stationären Jugendhilfe trage auch die Heimstiftung Mitverantwortung für Exzesse hinter Heimmauern. Die "Schwester Rabiata", die aus christlicher Überzeugung ein strenges Regiment führte, sei in kirchlichen Heimen ganz normal gewesen.
"Die Traumatisierten müssen Hilfen bekommen, und das kostet Geld", fordert Ritter. Dass das Leid der ehemaligen Heimkinder zur Sprache kommt, ist für Monika Denger ein erster heilsamer Schritt hin zur Versöhnung mit ihrer Vergangenheit. "Es ist gut, dass man den Schmerz jetzt herausschreien kann", sagt sie. "Es ist gut, dass uns jetzt zugehört wird und wir endlich ernst genommen werden. " (Von Alexander Lang)
RZO

Die Liste der bekannten Heime im nördlichen Rheinland-Pfalz

1) Heime in Trägerschaft des Landes:
Landeserziehungsheim in Gau-Algesheim, ab 1968 in Ingelheim (beides Kreis Mainz-Bingen)
2) Heime in Trägerschaft der evangelischen Kirche/der Diakonie (Quelle: Archiv des Diakonischen Werkes der EKD, Berlin)
Mädchenheim „Bethesda“ in Boppard für schulentlassene Mädchen und junge Frauen (180 Plätze)
Evangelisches Waisenhaus in Bad Kreuznach für Säuglinge, Kleinkinder und schulpflichtige Jungen und Mädchen (40 Plätze)
Kinderheime der Kreuznacher Diakonieanstalten in Niederwörresbach/Nahe (54 Plätze)
Erziehungsheim Neuwied-Oberbieber für alle Altergruppen bis zur Volljährigkeit (267 Plätze)
Kinderheim „Auf’m Schmiedel“ bei Simmern/Hunsrück für Schulpflichtige (160 Plätze)
Kinderheim in Wolf an der Mosel für alle Altersgruppen bis zur Volljährigkeit und Heilpädagogik (200 Plätze)

(Wichtiger Hinweis: Die Schulpflicht endete damals mit 14 Jahren)
3) Heime in anderer, meist katholischer Trägerschaft (Quelle: www.heimseite.eu )
Heim Birnbach in Altenkirchen
Kloster Ebernach in Cochem-Sehl
Landschulheim in Elbtal/Westerwald
Marienheim in Herschbach/Selter
„Kloster zum guten Hirten“ in Koblenz-Lützel
St. Josefs Kinderheim in Lehmen
Kinderpflegeheim Zoar in Rockenhausen
St. Josefs Kinderheim in Siegen/NRW
Anna Helenenstift in Siegen
Kinderheim Friedenshort in Siegen-Freudenberg
Helenenberg „Don Bosco“ in Welschbillig bei Trier

08.03.2009
Sonntagsblatt
Ausgabe 10/2009 vom

Zwangsarbeit im Kinderheim

Ein runder Tisch beschäftigt sich mit dem Schicksal von Heimkindern in der Nachkriegszeit. Wie war es in Bayern?

Wie müssen wir Heutigen uns die Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren vorstellen? War die »Schwester Rabiata«, die aus christlicher Überzeugung ein gestrenges Regiment führte, in kirchlichen Heimen der Normalfall? »Pädagogische Entgleisungen« gab es, sagen auch Leute der Kirche, Betroffene aber sprechen von Freiheitsentzug, Demütigung, gar Misshandlung, was ihnen widerfuhr: Mehr als eine halbe Million Kinder sollen - wie das Buch mit dem bezeichnenden Titel »Schläge im Namen des Herrn« aufgedeckt hat - in westdeutschen Heimen, kirchlichen wie staatlichen, unter teils menschenunwürdigen Bedingungen gelebt haben. Jetzt soll ein runder Tisch im Bundestag das Geschehen aufarbeiten.

Sie war eben ein Heimkind! Sonja Djurovic, heute 59 Jahre alt, lebte, wie sie es selbst empfand, immer mit einem Makel: »Mein ganzes Leben lang habe ich mich geschämt, weil ich dachte, ich selbst sei schuld an dem Leid, das mir zugefügt wurde.« Jetzt, da sie neben der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin und Grünen-Politikerin Antje Vollmer sitzt, ist es wie eine Befreiung und eine Überwindung des Makels, wenn sie von damals erzählt, die Zustände öffentlich macht am runden Tisch im Bundestag. Sonja Djurovic spricht von Zwangsarbeit und »moderner Sklaverei«, was sie zwischen 1964 und 1968 in einem evangelischen Heim erlebte. »Wir wurden gequält, tagein, tagaus.« Sechs Tage in der Woche eingesperrt, nähte sie Damenkleidung - und zwar im Akkord, schon als 15-jähriges Mädchen. Die jungen Schneiderinnen erhielten für ihre Tätigkeit 15 Mark Taschengeld im Monat. Doch zum Ausgeben blieb nicht viel: Shampoo und Seife mussten sie davon selbst kaufen - und zwar im Heim.
»Bei der Arbeit durften wir nicht reden«, erinnert sich Sonja Djurovic. Redeverbot galt auch beim Essen, andernfalls musste man vor die Tür und blieb hungrig! Briefe wurden zensiert, Radiohören war verboten, Rockmusik galt als »dämonisch«. Selbst bei den wenigen erlaubten Fernsehsendungen durfte nicht gesprochen werden, und die Mädchen tauschten sich über Zettel aus. Wer das Redeverbot brach, musste zur Strafe eine Zeit lang einfach zusammengeflickte Hauskleider tragen, in denen man »wie eine Vogelscheuche« aussah. Nur sonntags, zum Kirchgang, durften die Mädchen raus, aber »schön artig, in Zweierreihen und im Gänsemarsch«.

Was in den Kinderheimen der Nachkriegszeit geschah, ist ein dunkles, immer noch weitgehend unbekanntes Kapitel der Prügelpädogogik der 50er- und 60er-Jahre. Ein runder Tisch soll die »pädagogischen Entgleisungen« aufklären. Das Foto zeigt eine Szene aus den 50er-Jahren in einem Heim des Diakoniewerks Karlshöhe in Ludwigsburg, wo sich eine Initiative ehemaliger Heimkinder gebildet hat.

Was dann Sonja Djurovic erzählt, lässt einem den Atem stocken, so unglaublich klingt es: Immer wieder hätten die jungen Schneiderinnen, damit sie aus diesem Heimgefängnis wenigstens ins Krankenhaus gelangen konnten - oder weil sie Selbstmord begehen wollten? - Stecknadeln geschluckt! Aber die Diakonissen wussten ein probates Gegenmittel: Sauerkraut zum Abführen mussten die Mädchen essen, und also blieben sie eingesperrt im Heim.
Horrorgeschichten aus den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Einzelfälle? Oder waren dies Missstände mit System? Zwischen 1945 und den 70er-Jahren lebten mehrere Hunderttausend Kinder und Jugendliche in Waisenheimen und Erziehungsanstalten der Bundesrepublik. Die Mehrzahl der Heime, schätzungsweise drei Viertel, wurde von Ordensgemeinschaften, der Caritas und der Diakonie geführt.
Der Spiegel-Journalist Peter Wensierski hat bereits 2006 mit seinem Buch »Schläge im Namen des Herrn« das Unrecht gegenüber Heimkindern in der frühen Bundesrepublik öffentlich gemacht. Viele Kinder und Jugendliche erlitten brutale Erziehungsmethoden: Arbeitszwang, Prügel, Demütigungen, auch sexuelle Übergriffe und Misshandlungen standen quasi auf der Tagesordung vieler Heime. Die ehemaligen Heimkinder brachen erst vor wenigen Jahren ihr Schweigen und organisierten sich in Selbsthilfevereinen, schließlich im »Verein der ehemaligen Heimkinder«. Auf Initiative von Wensierski reichten sie eine Petition beim Deutschen Bundestag ein und forderten Entschädigungen. Der Petitionsausschuss wiederum setzte zur Aufarbeitung des Geschehens einen »runden Tisch« unter Leitung der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer ein, an dem Vertreter der Heimkinder ebenso wie Vertreter ehemaliger Heimträger und der für die damalige Heimerziehung verantwortlichen Bundesländer und Kommunen teilnehmen.

Sind bayerische Einrichtungen betroffen?

»Der runde Tisch ist kein Tribunal, eher eine Wahrheitskommission«, sagte Antje Vollmer (siehe Interview). »Uns geht es um Entschuldigung, Versöhnung und darum, dass wir am Ende einen Konsens haben.« In den nächsten zwei Jahren soll der runde Tisch alle zwei Monate tagen und bis 2010 einen Abschlussbericht vorlegen. Aus Bayern nimmt Jörg Kruttschnitt, Diakonisches Werk Bayern, am runden Tisch teil. Auch Vertreter der ehemaligen Heimbetreiber begrüßen dieses Vorgehen: »Der runde Tisch bietet eine Möglichkeit, nach Wegen zu suchen, wie Aufklärung geleistet werden kann«, sagte Hans-Ulrich Anke, Vizepräsident des Kirchenamts der EKD. »Heute bedauern wir es zutiefst, und es tut uns unendlich leid, dass es auch in Einrichtungen der Diakonie zu Menschenrechtsverletzungen gekommen ist.«

Sind auch bayerische Einrichtungen betroffen? Die Innere Mission München will von sich aus die Geschichte ihrer Heime nach Kriegsende untersuchen und aufklären und hatte bereits vor drei Jahren einen öffentlichen Aufruf gestartet, um mögliche Betroffene zu finden: »Heimkinder gesucht«. Wie Klaus Honigschnabel, Pressesprecher, dem Sonntagsblatt mitteilte, hätten sich etwa 30 ehemalige Heimkinder gemeldet. Ihre Erfahrungen seien, so Honigschnabel, »durchmischt«: Die einen sagten im Rückblick, jeder Tag in einem Heim sei ein Tag zu viel gewesen, erinnerten sich mit Schaudern vor allem an die regelmäßigen Prügelstafen (etwa als einmal eine Bettnässerin zur Strafe »über den Prügelbock gezogen« wurde). Andere wiederum erinnerten sich, wie liebevoll die »Tanten« mit ihren »Schutzbefohlenen« umgegangen seien.

Für Honigschnabel steht fest: »Die Heime und ihre Erziehungsmethoden spiegeln den Zeitgeist wider, der im Nachkriegsdeutschland herrschte.« Und dazu gehörten repressive Erziehungsmethoden bis hin zu drakonischen Prügelstrafen. 1956 hatte das bayerische Kultusministerium für die Schulen den Rohrstock ausdrücklich als ein »auch in Zukunft erlaubtes Erziehungsmittel« dekretiert. Erst 1980 wurde die Prügelstrafe auch in Bayern offiziell abgeschafft.

Bei den beiden großen diakonischen Trägern Neuendettelsau und Rummelsberg, die beide Jugendhilfeeinrichtungen in der Nachkriegszeit unterhielten, hat sich bisher, nach Auskunft von deren Sprechern, noch kein ehemaliges Heimkind gemeldet. Es liegt dem Archiv der Diakonie Neuendettelsau lediglich ein Schreiben einer ehemaligen »Hilfsschülerin«, so die frühere Bezeichnung, vor, die über das Zusammenleben in der Gemeinschaft des damaligen Heilerziehungsheims Neuendettelsau berichtet. Darin ist von den damals üblichen »Höhen und Tiefen aus dem Leben eines Heimkindes« die Rede, jedoch nicht von Misshandlungen.

Wo aber lebte nun Sonja Djurovic, die von einem Heim in Franken sprach? Sie lebte im Mädchenheim »Ruth«, das das Diakonissen-Mutterhaus Hensoltshöhe in Neuenmarkt-Wirsberg in Oberfranken führte (heute wird es nicht mehr als Mädchenheim betrieben). Sonja Djurovic hat von sich aus auch schon Kontakt mit der Einrichtung gesucht. Der Rektor der Hensoltshöhe, Eberhard Hahn, der seit letztem Jahr im Amt ist, entschuldigte sich in einem persönlichen Gespräch bei Sonja Djurovic für das ihr in diesem Heim widerfahrene Unrecht. Jetzt geht es darum, das Geschehene auch möglichst aktenkundig zu machen. Man sucht Unterlagen, die die Erziehungs- und in diesem Falle auch Arbeitsmethoden der damaligen Zeit dokumentieren.
»Ich bin hier nicht als Bittstellerin, sondern ich verlange im Namen aller ehemaligen Heimkinder eine angemessene Entschädigung als Wiedergutmachung für das an uns begangene Unrecht!«, sagte Sonja Djurovic letzte Woche am runden Tisch im Bundestag. Hans-Siegfried Wiegand, Vorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder, erwartet nun »zwei äußerst spannende Jahre am runden Tisch«.
Das hatte Wichern nicht gewollt

»Die Kirchen müssen sich entschuldigen, wir Opfer wollen vor allem Genugtuung«, fordert ein Sprecher des Vereins. Die Kirchen müssten das Geschehene aufarbeiten, den Opfern psychologische und therapeutische Hilfe bieten, aber auch finanzielle Entschädigung gewähren. Auch finanziell machen sich die Jahre im Heim schmerzhaft bemerkbar. So ist in jedem konkreten Fall (also auch dem Sonja Durovics) zu klären, ob »Ehemalige« eine niedrige Rente bekommen, da die Heimbetreiber keine Sozialversicherungsbeiträge abführten, obwohl die Jugendlichen ja gearbeitet haben. - Für unsere Gesellschaft ist der runde Tisch schließlich deshalb von Belang, weil er uns vor Augen führt, welche brutale Pädagogik in der Nachkriegszeit gepflegt, nein: praktiziert und mit Gewalt den Kindern und jungen Leuten damals buchstäblich eingeprügelt wurde.

Für die Kirchen, seinerzeit die Träger in der Mehrheit der Einrichtungen, ist es wichtig herauszufinden, ob in den Heimen der Diakonie Kinder nur gelegentlich (was auch schon zu viel wäre) oder sozusagen systematisch geschlagen, unterdrückt, als Arbeitssklaven missbraucht wurden. Jedenfalls hätte man dann Diakonievater Johann Hinrich Wichern, der zehnmal mehr von Freiheit als von Strafe gesprochen hatte, gründlich missverstanden. Es heißt: Liebe statt Hiebe - und nicht umgekehrt.

Lutz Taubert / Benjamin Lassiwe - © 1998-2009 Sonntagsblatt - Evangelische Wochenzeitung für Bayern - www.sonntagsblatt-bayern.de

08.03.2009
Sonntagsblatt
Ausgabe 10/2009 vom

»Wir sind kein Tribunal«

Interview mit Antje Vollmer zum runden Tisch zur Heimerziehung

Das Schicksal ehemaliger Heimkinder hat in den letzten Jahren Deutschland bewegt. Betroffene berichten von Zwangsarbeit und Misshandlungen, Medien griffen ihre Darstellungen auf. Nicht viel geschah. Jetzt wurde im Deutschen Bundestag ein runder Tisch zur Situation der ehemaligen Heimkinder eingerichtet. In dieser Woche nahm er unter Leitung der ehemaligen Bun-destagsvizepräsidentin Antje Vollmer seine Arbeit auf.


Sitzen nun am runden Tisch, der das dunkle Kapitel der Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland aufhellen soll: die ehemaligen Heimkinder Hans-Siegfried Wiegand und Sonja Djurovic neben der Grünen-Politikerin Antje Vollmer, die die Kommission moderiert.
Frau Vollmer, mit welchem Ziel hat der runde Tisch für die ehemaligen Heimkinder seine Arbeit aufgenommen?

Vollmer: Unser runder Tisch ist etwas völlig Neues: Wir sind kein Tribunal, das ein Urteil finden soll, und keine Enquete-Kommission, die der Bundesregierung verbindliche Aufträge geben kann. Bei uns sollen alle an der Wahrheitsfindung beteiligt und zum Suchen einer Lösung mit verpflichtet werden. Und am Ende steht dann hoffentlich ein Konsens in der Bewertung der Heimerziehung in den 50er- bis 70er-Jahren, auf den sich alle Beteiligten einlassen können.

Dennoch stehen auch Forderungen nach Entschädigung im Raum?

Vollmer: Wir haben uns auf die Formel geeinigt, das zunächst einmal nicht auszuschließen, aber auch nicht zuzusagen. Uns geht es um die Aufarbeitung der Vergangenheit - wenn man da als Erstes mit Entschädigungen anfängt, gibt es gleich Blockaden, und es kann sein, dass man am Ende nicht zu einem von allen getragenen Ergebnis kommt.

Waren denn alle Kinderheime in den 50er- und 60er- Jahre Orte von Menschenrechtsverletzungen?

Vollmer: Darüber möchte ich zu Beginn unserer Arbeit eigentlich noch keine sichere Aussage treffen. Nur so viel: Es scheint einen erschreckenden gesellschaftlichen Konsens gegeben zu haben, Kinder, die oft nur ein wenig mit den gesellschaftlichen Normen in Konflikt geraten waren, in geschlossene Systeme von Jugendamt, Heimträgern und Gerichten zu geben, wo sie oft ein traumatisches Schicksal erlitten haben. Und was wir schon jetzt sicher sagen können, ist, dass das keine Einzelfälle waren. Deswegen ist es wichtig, dass neben den Heimkindern und den Nachfolgern der Trägerorganisationen auch Vertreter der Gerichte und der Jugendämter mit am runden Tisch sitzen.

Wie bewältigen Sie denn die beim runden Tisch aufkommenden Emotionen?

Vollmer: Ich hoffe auf Verständnis und Mitgefühl aller Beteiligten und setze auf das Bemühen, die Dinge richtig in ihrem Zusammenhang zu sehen. Es gibt natürlich viele Vorurteile, auf allen Seiten. So etwas müssen wir genauso abbauen, wie wir das Leid der damals Betroffenen nicht übersehen dürfen.
Fragen: Benjamin Lassiwe

© 1998-2009 Sonntagsblatt

5. März 2009
Radio Vatikan
Im Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz,

Erzbischof Dr. Robert Zollitsch,
anlässlich der Pressekonferenz zum
Abschluss der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz
am 5. März 2009 in Hamburg zum Thema

Ehemalige Heimkinder unter:

X.     Caritas

Ehemalige Heimkinder – aktuelle Entwicklungen
Die Deutsche Bischofskonferenz begrüßt die Einrichtung eines Runden Tisches, der sich unter Vorsitz von Bundestagsvizepräsidentin a. D. Dr. Antje Vollmer mit der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren auseinandersetzt. Die Deutsche Bischofskonferenz ist selbst kein Träger von Einrichtungen der Heimfürsorge, weder damals noch heute. Allerdings hat sie ein großes Interesse an mehr Gewissheit über die Situation in diesen Einrichtungen in der Nachkriegszeit insgesamt, auch was die Einrichtungen in katholischer Trägerschaft betrifft. Es gibt berechtigte Erwartungen an katholische Einrichtungen, besonders wenn sie für Kinder und Jugendliche da sind. Deshalb bedauert es die Deutsche Bischofskonferenz zutiefst, dass offenbar auch in katholischen Heimen Kindern und Jugendlichen in den 50er und 60er Jahren Unrecht und schweres Leid widerfahren ist. Ihnen gilt unser uneingeschränktes Mitgefühl. Zweifellos stehen auch die katholischen Träger in der Verantwortung für die Menschen, die ihren Einrichtungen – aus welchen Gründen auch immer – für eine gewisse Zeit anvertraut worden sind. Nach jetzigem Kenntnisstand ist die Zahl der problematischen Fälle im kirchlichen Bereich gering. In katholischen Heimen der Kinder- und Jugendhilfe wurde Gewalt nicht grundsätzlich eingesetzt.


17. Februar 2009
Spiegel-Online
UNRECHT GEGEN HEIMKINDER
"Ich bin hier nicht als Bittstellerin"

Von Peter Wensierski

Eingesperrt, misshandelt, gedemütigt: Mehr als eine halbe Million Kinder litten in Westdeutschland in kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen. Jetzt soll eine Kommission das Geschehen aufarbeiten. Streit um Wiedergutmachungszahlungen lässt sich dabei kaum ausklammern.
Berlin - "Mein ganzes Leben schämte ich mich, im Heim gewesen zu sein, ich glaubte, ich sei gekennzeichnet und jeder würde es sofort merken." Als Sonja Djurovic, 59, davon sprach, was es heute noch für sie bedeutet, ein Heimkind gewesen zu sein, wurde es ganz still im Saal 1001 des Deutschen Bundestages.

Dort, wo jetzt erstmals eine Art "Wahrheitskommission" zusammenkam, wie es deren Leiterin Antje Vollmer nannte: ein nationaler Runder Tisch, der die Schicksale von Betroffenen aufarbeiten und historisch einordnen soll. Auch ehemalige Erzieher sollen gehört werden. Doch am Dienstag hatten zunächst die Opfer der deutschen Erziehung im Namen von Zucht und Ordnung das Wort.
"Ich bin hier nicht als Bittstellerin, sondern ich verlange im Namen aller ehemaligen Heimkinder eine angemessene Entschädigung als Wiedergutmachung für das an uns begangene Unrecht!", bekräftigte Sonja Djurovic, eine zierliche Frau, die ab 1964 in einem evangelischen Heim in Franken weggesperrt worden war - mehr als vier Jahre lang. Einziger Grund: Ein Freund der Familie hatte versucht, das damals 14-jährige Mädchen zu vergewaltigen. Der Mann kam frei - Sonja ins Erziehungsheim.
"Man hat uns verachtet und uns das auch spüren lassen"
Sonja und die anderen Mädchen mussten in der Landwirtschaft, in der Wäscherei und Näherei hart arbeiten - ohne Lohn. "Wir hatten absolut keine Bildungschancen, die Menschenrechte galten nicht mehr: Briefe wurden zensiert, es gab unmenschliche Strafen, die an Folter grenzten, bei geringsten Vergehen wurde man zusätzlich eingesperrt." Sonja wurde depressiv, weil sie mehr und mehr glaubte, sie selbst trage die Schuld an allem. An ihrem 21. Geburtstag stürzte sie sich aus einem Fenster. Sie überlebte, nach wochenlangem Koma.
"Man hat uns verachtet und uns das auch spüren lassen, alles im Namen einer christlichen Erziehung. Bei vielen Zehntausenden in Deutschland hat das bis heute schwerste Schäden hinterlassen", so Djurovic.
Am Runden Tisch sitzen Vertreter von Caritas und Diakonie, Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Bischofskonferenz - und wirken nach diesem Appell sichtlich betroffen.
Die katholischen Orden, die bis in die neunziger Jahre viele der westdeutschen Erziehungsheime betrieben haben, mochten nicht direkt dabei sein am Runden Tisch. Dabei treffen ihre Häuser mit den oft wohlklingenden Namen wie "Zum guten Hirten", "Mädchenheim Vincenzhaus" oder "Marienheim" oft die schwersten Vorwürfe bis hin zu zahlreichen Berichten über sexuellen Missbrauch.
Der Runde Tisch unter der Leitung Antje Vollmers wurde auf Empfehlung des Petitionsausschusses des Bundestags eingerichtet. Er soll zwei Jahre lang das Unrecht aufarbeiten, das Kinder zwischen den fünfziger und siebziger Jahren in Heimen der Bundesrepublik erdulden mussten. Auslöser war das 2006 erschienene SPIEGEL-Buch "Schläge im Namen des Herrn", in dem erstmals über das Schicksal ehemaliger Heimkinder berichtet wurde.
"Gewalt war nicht grundsätzlich an der Tagesordnung"
In diesem und im nächsten Jahr sind insgesamt zehn Sitzungen geplant, ein Abschlussbericht soll 2010 vorliegen. Ab sofort wird auch eine telefonisch erreichbare Anlaufstelle für Heimkinder geschaffen.
Zu Beginn des Runden Tisches hielt Vollmer selbst Entschädigungen nicht für ausgeschlossen. Es müsse aber nun "ergebnisoffen" beraten werden. "Wer mitdiskutiert, ist am Ende auch für das Ergebnis mitverantwortlich." Zum jetzigen Zeitpunkt sei jedoch "nichts garantiert", sagte die Vorsitzende des Runden Tisches und ehemalige Bundestagsvizepräsidentin.
Die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche bedauerten in kurzen Statements das Leid der Betroffenen. "Vielleicht kann auch Versöhnung am Ende gelingen", meinte Hans Ulrich Anke von der EKD. "Kinder wurden Opfer von Misshandlung und Ausbeutung. Sie waren einer übelsten Erziehung ausgeliefert. Es tut uns unendlich leid", man werde sich auch Entschädigungsfragen nicht von vorneherein verschließen.
Der Vertreter, den die katholische Bischofskonferenz aus ihrer Bonner Zentrale geschickt hatte, Johannes Stücker-Brüning, war weitaus zurückhaltender. Die deutschen Bischöfe "bedauern es auch, dass Kindern und Jugendlichen Leid zugefügt" worden sei, sagte er zunächst.
Die Bischofskonferenz habe aber "großes Interesse an mehr Gewissheit über diese Einrichtungen". Dann ließ Stücker-Brüning die Katze aus dem Sack: Eine von ihnen gemachte "Sachstandserhebung" habe ergeben, dass "Gewalt nicht grundsätzlich in katholischen Heimen an der Tagesordnung war."
Diese erste Ausarbeitung sei jedoch nur regional erfolgt und daher nicht wirklich aussagekräftig, sie wurde auch nicht publiziert. Daher habe man nun an der Universität Bochum ein neues Forschungsprojekt mitfinanziert.
"In massiver Form Rechte von Kindern verletzt"
Diese Auftragsforschung soll nun also offenbar der weiteren Entlastung dienen. Große Bereitschaft der Katholiken, auch finanziell für eine Wiedergutmachung der Schäden der ihnen einst anvertrauten Menschen heute aufzukommen, signalisierten seine Ausführungen jedenfalls nicht. Aber immerhin, so schloss Stücker-Brüning: "Wir beteiligen uns an der ergebnisoffenen Diskussion dieser kleinen Wahrheitskommission".
Andere Experten am Runden Tisch, die sich zum Versagen der Jugendhilfe und ihrer eigenen Verantwortung bereitwilliger stellen, äußerten sich weitaus klarer.
Der Vorsitzende des Deutschen Institutes für Jugendhilfe und Familienrecht in Heidelberg, Thomas Mörsberger, bekannte: "Erschreckend ist die Erkenntnis, dass auch zu einer Zeit, als sich die Bundesrepublik schon als freiheitlicher demokratischer Rechtsstaat verstanden hat, in massiver Form elementare Rechte von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der Jugendhilfe verletzt worden sind."
Hans-Siegfried Wiegand, Vorsitzender des Vereins ehemaliger Heimkinder, erwartet nun "zwei äußerst spannende Jahre am Runden Tisch".
Für ihn waren die Äußerungen der hannoverschen Bischöfin Margot Käßmann wohltuend, die gesagt hatte, sie schäme sich dafür, dass in den kirchlichen Einrichtungen der Willen der Kinder gebrochen worden ist. "Damit hat sie eine Brücke zu uns geschlagen." Aber nur, fügt er hinzu, "nur, wenn beide Kirchen eine Brücke zu uns schlagen, kann dieser Runde Tisch zu einem guten Ergebnis führen."

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12.02.2009
Stuttgarter Zeitung
Heimerziehung in den 50er Jahren
Streng geregelte Kindheit

Ludwigsburg - Einsamkeit ist das bestimmende Gefühl ihrer Kindheit gewesen: Annelen Schünemann und Adelheid Schweigert wuchsen in den 50er und 60er Jahren im Heim auf. Die Ludwigsburger Karlshöhe stellt sich dieser Vergangenheit.

In der Kirche fühlt sich Annelen Schünemann am wohlsten. Der große Raum bietet Platz für Träume. Schon als Mädchen ging sie gerne in den Gottesdienst. Dort konnte sie ihren Gedanken nachhängen. Hinter dem Altar stand früher ein schlichtes Holzkreuz, das hat sie fixiert, und es hat ihr Kraft gegeben. "Ich bin eigentlich kein tief religiöser Mensch", sagt Annelen Schünemann. Aber die Kirche auf der Karlshöhe gab ihr ein Gefühl von Heimat. Jeden Morgen lief sie mit den anderen Kindern in Zweierreihen von dem roten Backsteinhaus, das damals das Mädchenhaus war, zur Andacht. Die heute 61-Jährige verbrachte ihre Kindheit im Heim, von 1960 bis 1963 in der diakonischen Einrichtung in Ludwigsburg.

"Die Förderung des Einzelnen ist der Zweck der hiesigen Anstalt", wurde 1876 zur Gründung des Kinderheims Karlshöhe geschrieben. "Seelische Isolation und emotionale Armut", so fasst Annelen Schünemann ihre Erfahrungen zusammen. Zwei Erwachsene kümmerten sich damals um 20 Kinder. Erziehung bedeutete vor allem, dass streng über die Regeln gewacht wurde. "Wenn einer aus der Reihe tanzte, gab es Strafen, auch mal eine Ohrfeige", erzählt Annelen Schünemann. Sie trugen Anstaltskleidung. In dem dunkelgrauen Kleid mit Schürze hat sie sich geschämt. Mauern grenzten die Anlage ein, die Kinder gingen auf die Heimschule, die genau zwischen Mädchen- und Bubenhaus stand. Zeit und Raum zum Spielen gab es kaum.

Als Dreijährige ins Heim gebracht

"Ich gehe nur kurz weg", hatte ihre Mutter gesagt, als sie ihre Kinder in einem Heim bei Calw ablieferte. Annelen Schünemann war damals drei Jahre alt, sie hatte noch einen älteren Bruder, aber keinen Vater. Der Mann war zu seiner totgeglaubten Familie zurückgekehrt. Und die Mutter musste arbeiten. "Ich hole euch bald aus dem Heim", sagte sie bei ihren Besuchen.

Aber sie kam immer seltener. Ihre Tochter konnte kaum noch etwas essen, wurde Bettnässerin, träumte von Teufeln. Ihre Ängste konnte sie niemandem erzählen. "Man lebte nebeneinander und nicht miteinander", sagt sie. Als Annelen Schünemann zwölf Jahre alt war, hatte sie sieben Geschwister, die von fünf Vätern stammten. Da war ihr klar, dass sie nie nach Hause geholt würde.

Erst jetzt hat Annelen Schünemann alles aufgeschrieben. "Heim-Weh" taufte sie ihr Buch, das sie auf eigene Kosten drucken ließ und das im August erschienen ist. "Nach einem halben Leben kann man die Vergangenheit aus einem anderen Blickwinkel betrachten", sagt sie. Früher hätte sie mit niemandem darüber reden können. Ihre Heimkindheit war ein Makel, ihr Selbstbewusstsein nicht vorhanden, die Minderwertigkeitskomplexe dafür groß. Wie ihr erging es vielen. Der bundesweit tätige Verein ehemaliger Heimkinder hat sich auch erst 2004 gegründet. Im Verbund versuchen die Betroffenen, eine Entschädigung zu erkämpfen.

Regelmäßige Heimattage

Sie haben teilweise viel Schlimmeres als Annelen Schünemann erlebt: In manchen Erziehungsheimen sind die Kinder in Isolationshaft gesteckt, sexuell missbraucht, durch Zwangsarbeit geknechtet worden. Sein Anliegen brachte der Verein vor den Petitionsausschuss des Bundestages. Am 17. Februar trifft sich nun zum ersten Mal eine Gruppe zum Runden Tisch, an dem die ehemaligen Heimkinder mit den Trägern, mit Vertretern des Bundes, der Länder und der Kirchen diese Vergangenheit aufklären sollen.

Die Karlshöhe hat ihren ehemaligen Kindern im Gegensatz zu anderen Einrichtungen schon früh regelmäßige Heimattage geboten. "Bei den Treffen stellte ich fest, dass ich mit meinen Problemen nicht alleine bin", erzählt Adelheid Schweigert. Seit 1987 kümmert sie sich deshalb um die Ehemaligenarbeit und organisiert alle drei Jahre eine Zusammenkunft. 2007 ist zusätzlich eine Projektgruppe zur Kinderheimerziehung in den 50er und 60er Jahren gegründet worden. Ihr gehören auch ehemalige Mitarbeiter, der jetzige Leiter der Kinder- und Jugendhilfe, Hans Fischer, der Öffentlichkeitsreferent Jörg Conzelmann sowie Frieder Grau, der theologische Leiter der Karlshöhe, an. Zwei Diplomarbeiten zur Vergangenheit sind seither entstanden, und im September gab es einen Tag der Begegnung von ehemaligen Heimkindern und Erziehern.

Zu dem Anlass hatte das Archiv der evangelischen Landeskirche den Betroffenen ermöglicht, in ihre Kinderakten zu schauen. "Dabei sind noch einmal viele Gefühle aufgebrochen", erzählt Jörg Conzelmann. Manche entdeckten Briefe ihrer Eltern, die sie nie bekommen haben. Diese Praxis sollte großes Heimweh verhindern. "Immer unfreundlich, immer frech", lauteten typische Einträge. "Das Aktenstudium war für viele ein bewegender Moment", sagt Conzelmann. Der Dienst zweier Psychologen sei danach rege in Anspruch genommen worden.

Kein Platz für persönliche Dinge

Am Samstag steht ein Tag der Erinnerung an. In der "Karlshöher Erklärung" wird die diakonische Einrichtung ihre Ehemaligen "ausdrücklich um Verzeihung bitten für erlittene Verletzungen und eine Erziehungspraxis, die aus heutiger Sicht erschütternd ist".

Wenn sich Adelheid Schweigert die Bilder aus ihrer Kindheit ansieht, schaut sie in traurige, wütende Augen. In ihren Fotoalben kleben hauptsächlich Gruppenfotos. "Einer der Erzieher war Hobbyfotograf, sonst hätten wir gar keine Bilder", sagt sie. Für persönliche Dinge habe es auf der Karlshöhe keinen Platz gegeben, jedes Kind musste seine Habseligkeiten in einem offenen Regal verstauen. Ihre zwei Puppen, Gertrud und Loretta, waren irgendwann weg. Und als Adelheid Schweigert eines Abends an ihren Schlafplatz zurückkehrte, war ihr Tagebuch aufgeschnitten. Die Erzieherin hatte es gelesen. "Ich bin bei ihr nur angeeckt", erinnert sie sich.

Adelheid Schweigert ist 1953 in Dülken an der holländischen Grenze geboren. Ihre Großeltern kümmerten sich um sie, den Opa liebte sie innig. Mutter und Vater, ein Eisenbahner, zogen nach Kornwestheim. Als die Oma krank am Herzen wurde, schickte sie die Enkelin im Sommer 1962 nach. Das Mädchen hatte keine Ahnung, dass sie nicht zurückkommen würde. Am nächsten Tag brachte ihre Mutter die Neunjährige auf die Karlshöhe. Sie war mittlerweile geschieden, musste arbeiten. "Ich hab doch nichts", sagte sie nur. "Ein Jahr, höchstens zwei", bettelte das Kind. Es wurden sieben. Am schlimmsten war, dass sie nirgends weinen konnte. Damit musste sie warten bis abends unter der Bettdecke.

Aufklärung war tabu

Ihre erste Erzieherin versuchte zwar, das Zusammenleben familiär zu gestalten. "Aber sie konnte ihre Liebe nicht auf 18 Kinder verteilen", sagt die 56-Jährige. Dann kam eine neue, genau während der Pubertät. Und für die neue Erzieherin war Pubertät eine Krankheit. Das Kind sei scheinheilig, schrieb die Erzieherin in ihre Akte, und verkommen. Das Mädchen wurde nicht aufgeklärt, das Thema war in der prüden Anstalt tabu. Adelheid Schweigert empfand das Heim als Gefängnis. Sie musste die jüngeren Kinder hüten, in der Küche und auf dem Feld helfen, immer dienstags nähen. Alle Kleider bekamen Namensschilder. Auf ihrem stand: Adelheid Peper, Nr. 75. "Wir waren Nummern", sagt sie.

Adelheid Schweigert durfte 1969 wieder zu ihrer Mutter, die sie in die Fabrik zum Arbeiten schickte. Zwei Jahre später wurde sie schwanger. Ihr Sohn kam in eine Pflegefamilie. "Jetzt holen wir das Kind da nicht mehr raus", bestimmte das Jugendamt, als sie mit 21 volljährig wurde und den Jungen nehmen wollte. Sie fühlte sich jahrelang fremdbestimmt, stets mit dem Stigma Heimkind behaftet. Erst nach ihrem 40. Geburtstag hat sie sich mit ihren Erlebnissen auseinandersetzen können. Die Ehemaligenarbeit sieht sie nun als Lebensaufgabe an. "Wir haben dieselbe Geschichte, dadurch entsteht eine Verbundenheit", sagt Adelheid Schweigert. Sie hegt keinen Groll, nicht gegen die Karlshöhe, nicht gegen die Mutter. "Die Mutti war 16, als der Krieg aus war, sie hatte auch keine Kindheit."

Das Holzkreuz sei ihr Bezugspunkt gewesen, sagt Annelen Schünemann in der Kirche auf der Karlshöhe. "Die Familie war es ja schon lange nicht mehr." Ihre Geschwister hätten es nicht besser gehabt, und ihre Mutter, 1919 geboren, sowieso nicht. Nach ihrer Entlassung litt sie in Träumen sogar unter Heimweh. Annelen Schünemann zeigt in der Kirche auf ein Glasfenster. Das hat ihr besonders gefallen, weil es so bunt sind. Dort steht: "Was ihr getan habt, das habt ihr mir getan."
 
Kathrin Haasis

10.02.2009
Saarbrücker Zeitung:
Runder Tisch zum Schicksal der Heimkinder startet am nächsten Dienstag

Berlin / Saarbrücken (ots) - Nach heftigen Querelen im Vorfeld tritt am nächsten Dienstag (17.2.) im Bundestag erstmals der "Runde Tisch Heimkinder" zusammen. Er soll das Schicksal von Hunderttausenden klären, die als Minderjährige in den 50er und 60er Jahren in Erziehungsheimen der alten Bundesrepublik oft erheblichen Schikanen und Misshandlungen ausgesetzt waren. Der Parlamentarische Staatssekretär im Familienministerium, Hermann Kues (CDU), sagte der "Saarbrücker Zeitung" (Mittwochausgabe), es sei ein "Durchbruch", dass das Thema Heimkinder erstmals auf diese Art und Weise angegangen werde. "Der Runde Tisch ist mit vielen Hoffnungen aller Beteiligten verbunden, dass jetzt ein dunkles Kapitel aufgehellt wird". An dem Runden Tisch sollen 20 Personen teilnehmen, darunter drei Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder und je ein Vertreter der großen Kirchen sowie von Caritas und Diakonie, die Träger vieler Heime waren. Geleitet wird der Runde Tisch von der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). Der Runde Tisch war vom Petitionsausschuss des Bundestages aufgrund vieler Eingaben Betroffener beschlossen worden. Eine derartige Einrichtung hat es im Bundestag zuvor noch nicht gegeben. In den letzten Wochen gab es jedoch Auseinandersetzungen zwischen Bund und Ländern, die das Projekt zu gefährden drohten. Erst am Montagabend wurde eine Einigung erzielt. Nun soll die Arbeitgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) die Arbeit organisieren. Sie soll auch eine Anlaufstelle für alle Betroffenen anbieten, die ihr Schicksal darstellen wollen. Als besonders heikel bei der Arbeit des Runden Tisches gilt die Frage, ob die ehemaligen Heimkinder einen Anspruch auf Entschädigung für das ihnen zugefügte Unrecht haben und wer dafür gerade stehen müsste.
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Saarbrücker Zeitung
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04.02.2009 
taz.de
Missbrauch im Heim
Herr Focke will Wiedergutmachung

Als Jugendlicher wurde Wolfgang Focke in evangelischen Kinderheimen zur Arbeit gezwungen, verprügelt und sexuell missbraucht. Jetzt kämpft der Rentner für eine Entschädigung VON MARLENE HALSER

Wolfgang Focke hat nicht viel Zeit. Knapp sieben Stunden verbringt er in Berlin. Vier davon sind schon verstrichen. Seine Unterredung mit der Politikerin hat er bereits hinter sich. Heute Morgen um kurz vor acht ist er im niedersächsischem Bad Pyrmont in den Zug gestiegen. Hat seine grüne Pappmappe mit den gesammelten Akten in die Tragetasche gepackt und ist losgefahren. 103 Euro hat er für die Fahrkarte nach Berlin bezahlt, das ist ein Drittel seiner Rente. Trotzdem hat er sich auf den Weg gemacht. Morgens hin, abends zurück. Schließlich geht es in der Hauptstadt um ihn. Um das Leben des Rentners Wolfgang Focke, der einst ein Heimkind war. Ein Leben, das symptomatisch ist für das Schicksal tausender Jugendlicher, die in einem Erziehungsheim aufgewachsen sind. Damals im Westdeutschland der Nachkriegszeit.

Klamm ist es und ein wenig neblig im Regierungsviertel von Berlin. Als Wolfgang Focke zwischen die dicken Säulen vor dem Eingang des Abgeordnetenhauses tritt, schimpft er: "Scheiße war das da drin". Er will schleunigst weg. Das Gespräch mit Antje Vollmer, der Grünen-Politikerin und ehemaligen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, hat ihn nicht glücklich gemacht. "Klipp und klar" hatte er wissen wollen, was ehemalige Heimkinder wie er in Berlin erreichen können. Eine befriedigende Antwort bekam er nicht. Schuld daran ist nicht Antje Vollmer, sondern das demokratische System, in dem Entscheidungen von Zustimmung abhängen und deshalb lange Zeit brauchen. Wolfgang Focke dauert das zu lange, denn er hat es eilig. Der 62-Jährige will die letzten Jahre seines Lebens nicht in Armut verbringen. Deshalb nennt er beim Namen, wem er die Schuld an seinem Leben gibt: Das evangelische Diakonische Werk, das vier der fünf Kinderheime betrieb, in die man ihn brachte. Das Landesjugendamt Münster, unter dessen Aufsicht eine weitere seiner Leidensstationen stand. Und den Staat, weil der ihm heute keine Rente für seine damals geleistete Arbeit zahlt. Wolfgang Focke fordert Wiedergutmachung: Für die schwere körperliche Arbeit, die er in den Heimen leisten musste und für die er nie bezahlt wurde. Für die Schläge und die drakonischen Strafen, die er vom kirchlichen Heimpersonal bekam. Und für die sexuellen Übergriffe der älteren Zöglinge und des Diakons, die er schutzlos über sich ergehen lassen musste, ohne jemanden um Hilfe bitten zu können.
Ein runder Tisch mit Vertretern aus Politik und Wissenschaft, den Organisationen, die die Heime betrieben, und Betroffenen soll bald klären, was Wolfgang Focke wirklich zusteht. Dort soll das Gemisch aus Interessen der Opfer und Heimverwalter, des Bundes und der Länder entwirrt werden. Eine Ahnung davon, wie viel Zeit und Worte dieses Verfahren kosten könnte, hat Wolfgang Focke, der Ungeduldige, heute schon bekommen. Viel geredet habe man, viel zu viel für Wolfgang Fockes Geschmack. "Ich will Taten sehen", sagt er und stapft über den knirschenden Rollsplitt.
In einem Café auf dem Weg zwischen dem Abgeordnetenhaus und dem Berliner Hauptbahnhof wärmt sich Wolfgang Focke wenig später die Hände an einer Tasse schwarzen Kaffee: "Schwarz wie die Seele", scherzt er und grinst so breit, dass von seinen Augen nur schmale Striche übrig bleiben. Scherze macht er an diesem Nachmittag viele. Er nennt das "sein zweites Leben": "Damit niemand sieht, wie es wirklich in mir aussieht."
In seinem ersten Leben gab es für Wolfgang Focke nichts zu lachen: Geboren wurde er 1946 im nordrheinwestfälischen Lage-Lippe. Als uneheliches Kind von einem britischen Besatzer schickt ihn seine Mutter mit drei Jahren zum ersten Mal ins Heim. Über seinen leiblichen Vater weiß er nichts. Mit sieben darf er wieder nach Hause. Seine Mutter hat inzwischen geheiratet. Nach einigen Jahren schlägt ihn der Stiefvater krankenhausreif. Seine Großmutter informiert das Jugendamt. Ende der Fünfzigerjahre kommt Wolfgang Focke wieder ins Heim. Da ist er dreizehn. Die Tortur beginnt: "Die haben mich eingesperrt und geschlagen, gequält und missbraucht", sagt Focke. Er erzählt fließend, muss nicht nachdenken. Er hat sie detailgenau verinnerlicht, seine Geschichte, so oft hat er sie schon erzählt. Das muss er auch, denn Schreiben und Lesen hat er im Heim trotz Schule nicht gelernt.
Zwischen zehn und zwölf Stunden täglich muss er während seiner Heimzeit arbeiten. Zuerst auf einem anstaltseigenen Bauernhof, später verleihen ihn die Heime an eine Fleischfabrik. Dort schrubbt er das Blut der geschlachteten Tiere von den Wänden der Tötungsbuchten. Später kommt er wieder zu einem Bauern, arbeitet auf dem Feld und im Steinbruch. Es folgen eine Margarinefabrik, die Hauhaltsgerätefirma Miele und die Lampenfabrik Hella, wo er am Fließband die Heckleuchten für den VW-Käfer montiert. Lohn bekommt er keinen. Nie. Dass die Heimbetreiber an ihm verdienten, kann Focke nur vermuten. "Immer wieder bin ich abgehauen", erinnert sich Focke. "Wenn sie mich dann aufgegriffen haben, gabs wieder Schläge, und ich kam in die Besinnungszelle." Das bedeutete Einzelhaft. Statt des üblichen Essens gab es Muckefuck und Brot.
Am schlimmsten aber waren für Wolfang Focke die intimen Übergriffe. Sowohl die älteren Jungs als auch das Personal haben ihn sexuell missbraucht. Immer wieder. Wenn er davon berichtet, muss er langsam sprechen, sonst kommen ihm die Tränen. "Wenn dir ein Diakon an der Pfeife rumspielt, dann steht sie. So einfach ist das", sagt er. "Hinterher kommt das schlechte Gewissen, weil man das nicht wollte." Focke nimmt einen großen Schluck von seinem Kaffee. "Cest la vie", sagt er, "so ist das Leben."
1964 wird Wolfgang Focke volljährig. Die Heimzeit ist vorbei. Seine Leiden sind es nicht. Bei der letzten Flucht aus dem Erziehungsheim stiehlt er ein Fahrrad und ein Moped. Obwohl er bis dahin noch keine Vorstrafen hat, verurteilt ihn der Richter zu zwei Jahren und neun Monaten Haft ohne Bewährung. Wolfgang Focke hallt die Stimme des Staatsanwalts bei der Beantragung des Strafmaßes noch heute im Ohr: "Er hat sich die langen Jahre im Heim nicht zur Warnung dienen lassen", sagte dieser. "Deshalb muss er die volle Härte des Gesetzes spüren." Kurz darauf fällt die Gefängnistür hinter ihm ins Schloss. Was folgt, ist eine Spirale aus Verbrechen und Sanktionen. Einen richtigen Beruf hat er nie gelernt. Immer wieder wird Wolfgang Focke entlassen, immer wieder begeht er Straftaten, immer wieder wird er verurteilt. Mit jeder Verhandlung werden die Strafen härter. Er stiehlt und betrügt. Anfang der Siebziger verkauft er seinen Körper als Stricher. Wolfgang Focke ist 25 und lebt mittlerweile in Kiel. Dann gibt ihm ein Bekannter den Tipp: "Besorg doch den Typen lieber ein Mädchen. Damit kannst du viel mehr verdienen." Wolfgang Focke wird Zuhälter. Später betrügt er einsame Damen als Heiratsschwindler um ihr Geld. Mit 41 kommt er zum letzten Mal aus dem Knast. Sein Leben in Freiheit, es währt erst gute zwanzig Jahre. Trotzdem sagt Wolfgang Focke heute: "Ich bin nicht kriminell veranlagt." Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. "Diese Lumpen haben mich zum Verbrecher gemacht, und es wird Zeit, dass sie dafür bezahlen."
In der grüne Mappe hat er alle Akten gesammelt, die es über ihn gibt. Sie zu bekommen war nicht leicht. Die Täter von damals werden nicht gern an ihre Taten erinnert. Aber Wolfgang Focke ist hartnäckig. Er setzt die Lesebrille auf und blättert in den Seiten. Das Lesen hat er in den Jahren nach der Haft noch gelernt. Schreiben kann er heute noch nicht. Er zieht mehrere Blätter aus der Mappe hervor. Ein Anwalt hat darauf seine Forderungen aufgelistet: 21.532,51 Euro will Wolfgang Focke vom Staat als Lohn für seine als Jugendlicher geleistete Arbeit. Auf eine Entschuldigung legt er keinen Wert. "Ich habe meinen Körper hingehalten, und ich will dafür bezahlt werden." Immer wieder sagt er sein Mantra an diesem Nachmittag: "Sie müssen bezahlen." Aufgeben will er nicht. "Erst wenn der da oben mich abberuft." Bei der geplanten Gesprächsrunde will Focke erreichen, dass die Taten seiner Peiniger als Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden. Er hofft, dass auf diese Weise die Verjährungsfrist für einen Anspruch auf Schadenersatz entfällt. Für dieses Ziel nimmt er viel auf sich. Und er nutzt die Medien: Schon oft hat er seine Geschichte in den letzten drei Jahren öffentlich erzählt.
Für Wolfgang Focke geht der Tag in Berlin zu Ende. Er hat sich in Rage geredet und doch nichts erreicht. Heute nicht. Unbequem will er bleiben, das hat er sich vorgenommen. "Es ist nicht leicht mit dem Herrn Focke", sagt er und lächelt kurz. Dann eilt er zum Zug.

Der Beschluss: Einstimmig und damit in seltener Einmütigkeit hat der Deutsche Bundestag im Dezember beschlossen, einen runden Tisch einzurichten, an dem die Gräueltaten, die in der westdeutschen Nachkriegszeit an Heimkindern verübt wurden, aufgearbeitet werden sollen. Ein erster Termin für den runden Tisch steht zwar noch nicht fest, ein Streit über die Details ist trotzdem schon entbrannt.
Die Diskussion: Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte in einem inoffiziellen Brief an den ehemaligen Leiter der Jugend- und Familienministerkonferenz der Länder, Jürgen Zöllner, geschrieben, "die Einrichtung eines Nationalen Entschädigungsfonds" werde "nicht angestrebt". Genau darum geht es aber - unter anderem - für die ehemaligen Heimkinder. Darüber hinaus wollte das Ministerium den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge mit der Organisation des runden Tischs betrauen. Auch das ist für die Opfer untragbar: In dem Dachverband sind ebenjene kirchlichen Organisationen zusammengeschlossen, die die überwiegende Zahl der Kinderheime betrieben. Mittlerweile hat das Ministerium Zugeständnisse gemacht: Man wolle die Verhandlungen am runden Tisch ergebnisoffen führen. Die Einrichtung eines Entschädigungsfonds liegt damit wieder im Bereich des Möglichen. Auch für die Organisation des runden Tisches sind mittlerweile andere Verbände im Gespräch.
Die Teilnehmer: Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Antje Vollmer (Grüne), soll den runden Tisch moderieren. Keine leichte Aufgabe, denn sie muss die Interessen vieler Parteien zu einer einvernehmlichen Lösung bündeln. Mit am Tisch sollen Vertreter von Bund und Ländern, die ehemaligen Heimbetreiber, also Diakonisches Werk und Caritas, unabhängige Wissenschaftler und der Verein ehemaliger Heimkinder sitzen. Dazu kommt noch Wolfgang Focke. Unabhängig vom Betroffenenverein hatte er eine eigene Petition eingereicht. Er will am runden Tisch mitreden, wenn über sein Schicksal verhandelt wird. MARLENE HALSER

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04.02.09
jungle-world.com - Archiv - 05/2009 - Inland -
Die Debatte um die Entschädigung für ehemalige Heimkinder


Immerhin wird diskutiert über die brachialen Erziehungsmethoden in Kinder- und Jugendheimen der frühen Bundesrepublik. Entschädigungen für die Betroffenen sind aber nicht vorgesehen.
von Matthias Lehnert

Dietmar Krone trug als Jugendlicher lange Haare und hörte »Negermusik«. Seine Mutter schlug ihn regelmäßig. Er suchte Zuflucht bei einem älteren Freund aus einer Kirchengruppe, weshalb er von seiner Mutter öffentlich einer homosexuellen Beziehung bezichtigt wurde. Eines Tages beging Krone einen Selbstmordversuch, kurze Zeit später wurde er in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Gequält mit Elektroschocks und vollgepumpt mit Valium, kam er schließlich in das Fürsorgeerziehungsheim nach Viersen-Süchteln in der Nähe von Mönchengladbach. Als offizieller Grund wurde »sittliche Verwahrlosung« genannt.

Er war zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt.
Es folgten über fünf Jahre der Demütigungen und der körperlichen Züchtigung. Auch sexuell misshandelt wurde Krone, von Erziehern wie von anderen Jugendlichen. Manchmal sperrte man ihn tagelang in einer Dunkelzelle ein. Als er bei der Küchenarbeit zwei Teller fallen ließ, trat ein Erzieher dermaßen auf ihn ein, dass Krone bis heute seinen linken Arm nicht mehr benutzen kann.

Kontakt zur Außenwelt hatte er so gut wie gar nicht: »Immer, wenn ich nach Post für mich fragte, wurde mir von der Heimleitung gesagt, dass sich da draußen doch eh keiner für mich interessiert«, erzählt er. Als er entlassen wurde, bekam er 50 Briefe von Freunden und Verwandten ausgehändigt, die ihm vorenthalten worden waren. Es war das Jahr 1973.

»Die Einrichtung eines &Mac221;Nationalen Entschädigungsfonds&Mac220; wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt«, schreibt Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) in einem Brief an den Berliner Bildungssenator kurz und bündig. Hans-
Siegfried Wiegand, der Vorsitzende des Vereins für ehemalige Heimkinder, vermutet, dass die Bundesregierung angesichts der Vielzahl von Menschen, die das Schicksal Krones teilten, die Kosten für Entschädigungen scheut.
Von 1945 bis in die siebziger Jahre waren in Westdeutschland 800 000 Kinder und Jugendliche in ungefähr 3 000 Kinder- und Fürsorgeerziehungsheimen eingesperrt. Die Mehrzahl von diesen wurde von den beiden konfessionellen Verbänden Caritas und Diakonie geführt. Anlass für zahlreiche Einweisungen war, wie bei Dietmar Krone, der gesetzliche Begriff der »Verwahrlosung«.

Dies betraf vor allem uneheliche Kinder. Weitere Indizien waren ein nicht konformes Äußeres oder »sexuelle Auffälligkeiten«, sprich Sex vor der Ehe – also alles, was der reaktionären Moralvorstellung in den Wirtschaftswunderjahren der BRD widersprach.

Manfred Kappeler, emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der FU Berlin, bezeichnet die Fürsorgeanstalten als »totale Institutionen«: »Die oberste Maxime war absoluter Gehorsam, die Betroffenen waren 24 Stunden am Tag fremdbestimmt.«
Drastische Fälle werden von den Verbänden noch immer als Ausnahmen bezeichnet. Dem widerspricht Kappeler: »Die Ausnahme war es vielmehr, wenn Erzieher vom Zwangssystem abwichen.«

Für viele der Betroffenen ist es schwer, überhaupt über ihre Erfahrungen zu reden. Wiegand vom Verein für ehemalige Heimkinder berichtet, dass einige Leidensgenossen selbst den eigenen Lebenspartnern ihre Vergangenheit verschweigen: »Wenn ein Kind von der eigenen Familie ausgestoßen und dann außerdem in einem Heim schlecht behandelt wird, dann wird sich das Kind vielleicht selbst sagen, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist, und beginnen, sich für sich zu schämen.« Einer der entscheidenden Auslöser für die öffentliche Diskussion war im Jahr 2006 das Buch »Schläge im Namen des Herrn« des Spiegel-
Autors Peter Wensierski. Dietmar Krone ist kurze Zeit später mit seinem Buch »Albtraum Erziehungsheim« als eines der ersten Opfer an die Öffentlichkeit gegangen.

Nach Beschwerden der Opfer und einer zweijährigen Debatte im Petitionsausschuss forderte der Bundestag im November schließlich die Regierung auf, die Hintergründe und Folgen der zweifelhaften Erziehungsmethoden aufzuklären. Nun soll ein »Runder Tisch« eingerichtet werden – unter dem Vorsitz des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, an dem auch die damals verantwortlichen Verbände, Caritas und Diakonie, beteiligt sind. Vorsitzender des Vereins war bis in die sechziger Jahre Hans Muthesius, der während des Nationalsozialismus für die Verwaltung der Jugendkonzentrationslager in Mohringen, der Uckermark und in Lodz zuständig war.

Die Opfer fordern insbesondere, für die in den Anstalten geleistete Arbeit entlohnt zu werden. Wolfgang Focke, seit 2006 einer der Beschwerdeführer vor dem Petitionsausschuss, musste in unterschiedlichen Heimen bis 16 Stunden täglich arbeiten, und das keineswegs nur für die Heime, sondern für Unternehmen wie Miele oder die Paderborner Hella-Werke. Den Hauptteil des Lohns strichen die Heime ein, die Jugendlichen bekamen nur wenige Pfennige. Die schulische Ausbildung wurde dagegen vernachlässigt, das Lesen hat sich Focke später selbst beigebracht. Seine Schreibarbeiten, unabdingbar für die politische Aufarbeitung seiner Vergangenheit, erledigt eine Freundin. Da er mit ihr in einer Wohngemeinschaft zusammenlebt, wurde ihm die Grundsicherung gestrichen. Ihm bleiben aus seinen Arbeiten als Friedhofsgärtner und Busfahrer 300 Euro Rente pro Monat, fast die Hälfte geht für die Krankenversicherung drauf. »Eine symbolische Entschuldigung bringt mir da nur wenig«, sagt Focke.

Die Ausgrenzung »Verwahrloster« war freilich keine Erfindung der Bundesrepublik. Die Ursprünge der Erziehungsanstalten gehen auf das 19. Jahrhundert zurück. Mit den veränderten Lebensbedingungen der Industriegesellschaft schien die Familie als zentrale Instanz gefährdet, die Heimerziehung war damit zugleich eines der ersten Anzeichen des interventionistischen Sozialstaates.
Bereits in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden die Zustände in den Heimen skandalisiert, die Rufe nach einer Liberalisierung verstummten freilich 1933. »Damit waren fortschrittliche pädagogische Konzepte erst mal aus Deutschland verschwunden, und nach 1945 arbeitete ganz überwiegend dasselbe Personal in denselben Erziehungsanstalten mit kaum veränderten Sichtweisen und Methoden weiter«, sagt Manfred Kappeler.

Erst die Heimkinderbewegung in den sechziger Jahren brachte eine öffentliche Diskussion in Gang. Eine historische Randnotiz sei hier erwähnt: Auch Andreas Baader und Gudrun Ensslin befreiten in wilden Aktionen Heimkinder. Ulrike Meinhof kritisierte in Veröffentlichungen die Situation in den Anstalten, ihr Film »Bambule« wurde jedoch nach der Befreiung Baaders aus dem Gefängnis im Mai 1970 nicht mehr gesendet.
Die Zustände änderten sich aber keineswegs schlagartig, wie Kappeler es beschreibt. So wurde zwar der Stacheldraht alsbald entfernt, und man ersetzte einige große Einrichtungen durch kleinere Jugendwohnprojekte. Die pädagogische Ausbildung der Erzieher verbesserte sich jedoch erst mit der Zeit. Der Begriff der »Verwahrlosung« wurde erst 1990 mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes gestrichen.
Manche Politiker würden indes wohl am liebsten die gute, alte Zeit zurückholen. Da es in Deutschland »zu viele kriminelle junge Ausländer« gebe, hatten Roland Koch (CDU) und andere im vergangenen Jahr die Einrichtung von »Erziehungslagern« gefordert.
Um »entwürdigenden Drill oder menschenverachtende Methoden« gehe es dabei aber nicht, versicherte sein Parteikollege
Wolfgang Bosbach.
http://jungle-world.com/artikel/2009/05/32533.html


ZDF
ML Mona Lisa
25.01.2009
http://monalisa.zdf.de/ZDFde/inhalt/2/0,1872,7508066,00.html

Viele Zöglinge von Kinderheimen wurden in den 60er Jahren als Zwangsarbeiter missbraucht.
ML Mona Lisa
Keine Entschädigung für Heimkinder?

Heimerziehungs-Opfer warten noch auf Gerechtigkeit
Sie mussten schwere Arbeiten verrichten, wurden in den Fürsorgeheimen gequält und missbraucht. Manche Leben blieben zerstört. Das Schicksal der Heimkinder ist ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte. Im Herbst vergangenen Jahres beschloss der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig, die Heimerziehung im Nachkriegsdeutschland historisch aufzuarbeiten und die Fragen nach Entschädigungen für erlittenes Unrecht zu klären. Doch jetzt steht alles wieder auf der Kippe.
 
 In die Sitzung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestags zum Thema "Heimkinder" am 26. November 2008 sind auch Opfer der Heimerziehung gekommen. "Ich wurde als kleines Kind mit zwei Jahren meiner Familie weggenommen und war 17 Jahre lang eingesperrt und musste arbeiten", berichtet ein Betroffener. Erschütternde Szenen spielen sich in der Sitzung ab. Der Ausschuss beschließt einstimmig einen "Nationalen Runden Tisch" zur Aufarbeitung der westdeutschen Heimerziehung. Die Anerkennung des Unrechts, eine offizielle Entschuldigung und die finanzielle Entschädigung - alle Forderungen der ehemaligen Heimkinder scheinen in greifbare Nähe gerückt.

Im Petitionsausschuss einigte man sich auf einen Runden Tisch zur Aufarbeitung der Fälle.

Aufkeimende Hoffnung
Auch die Koordinatorin des runden Tisches, Antje Vollmer, gibt sich zufrieden: "Bei der Abschlussrunde des Petitionsausschusses gab es von allen Seiten einen Ausdruck, dass man weiß, dass Menschen hier schweres Unrecht geschehen ist, und dass es sich um Menschenrechtsverletzungen handelt", erklärt sie am Ende der Verhandlungen. Die Betroffenen sind voller Hoffnung.

Doch jetzt tauchte ein vertraulicher Brief auf, der ML Mona Lisa vorliegt. Darin schreibt die Familienministerin Ursula von der Leyen an den zuständigen Berliner Bildungssenator Zöllner: "Die Einrichtung eines ,Nationalen Entschädigungsfonds' wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt." Im Klartext heißt das, ehemalige Heimkinder sollen kein Geld erhalten. Die Familienministerin scheint sich offenbar über den Petitionsausschuss hinweggesetzt zu haben. Denn laut Antje Vollmer hat der "in seiner Empfehlung und seinem Beschluss keine mögliche Lösung ausgeschlossen." Wir baten die Bundesfamilienministerin um ein Interview zum Thema. Sie lehnte es ab - aus zeitlichen Gründen.

Folter und Zwangsarbeit
Für ehemalige Heimkinder wie Dietmar Krone ist dies ein neuerlicher Rückschlag. Als Jugendlicher wurde er fünf Jahre in einem Fürsorgeheim gequält. Seine Heimakte, die ihm erst jetzt anonym zugeschickt wurde, belegt nun endlich seine Erfahrungen von Folterstrafen und Demütigungen. "Man hat es abgestritten, man hat mich als Lügner hingestellt, und erst als ich jetzt die Akte bekam, konnte ich das alles nachweisen", so Krone.

Akten von rund 800.000 ehemaligen Heimkindern der Nachkriegszeit liegen vor. Sie bezeugen die Verbrechen, listen auf, wie die Zöglinge zu Schwerstarbeit gezwungen wurden, ohne Lohn zu erhalten und ohne Einzahlungen in die Rentenkassen. Heute leben viele von ihnen in bitterer Armut. Das entwürdigende Ringen um Anerkennung und finanzielle Entschädigung müsse endlich ein Ende haben, fordern Experten wie der Erziehungswissenschaftler Prof. Manfred Kappeler. "Es muss eben auch der ernsthafte Wille dokumentiert werden, sonst ist die Entschuldigung im wörtlichen Sinne zu billig", meint er. Die Zeit drängt: Die Entschädigungen müssen jetzt geleistet werden, bevor es für Betroffene wie Dietmar Krone zu spät ist.
 
© ZDF 2009

22. Januar 2009
18:40 Uhr
Deutschlandfunk
Hintergrund

"Wenn du nicht spurst, kommst du ins Heim!"
Späte Hilfe für westdeutsche Heimkinder
Von Detlef Grumbach

Sendung anhören hier

20. JANUAR 2009
Kölner Stadt-Anzeiger
MISSHANDLUNG IM KINDERHEIM


Schlimme Erinnerungen
Von Hartmut Zitzen, 19.01.09, 18:32h, aktualisiert 20.01.09, 09:38h
Ein 69-jähriger Leverkusener berichtet über seine erschütternden Erfahrungen als Heimkind in der Nachkriegszeit. 17 Jahre verbrachte er in verschiedenen Heimen und Einrichtungen.

LEVERKUSEN - „Wissen Sie, es geht doch gar nicht um Geld. Damit kann man die Verbrechen, die an uns begangen wurden, ohnehin nicht mehr gutmachen.“ Hermann Wagner (Name von der Redaktion geändert) gehörte zu den rund 500 000 Kindern und Jugendlichen, die zwischen 1945 und 1975 in - meist von Nonnen geleiteten - Heimen untergebracht waren. Und wie viele andere Heimkinder hat auch der heute 69-Jährige damals Demütigungen, Misshandlungen und Missbrauch erfahren müssen.

Zwei Jahre lang hatte sich der Deutsche Bundestag mit diesen bedrückenden Schicksalen beschäftigt und im vergangenen Dezember einstimmig beschlossen, einen Runden Tisch zur Aufarbeitung der Geschehnisse einzurichten und womöglich auch einen Entschädigungsfonds aufzulegen. Davon will Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) allerdings nichts wissen: Ein Fonds werde von der Bundesregierung nicht angestrebt, ließ sie kürzlich mitteilen, und der Runde Tisch soll nach ihrem Willen ausgerechnet von einem Dachverband geleitet werden, dem mit Caritas und Diakonie die Organisationen angehören, die seinerzeit die überwiegende Mehrzahl der Heime betrieben haben.
Nicht nur Hermann Wagner befürchtet, dass damit „eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte“ auch weiterhin im Dunkeln bleiben wird. Deshalb hat der gebürtige Wiesdorfer sich entschlossen, dem „Leverkusener Anzeiger“ seine eigene Heimgeschichte, die 1943 mit dem Tod seines Vaters begann, zu erzählen. Die Mutter sei danach mit der Versorgung und Erziehung ihrer insgesamt zehn Kinder überfordert gewesen, und so sei er zunächst in ein katholisches Kinderheim in Overath (Rheinisch Bergischer Kreis) gekommen, erinnert sich der examinierte Krankenpfleger.
Bis er 1960 fluchtartig zu seiner nunmehr in Opladen lebenden Mutter zurückkehrte, verbrachte Hermann Wagner 17 Jahre in verschiedenen Heimen und Einrichtungen, denen eines gemeinsam gewesen sei: die systematische Entwürdigung der ihnen anvertrauten Schützlinge. Wagner erinnert sich noch heute allzu gut an Schläge, Ausbeutung, Hunger und sexuelle Übergriffe von Nonnen und Priestern, die das Ausleben ihrer Obsessionen noch als Akt der Nächstenliebe bemäntelt hätten. Meist verbunden mit dem Hinweis, dass das keine Sünde sei - und demzufolge auch nicht gebeichtet werden müsse.
Eine Schwester, erzählt der 69-Jährige, habe an kaum einem Kind vorbeigehen können, ohne ihm mit den Knöcheln der rechten Hand eine schmerzhafte Kopfnuss zuzufügen. „Jegliches Fehlverhalten wurde mit Stockschlägen bestraft.“ Bettnässer, von denen es viele gegeben habe, seien im tiefen Winter in kurzen Hosen dazu gezwungen worden, die gewaschenen Laken zum Trocknen im Freien hochzuhalten. Bilder von Kindern, die ihr Erbrochenes wieder aufessen mussten, gehen Hermann Wagner ebenso wenig aus dem Kopf wie die Erinnerung an sechs Jungen, die am 5. September 1945 ums Leben kamen.
Damals habe er in einem Kloster in Hennef an der Sieg gelebt. Er sei in der Gruppe der Jüngeren gewesen - „ein Glück, sonst wäre ich jetzt auch tot“ - und die Älteren hätten mit einer der Nonnen einen Spaziergang gemacht. Eine Tellermine, den die Nonne übersehen hatte, tötete Willi Könitzer, Hugo Hardt, Karl Schmitz, Johann Kneip, Hubert Flake und Karl Thiele - ihre Namen bewahrt Wagner schriftlich auf, weil er nicht will, „dass sie in Vergessenheit geraten“. Ein einziger Junge überlebte. Er wohnt heute in Köln und Wagner trifft sich noch immer regelmäßig mit ihm.
Ob in Hennef, im Kinderheim St. Joseph in Bensberg-Moitzfeld, im Schlebuscher Haus Nazareth oder im Lager Eigenheim in Manfort - die unwürdigen Verhältnisse seien überall mehr oder weniger die gleichen gewesen, erinnert sich der Rentner. Zuletzt sei er auf dem Bauernhof eines Antroposophen in Rothenburg an der Fulda gelandet, wo er Felddienste verrichten und später für einen Bäcker arbeiten musste. Auch dieser „Menschenkenner“ habe versucht, ihn zu missbrauchen, was nur daran gescheitert sei, dass zufällig der Revierförster aufgetaucht und dazwischengegangen sei.
Hermann Wagner entzog sich dieser düsteren Welt schließlich durch die Flucht nach Opladen. Die Erinnerungen daran konnte er aber nie hinter sich lassen.

18.1.2009
Westpol WDR
19.30 - 20.00 Uhr

Ehemalige Heimkinder sind enttäuscht

Familienministerin schließt Entschädigungsfonds aus
Zehn Stunden arbeiten, keine Bezahlung, Schläge und Demütigungen, so sah der Alltag vieler Heimkinder in den 50er und 60er Jahren aus. Als sich der Bundestag dafür vor kurzem öffentlich entschuldigt hat, hofften die Betroffenen auf Entschädigung für Ihr Leid. Doch jetzt hat Familienministerin von der Leyen einen Entschädigungsfonds des Bundes ausgeschlossen.
Es sind die Erinnerungen, die Roswitha Schnabel nicht zu Ruhe kommen lassen. Jahrzehnte hat sie gebraucht, bis sie über ihre Zeit im Kinderheim sprechen konnte. Dazu zählt auch die Erinnerung an einen sexuellen Übergriff eines Pfarrers im Beichtstuhl. Ich renne aus dem Beichtstuhl raus, da empfing mich die Nonne Frapia bereits, als wenn sie es gewusst hätte. Dann wurde ich auf dem Westboden eingesperrt und es wurde gesagt, die ist ja schon irre. Nur weil ich aus dem Beichtstuhl weggelaufen bin", erinnert sich das ehemalige Heimkind Roswitha Schnabel.

Schläge, Strafen und Demütigungen
13 Jahre lang lebte sie bei den Vincentinerinnen in Lippstadt. Schläge, Strafen und Demütigungen gehörten zum Alltag. Die letzten vier Jahre musste sie unter strenger Aufsicht von Nonnen des Ordens der Barmherzigen Schwestern im Vincenzheim in Dortmund auch in der hauseigenen Näherei und Wäscherei zehn Stunden täglich schwer arbeiten. Arbeit für die es keine Bezahlung gab. Eine Entschädigung wäre da selbstverständlich, sollte man meinen. Das sah bis jetzt auch gut aus. Ein Petitionsausschuss befasste sich mit dem Schicksal der ehemaligen Heimkinder. Schließlich entschuldigte sich der Bundestag vor kurzem öffentlich bei Ihnen. Da keimte bei den Betroffenen Hoffnung auf, auch endlich für ihr erlittenes Leid finanziell entschädigt zu werden. Doch jetzt hat Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) einen Entschädigungsfonds des Bundes ausgeschlossen.

Empfehlung für runden Tisch
"Ich habe Angst, dass ich keine Entschädigung bekomme. Vor allen Dingen fehlt es auch an meiner Rente. Das sehe ich absolut nicht ein, wir haben malocht wie die unter Zwang", sagt Roswitha Schnabel. Der Petitionsausschuss empfahl einen runden Tisch einzurichten, damit, Kriterien für eine Entschädigung ausgearbeitet werden. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Gabriele Frechen hat an der Empfehlung mitgearbeitet.

Familienministerin schweigt
So richtig versteht die Entscheidung der Ministerin niemand. Die Mitglieder vom Verein ehemaliger Heimkinder befürchten gar, dass nun die Entschädigungsfrage ganz vom Tisch sein könnte. Zu einem Interview war die Bundesfamilienministerin nicht bereit. Das Ministerium teilte Westpol jedoch schriftlich mit:

In unserem Konzept (...) ist grundsätzlich nichts ausgeschlossen - auch wenn das Bundesfamilienministerium keinen nationalen Entschädigungsfonds anstrebt - denn dieser wurde vom Deutschen Bundestag nicht ausdrücklich gefordert.

Hoffen auf schnelles Handeln
Der runde Tisch soll schon sehr bald zusammenkommen. Roswitha Schnabel und die anderen ehemaligen Heimkinder kämpfen weiter für ihr Recht. Was sie jetzt brauchen, ist schnelles Handeln. Gelitten haben sie lange genug.
URL: http://www.wdr.de/tv/westpol/beitrag/2009/01/
20090118_heimkinder.jhtml;jsessionid=J1Q5IZXU5HJWKCQKYXEUTIQ


Beitrag als webTV-Video: Ehemalige Heimkinder sind enttäuscht
© WDR 2005

15.1.2009
Pressemitteilung WebService
Ehemalige Heimkinder: Was hat "Röschen" Albrecht da Ursula von der Leyen eingebrockt?

Verfasst von Heinz-Peter Tjaden am Do, 2009-01-15 20:05.

Mitglieder des Petitionsausschusses kritisieren die Bundesfamilienministerin, ehemalige Heimkinder fordern im Internet den Rücktritt von Ursula von der Leyen. Die 50-Jährige hat sich mit ihren Äußerungen zu den Themen „Runder Tisch“ und „Misshandlungen in kirchlichen und staatlichen Kinderheimen“ gehörig in die sozialpolitischen Nesseln gesetzt.
Doch das ist nicht weiter verwunderlich, denn Politik hat „Röschen“ Albrecht schon als Kind unter dem Schreibtisch ihres Vaters spielend gelernt. Dann wurde aus dem „Röschen“ eine Rose - und die sind bekanntlich stachelig.
Wie aus dem Nichts tauchte Ursula von der Leyen aus einem Dorf in der Region Hannover auf, eroberte als Landtagskandidatin der CDU mühelos ihren Wahlkreis, machte Landespolitik und schnell Bundespolitik. Dabei hatte sie den Blick fast schon starr gerichtet auf: die Mittel- und Oberschicht.
Die da unten sah sie nur selten. In dieser Hinsicht glich sie öffentlich eher ihrem Vater als ihrer Mutter, die ohne viel Aufhebens soziale Einrichtungen unterstützte, geduldig an der Supermarktkasse in Burgdorf bei Hannover stand und sich nach dem Einkauf um MS-Kranke kümmerte.
Ob die Bundesfamilienministerin gestern in Burgdorf vor dem Fernseher gesessen und die Sendung „Menschen und Schlagzeilen“ gesehen hat, ist fraglich. Denn Schlagzeilen machte im NDR-Fernsehen nicht sie, sondern die evangelische Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, die um schlimme Zustände in kirchlichen Heimen in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren nicht herumredete. Sie schäme sich dafür, sagte die Landesbischöfin, und: „Kinder wurden wirklich auch gebrochen.“
Doch derart gebrochen sind nicht alle ehemaligen Heimkinder, dass sie sich nicht wehren können, wenn Ursula von der Leyen die Aufarbeitung der Kinderheim-Geschichte torpedieren will, bevor sie begonnen hat. Aber vielleicht läuft es ja bei ihr wie bei der CDU heute bei den Stasi-Akten. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich erfreut darüber, dass diese Akten nicht vernichtet worden sind. Genau das aber hatten Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble dermaleinst vor…
Ein Beitrag für http://bundestagsausschuss.blogspot.com und www.3eins3null3.de

15.1.2009
domradio - 16.01.2009 10:52:55
„Ich entschuldige und schäme mich“
Bischöfin Käßmann entschuldigt sich bei ehemaligen Heimkindern

Die evangelische Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, hat sich für die Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Heimen der evangelischen Kirche entschuldigt. Im NDR sagte sie am Donnerstag: "Ich kann öffentlichen sagen, dass ich mich entschuldige, aber ich würde mehr noch sagen, ich schäme mich dafür, dass in unseren Heimen so etwas vor sich gegangen ist und Kinder wirklich auch gebrochen wurden in ihrem Willen, und ihre Würde derart verletzt wurde." Die Aussage der Bischöfin dürfte neuen Schwung in die Debatte um Entschädigungszahlungen bringen.
Die Bischöfin begrüßte den vom Bundestag im Dezember beschlossenen Runden Tisch zum Schicksal der Heimkinder. „Es sollen ergebnisoffene Prüfungen sein, auch in der Frage der Entschädigungszahlungen.“ In der Frage der Entschädigung gibt es allerdings Streit. Das federführende Bundesfamilienministerium hatte zu Wochenbeginn erklärt, ein Entschädigungsfonds werde nicht angestrebt.

Käßmann sagte dazu jedoch: „Ich persönlich denke, dass Menschen, die beispielsweise Zwangsarbeit in diesen Heimen geleistet haben, ohne dafür bezahlt zu werden und heute in Notsituationen sind, dass wir hier über Entschädigungen sprechen müssen.“ Es gehe auch um therapeutische Begleitung. „Wir müssen den einzelnen Fall sehen und prüfen, wie das ehemalige Heimkind heute gefördert werden kann.“

Schwierige Bewertung der Einzelfälle
Unterdessen wies der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl Schiewerling Kritik an den Plänen für einen „Runden Tisch“ zurück. Der vom „Verein ehemaliger Heimkinder“ (VEH) geforderte Entschädigungsfonds sei keineswegs vom Tisch, sagte das Mitglied des Petitionsausschusses des Bundestags am Donnerstag der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). Es sei Aufgabe des Runden Tisches, Kriterien für eine mögliche Entschädigung zu entwickeln. Ob es dann zu einem solchen Fonds komme, sei Sache des Gremiums. Schiewerling war Berichterstatter der Union zu diesem Thema im Petitionsausschuss.

An dem Runden Tisch sollen Kirchen und öffentliche Heim-Träger, Vormundschaftsgerichte, Jugendhilfe und kommunale Spitzenverbände, Abgeordnete, Unternehmer, Wissenschaftler und Betroffene mitwirken. Hintergrund sind Vorwürfe, wonach zahlreiche Kinder und Jugendliche bis Ende der 60er-Jahre in staatlichen und kirchlichen Heimen misshandelt und ausgebeutet wurden.

Schiewerling verwies zugleich darauf, dass es ausgesprochen schwierig sei, die Schicksale der ehemaligen Heimkinder zu bewerten. „Wie will man mehrere Jahrzehnte später feststellen, wer wie stark misshandelt wurde und welche Belastungen die Kinder aus ihren Familien schon mitbrachten?“, sagte er. „Dazu kommt die Frage, was damals gängige Erziehungsmethode auch in Familien war. Und wer soll entschädigen: die Einrichtung, der Täter, die von der Kinderarbeit profitierenden Firmen oder der Staat und die Kirchen?“ Für diese offenen Fragen müsse der Runde Tisch Kriterien entwickeln.

Nach Einschätzung des Unionspolitikers waren Misshandlungen und Ausbeutung in den Kinderheimen der frühen Bundesrepublik „wohl keine Einzelfälle, aber es steckte auch kein System dahinter“. Es habe keine Handlungsanweisungen der Träger oder des Staates gegeben, die Jugendlichen in einer bestimmten Weise zu behandeln. Zugleich sei aber offensichtlich, dass manche Erzieher „grausam oder einfach überfordert waren“. Er wisse von vier oder fünf konkreten Heimen, in denen Kinder und Jugendliche quasi systematisch durch Arbeit und Misshandlungen auf Linie gebracht werden sollten.
(kna)
URL: http://www.domradio.de/aktuell/artikel_49648.html

14.1.2009
NDR Radio
Bischöfin Käßmann entschuldigt sich öffentlich bei misshandelten Heimkinder


(BSOZD.com-NEWS) Hamburg. Die Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, hat sich für die Misshandlung von Kindern und Jugendlichen in Heimen der Evangelischen Kirche entschuldigt. In der Sendung „Menschen und Schlagzeilen“ im NDR Fernsehen (14. Januar) sagte sie: „Ich kann öffentlichen sagen, dass ich mich entschuldige, aber ich würde mehr noch sagen, ich schäme mich dafür, dass in unseren Heimen so etwas vor sich gegangen ist und Kinder wirklich auch gebrochen wurden in ihrem Willen und ihre Würde derart verletzt wurde.“

Die Bischöfin unterstützt den vom Bundestag im Dezember 2008 beschlossenen runden Tisch, an dem über das Thema Heimkinder gesprochen werden soll. Margot Käßmann: „Wir haben als Evangelische Kirche von Anfang an gesagt: Wir begrüßen, dass es diesen runden Tisch gibt und ich würde auch dem Beschluss des Bundestags so zustimmen. Es sollen ergebnisoffene Prüfungen sein, auch in der Frage der Entschädigungszahlungen.“ In der Frage der Entschädigung gibt es allerdings Streit. Das federführende Bundesfamilienministerium unter Führung von Ursula von der Leyen will über das Thema Entschädigungen nicht sprechen. Käßmann fordert jedoch: „Ich persönlich denke, dass Menschen, die beispielsweise Zwangsarbeit in diesen Heimen geleistet haben ohne dafür bezahlt zu werden und heute in Notsituationen sind, dass wir hier über Entschädigungen sprechen müssen. Aber auch über therapeutische Begleitung, die ermöglicht das aufzuarbeiten. Wir müssen den einzelnen Fall sehen und prüfen, wie das ehemalige Heimkind heute gefördert werden kann.“

In staatlichen, katholischen und evangelischen Jugendheimen wurden in der Bundesrepublik seit den 50er- bis in die 70er-Jahre hinein Hunderttausende Kinder und Jugendliche erniedrigt, geschlagen und eingesperrt. Heute leben vermutlich noch eine halbe Million Heimkinder. Die meisten sind zwischen 40 und 65 Jahre alt.
©NDR Presse und Information


13.01.2009
Berliner Zeitung
Martyrium Erziehungsanstalt

Ehemalige Heimkinder fordern Entschädigung - Ministerium lehnt Fonds offenbar ab
Katja Tichomirowa

BERLIN. Bambule gab es noch keine - der Sprecher des Bundesfamilienministeriums aber geriet gestern in Erklärungsnot, als ihn die Regierungspressekonferenz zu den Entschädigungsansprüchen ehemaliger Heimkinder befragte. Hunderttausende Kinder und Jugendliche wurden zwischen 1945 und 1970 in der Bundesrepublik in Erziehungsanstalten eingewiesen. Die staatliche Fürsorge erwies sich für viele als Martyrium. Brutale Erziehungsmethoden, Zwangsarbeit und sexuelle Übergriffe waren offenbar nicht die Ausnahme, sondern in vielen bundesdeutschen Erziehungsanstalten die Regel.
Dass die Mehrzahl dieser Einrichtungen von kirchlichen Träger wie der Caritas und der Diakonie betrieben wurden, schützte ihre Insassen nicht - im Gegenteil. Mit der Aufarbeitung dieses Unrechts sollte sich nach einem Beschluss des Bundestages nun ein Runder Tisch befassen.
Worüber das Gremium erst beraten sollte, lehnte das Familienministerium indes bereits im Vorfeld ab: "Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt", zitiert die Tageszeitung gestern aus einem Brief Ursula von der Leyens an den Berliner Bildungssenator. Auf Anfrage der Berliner Zeitung erklärte das Ministerium nun, über eine Entschädigung müsse der Runde Tisch beraten, "eine Vorentscheidung gibt es nicht".
Streit um Gremium-Besetzung
Der Verein ehemaliger Heimkinder hatte zudem die Zusammensetzung des Runden Tisches kritisiert. Mit dem "Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge" säße eine Institution mit am Runden Tisch, die "in besonderer Weise" verstrickt war in "die pädagogische Theorie und Praxis der Heimerziehung des Nationalsozialismus wie der Nachkriegszeit". Erst in den 90er-Jahren sei bekannt geworden, dass der ehemalige Vorsitzende des Vereins, Hans Muthesius, als Mitarbeiter des Reichsinnenministeriums in der NS-Zeit Referent für die Verwaltung der Jugendkonzentrationslager in Mohringen, der Uckermark und in Lodz war.
Während das Familienministerium den Verein für öffentliche und private Fürsorge "für besonders geeignet" hält, die bevorstehenden Aufgaben zu übernehmen, weil er "wie kaum ein anderer Verein untrennbar verwoben ist mit der Geschichte der sozialen Arbeit in Deutschland", spricht der Verein der ehemaligen Heimkinder in seiner Presseerklärung von "Hohn" und entzieht der Bundesregierung das Vertrauen.
Das Familienministerium erklärte gestern: Über die Zusammensetzung des Runden Tisches sei noch nicht entschieden.

13.1.2009
Tagesspiegel
Missbrauchsfälle
Neuer Streit um Entschädigung von Heimkindern

Etliche ehemalige Heimkinder, die nach dem Krieg bis in die siebziger Jahre hinein missbraucht und misshandelt wurden, fordern Entschädigung. Ob sie diese bekommen, darüber gibt es Streit mit dem Bundesfamilienministerium.

BERLIN - 
Der vom Bundestag beschlossene Runde Tisch zur Heimerziehung in der frühen Bundesrepublik ist zum Streitfall geworden, nachdem das zuständige Bundesfamilienministerium wesentliche Vorgaben aus der Empfehlung des Bundestags-Petitionsausschusses verändert hat. Mitglieder des Petitionsausschusses und der Verein der ehemaligen Heimkinder kritisierten, dass die organisatorische Verantwortung nunmehr beim „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge“ liegen soll, der eine frühere Anfrage aus dem Petitionsausschuss schon einmal abgelehnt hatte. Brüskiert zeigte sich der Heimkinder-Verein insbesondere über die Aussage von Ministerin Ursula von der Leyen (CDU), wonach die Einrichtung eines „Entschädigungsfonds“ von der Bundesregierung „nicht angestrebt“ sei.

Ein Sprecher des Familienministeriums wollte sich am Montag in Berlin nicht äußern, da man sich in einem laufenden Verfahren befinde. Er betonte aber, die Frage möglicher Entschädigungen sei noch offen, auch wenn ein Fonds nicht vorgesehen sei. Der von Bund, Ländern und Betroffenen-Verbänden zusammengesetzte Runde Tisch solle im Januar unter dem Vorsitz von Ex-Vize-Bundestagspräsidentin Antje Vollmer (Grüne) zum ersten Mal tagen.

Zwischen 1945 und 1975 sind hunderttausende Kinder und Jugendliche in staatliche und kirchliche Kinderheime und Erziehungsanstalten eingewiesen worden. Drakonische Strafen, Zwangsarbeit, Missbrauch und der Entzug von Schulbildung haben viele dieser Kinder bis heute traumatisiert.

Der Petitionsausschuss hatte das Problem im November 2008 nach langen Beratungen mit der Empfehlung abgeschlossen, einen Runden Tisch zur Aufklärung der Hintergründe und Folgen für die Betroffenen einzurichten. Dazu soll auch über Möglichkeiten der Rehabilitierung, psychologischer Hilfe und Entschädigung der Opfer beraten werden. In seiner Beschlussempfehlung, die der Bundestag übernommen hat, erkennt der Ausschuss „erlittenes Unrecht und Leid“ an und „bedauert das zutiefst“. (tib)
©Tagesspiegel
URL: http://www.tagesspiegel.de/politik/Heimkinder-Missbrauch;art771,2704154

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 13.01.2009)


13.01.2009
Frankfurter Rundschau
Aufarbeitung light
Familienministerin von der Leyen gefährdet Wiedergutmachung für misshandelte Heimkinder

VON VERA GASEROW

Der Beschluss galt als historisch. Zur Aufarbeitung und Wiedergutmachung des lange verdrängten Unrechts an Tausenden von Heimkindern, die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen misshandelt und gedemütigt worden waren, sollte ein nationaler Runder Tisch eingerichtet werden. So hatte es der Bundestag im vergangenen Dezember in seltener Einmütigkeit beschlossen. Doch nun bahnt sich handfester Krach an.

Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) droht mit ihren Plänen, die Bemühungen um Wiedergutmachung zu unterlaufen. Der nationale Runde Tisch, den der Bundestag mit der Aufarbeitung des dunklen Kapitels der deutschen Nachkriegssozialpolitik beauftragt hatte, soll in abgespeckter Form arbeiten. Das Konzept des Familienministeriums schreibt ihm nur eine "Erörterungs- und Abklärungsfunktion" zu. Außerdem soll das Gremium nur eine dürftig ausgestattete Geschäftsstelle bekommen.

Eine geplante Beratungsstelle oder Hotline für ehemalige Heimkinder ist in dem Konzept nicht mehr vorgesehen. Auch einen Fonds zur finanziellen Entschädigung für die Betroffenen, den der Runde Tisch auf Empfehlung des Parlaments zumindest ergebnisoffen prüfen sollte, lehnt das Ministerium schon vorab strikt ab. "Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt", greift von der Leyen in einem Brief an die Länderfamilienminister der Debatte vor.

Der Verein ehemaliger Heimkinder, der seit Jahren um Aufmerksamkeit und Wiedergutmachung für die bis in die 70 er Jahre herrschenden unwürdigen Erziehungspraktiken in westdeutschen Heimen kämpft, reagierte mit "Empörung und Befremden".

Auch Mitglieder des Bundestags-Petitionsausschusses, der sich für das Anliegen der Heimzöglinge stark gemacht hatte, kritisierten die Pläne. Er sei "enttäuscht und verärgert", dass die Familienministerin die Empfehlung des Parlaments "im Alleingang an wesentlichen Punkten" verändert habe, sagte Grünen-Abgeordneter Josef Winkler der FR. Auch die SPD-Ausschussobfrau Gabriele Lösekrug-Möller forderte: "Die Vorschläge müssen nachgebessert werden."

Für Unmut sorgt besonders der Plan des Familienministeriums, die Organisation des Runden Tisches einem neuen Träger zu überantworten. Das Parlament hatte empfohlen, zwei unabhängige Dachorganisationen der Jugendhilfe damit zu beauftragen, die bereits ein konkretes Konzept für die Aufarbeitung vorgelegt haben. Stattdessen soll nun jedoch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge die Aufgabe übernehmen. Der war in der NS- und in der Nachkriegszeit jedoch selbst in die unrühmliche Erziehungspädagogik verstrickt. "Für uns ist das ein Hohn", kritisiert der Heimkinderverein.

Es sei der "Wunsch aller Beteiligten gewesen", den Deutschen Verein mit der Organisation zu beauftragen, argumentiert das Familienministerium. Außerdem seien die Vorschläge ja noch nicht beschlossen.

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Copyright © FR-online.de 2009
Dokument erstellt am 12.01.2009 um 17:44:02 Uhr
Letzte Änderung am 12.01.2009 um 21:39:54 Uhr
Erscheinungsdatum 13.01.2009

URL: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/?em_cnt=1658384&em_loc=1231

13.01.09
mz-web.de
Naumburger Tageblatt
Mitteldeutsche Zeitung

Heimkinder
Wiedergutmachung wird zum Streitfall

 
Politiker planen Entschädigungen für Gewalttaten und Misshandlungen
 
von VON STEFAN SAUER, 12.01.09, 14:56h, aktualisiert 12.01.09, 19:56h

Unter dem Vorsitz der Ex-Vize-Bundestagspräsidentin Antje Vollmer soll ein Runder Tisch tagen, der sich mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder befasst. (
 
Berlin/MZ. Zwei Jahre lang hat sich der Petitionsausschuss des Bundestags mit dem bedrückenden Thema beschäftigt. In seltener Einmütigkeit verabschiedete der Bundestag am 4. Dezember einen Beschluss und bat die Betroffenen um Entschuldigung für geschehenes Unrecht. Nun habe Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) aber die bisherigen Bemühungen um eine Aufarbeitung der Heimunterbringung von rund 800000 Kindern und Jugendlichen in den alten Bundesländern zwischen 1945 und 1975 "wieder zurück auf Null gestellt", wie der Obmann der Grünen im Ausschuss, Josef Philip Winkler, bitter feststellt.
Hintergrund sind die damals verbreitet unwürdigen Zustände in Kinderheimen, Gewalttaten des Erziehungspersonals, sexuelle Übergriffe, die Verabreichung von Psychopharmaka und unbezahlte Zwangsarbeit. Der Bundestag hatte die Einrichtung eines Runden Tisches beschlossen, um die damaligen Vorkommnisse mit Heimträgern, Vertretern der Betroffenen und Fachleuten aufzuarbeiten. Dabei sollten auch Entschädigungen "ergebnisoffen" geprüft werden.
Die Ergebnisoffenheit aber sieht Winkler nun kaum mehr gewährleistet. Von der Leyen hatte in einem Brief an Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) geschrieben, die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds werde "von Bundesregierung und Bundestag nicht angestrebt". "Für den Bundestag kann die Ministerin gar nicht sprechen, eine solche Bemerkung ist sachlich falsch und höchst ärgerlich", sagt Winkler. Auch die Vorsitzende des Familienausschusses, Kerstin Griese (SPD), zeigt sich "überrascht, dass noch vor der ersten Sitzung bestimmte Ergebnisse ausgeschlossen werden". SPD-Familienexpertin Christel Humme plädiert anders als von der Leyen dafür, "den Betroffenen auf jeden Fall eine Entschädigung zukommen zu lassen".
Ein Ministeriumssprecher sagte, es gehe nicht darum, "bestimmte Dinge auszuschließen". Ein "Entschädigungsfonds" sei jedoch im Beschluss des Petitionsausschusses nicht ausdrücklich erwähnt. Warum seine Ministerin gleichwohl einem Fonds vorab eine Absage erteilte, konnte der Sprecher nicht erklären. Es gebe jedoch Möglichkeiten, den Betroffenen eine Entschädigung außerhalb einer Fondslösung zukommen zu lassen. "Ich kann nur hoffen, dass das ernst gemeint ist und der Runde Tisch über eine Entschädigung ergebnisoffen beraten wird", sagt Winkler.
Für ebenso großen Ärger sorgt die Entscheidung des Ministeriums zur Geschäftsführung des Runden Tisches. Bisher hatten die Dachorganisation der Kinder und Jugendhilfe AFET sowie das Jugend- und Familieninstitut DIJUV die Federführung übernommen und ein Konzept zu Entschädigungen vorgelegt. Von der Leyen übertrug nun aber die Leitung dem "deutschen Verein für öffentliche und private Vorsorge". Pikant: Es handelt sich um einen Dachverband, dem auch Caritas und Diakonisches Werk angeschlossen sind. Diese beiden sowie andere kirchennahe Träger betrieben aber die überwiegende Zahl der 3000 westdeutschen Kinderheime, in denen Kinder misshandelt worden sind.
Dass Caritas und Diakonie mit am Runden Tisch sitzen, sei richtig und notwendig, findet Kerstin Griese. Dass ihnen die Leitung übertragen werden solle, "das verwundert mich doch sehr", so die SPD-Familienpolitikerin.
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13.01.2009
domradio
12.1.2009
„Das ist für uns ein Hohn“
Streit um den Runden Tisch für Heimkinder

Bereits Ende Januar soll der Runde Tisch zum ersten Mal tagen. Doch um das kurz vor Jahresende vom Bundestag beschlossene Gremium, das das Schicksal ehemaliger Heimkinder in Westdeutschland aufarbeiten soll, gibt es schon im Vorfeld neuen Streit.
Feststeht: Von den mehreren hunderttausend Mädchen und Jungen, die zwischen Kriegsende und Mitte der 70er Jahre in kirchliche und staatliche Heime eingewiesen wurden, haben manche ein schweres Schicksal erlitten. Sie wurden körperlich schwer gezüchtigt, in Dunkelzellen gesperrt, sogar missbraucht und zur Arbeit gezwungen - mit traumatischen Folgen bis heute.

Unter Moderation der früheren Bundestags-Vizepräsidentin und Grünen-Politikerin Antje Volmer sollen die Opfer im Rahmen des Runden Tischs deshalb mit den verantwortlichen Heimträgern die noch vorhandenen Akten auswerten. Zudem sollen Lösungsvorschläge entwickelt werden, wie misshandelte Heimkinder rehabilitiert und individuelle Rentenansprüchen berücksichtigt werden können.

Zuständig für das Gremium, in dem Kirchen, öffentliche Heim-Träger, Vormundschaftsgerichte, Jugendhilfe, kommunale Spitzenverbände, Abgeordnete, Unternehmer, Wissenschaftler und Betroffene mitwirken sollen, ist das Bundesfamilienministerium. Der „Verein ehemaliger Heimkinder“ (VEH) wirft Ressortchefin Ursula von der Leyen (CDU) jetzt aber vor, an einer umfassenden Aufarbeitung und Wiedergutmachung gar nicht interessiert zu sein. Die Ministerin wolle dem Gremium nur eine „Erörterungs- und Abklärungsfunktion“ zukommen lassen, kritisiert VEH-Präsident Hans-Siegfried Wiegand.  Über die Einrichtung eines Entschädigungsfonds solle „nicht einmal mehr diskutiert werden“.

Dazu passt ein Bericht der „Tageszeitung“ vom Montag: Sie zitiert aus einem Brief von der Leyens an Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) den Satz: „Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt.“ Richtig ist aber auch, dass weder der Petitionsausschuss des Bundestags noch das Parlament selber im Einsetzungsbeschluss für den Runden Tisch einen Entschädigungsfonds erwähnt haben. Die katholische Kirche lehnt eine solche generelle Lösung explizit ab; sie will, dass sich ehemalige Heimkinder und Träger der Heime im Einzelfall auf Hilfen und Entschädigung einigen, falls es schwere Versäumnisse gegeben hat.

Heftige Kritik übt der VEH auch daran, dass die Geschäftsführung des Runden Tischs an den „Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge“ übertragen werden soll. „Das ist für uns ein Hohn“, sagt Wiegand. Der Deutsche Verein sei „in besonderer Weise verstrickt in die Heimerziehung des Nationalsozialismus sowie der Nachkriegszeit“.

Er sei daher nicht geeignet, das Vertrauen ehemaliger Heimkinder zu erlangen. Nach Informationen der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) hat der Deutsche Verein, der der Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger sozialer Arbeit ist, die Federführung des Runden Tischs zwischenzeitlich selbst abgelehnt - mit Verweis auf die problematische Geschichte einiger Mitgliedsorganisationen.

Wiegand kritisierte außerdem, dass von der Leyen auch auf die Einrichtung einer Hotline für ehemalige Heimkinder und die Unterstützung der Opfer bei ihrer Therapie verzichten will. Der VEH ist zudem empört, dass am Runden Tisch lediglich zwei Vertreter der Heimkinder teilnehmen sollen. „Damit würden wir erneut nicht ernst genommen.“

Einen Boykott des Runden Tischs lehnt der VEH-Präsident aber im Gespräch mit der KNA ab. Auch das Bundesfamilienministerium warnte am Montag vor voreiligen Schlüssen: Grundsätzlich seien alle inhaltlichen Entscheidungen dem Runden Tisch vorbehalten. Das gelte auch für die Frage eines Entschädigungsfonds und die personelle Zusammensetzung.
(Christoph Arens / kna)
URL: http://www.domradio.de/aktuell/artikel_49533.html´

12.1.2009
Bundespressekonferenz, 12.1.2009, 11.30 Uhr
Protokollauszug


FRAGE: Ich habe eine Frage an das Familienministerium. Meine Frage betrifft den einzurichtenden runden Tisch zur Aufarbeitung des Unrechts in der Heimkinderziehung der frühen Bundesrepublik. Dazu ist im Dezember durch einstimmigen Bundestagsbeschluss ein sehr langes, ungewöhnliches Petitionsverfahren abgeschlossen worden, das mit der Empfehlung endet, diesen runden Tisch einzurichten. Es sind dabei sehr konkrete Vorschläge des Petitionsausschusses dargestellt worden.

Das Ministerium von Frau von der Leyen weicht nun von diesen Vorstellungen ab. Ich wüsste gerne in zwei Punkten, warum. Die Trägerschaft und Organisation wird von den dafür vorgesehenen Organisationen auf eine andere übertragen, die bisher noch wenig an diesem Verfahren beteiligt war. Zum einen interessiert mich die Begründung dafür. Zum anderen habe ich natürlich die Frage: Wird das nicht mit Zeitverzögerungen verbunden sein, wenn die eingearbeiteten und bisher beteiligten Verbände nun abgehängt werden? Zweitens habe ich die Frage, wie das Ministerium auf die Kritik des Vereins ehemaliger Heimkinder in diesem Zusammenhang reagiert. Drittens möchte ich wissen, ob, wie gesagt wird ? ich weiß es nicht wirklich?, die Forderung nach möglicher Wiedergutmachung oder anderer Formen der Genugtuung, die in der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ergebnisoffen vorgesehen ist, vom Ministerium in diesem Verfahren von vornherein ausgeschlossen wird.

KINERT: Sie haben vollkommen Recht: Der Bundestag hat Anfang Dezember ?es war genau am 4. die Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses zur Aufarbeitung der Heimerziehung verabschiedet. Darin werden die Bundesregierung und die betroffenen Landesparlamente aufgefordert, einen runden Tisch einzurichten; das ist vollkommen richtig. Wir sind nach dem Beschluss unverzüglich tätig geworden und haben dem damaligen Vorsitzenden der Jugend- und Familienministerkonferenz ? das war Herr Zöllner zu dieser Zeit ? den Vorschlag gemacht, ganz rasch einen runden Tisch einzurichten. In diesem Schreiben hat die Ministerin ausdrücklich betont, dass es wünschenswert wäre, wenn dieser runde Tisch noch im Januar 2009 tagen würde. Das ist erst einmal Fakt. Das kann auch noch passieren, auch wenn der runde Tisch bisher noch nicht zusammengefunden hat. Entscheidend ist, dass wir noch auf Antworten aus den Ländern warten. Verschiedene Länder haben sich zu den Vorschlägen noch nicht zurückgemeldet. So lange kann der runde Tisch noch gar nicht tagen.

Der runde Tisch ist ein erstes Dialogforum, um eben zu schauen, wie die weiteren Schritte aussehen. Es ist nicht so, dass das Familienministerium von vornherein ausschließt, dass dort bestimmte Ergebnisse zustande kommen können. Es ist aber auch so, dass weder in der Empfehlung des Petitionsausschusses noch im Beschluss des Bundestages die Einrichtung eines Entschädigungsfonds explizit genannt wird. Insofern kann ich Ihnen an dieser Stelle nur sagen: Wir sind optimistisch, dass wir im Januar die erste Sitzung des runden Tisches erleben werden. Es ist der Wunsch des Petitions- wie des Fachausschusses wie auch des Familienministeriums, dass der Deutsche Verein die Organisation des runden Tisches übernimmt. Wir erwarten die Rückmeldung der Länder; das habe ich gerade schon gesagt. Insofern ist das aus unserer Sicht ein laufendes Verfahren, das ich hier nicht weiter einordnen oder kommentieren werde, so lange die Entscheidungen der Länder, die ausstehen, noch nicht vorliegen.

ZUSATZFRAGE: Sie haben jetzt nicht die konkrete Frage beantwortet, warum die Organisation und Geschäftsführung, wie man sagen könnte ? formell korrekt wäre "Organisation und Koordination des runden Tisches" ?, nicht bei AFET und dem Deutschen Institut für Jugend und Familie liegen soll, sondern bei einem Verband, der bisher im Verfahren eigentlich noch keine Rolle gespielt hat und den das Ministerium jetzt dafür zuständig erklärt hat. Warum? Das sind eingearbeitete Verbände, die beteiligt waren. Der neue überrascht alle, die bisher irgendetwas mit diesem Verfahren zu tun haben.

KINERT: Ich habe die Frage sehr wohl beantwortet. Ich habe gesagt, dass es der Wunsch aller Beteiligten ist, dass der Deutsche Verein dort die Organisation übernimmt. Das ist aber insgesamt ein laufendes Verfahren, und einzelne Schritte daraus kommentieren wir nicht.

ZUSATZFRAGE: Es tut mir leid; der Petitionsausschuss hat klar formuliert, dass AFET und das Deutsche Institut für Jugend und Familie diese Organisationsrolle übernehmen wollen. Wenn das Ministerium sagt "Nicht diese beiden", dann muss es ja Gründe geben. Wenn es sagt "Das andere Institut soll das übernehmen", dann muss es ja eine Überlegung geben, die dahinter steht. Das hat mit dem laufenden Verfahren gegenüber den Ländern gar nichts zu tun.

KINERT: Insgesamt ist dieser ganze Prozess ? Einrichtung des runden Tisches, erste Tagung und die weiteren Schritte in Bezug auf die Aufarbeitung der Situation der Heimkinder ? aus unserer Sicht ein laufendes Verfahren, und deswegen kommentieren wir einzelne Schritte nicht.

ZUSATZFRAGE: Also gut, Sie vollziehen öffentlich eine Veränderung, die Sie aber nicht erklären. Dann darf ich noch einmal meine konkrete Frage zum Entschädigungspunkt wiederholen: Punkt 7 der Petitionsempfehlung sieht durchaus vor, dass mögliche Forderungen der Heimkinder an diesem runden Tisch ergebnisoffen diskutiert werden. Das muss nicht unbedingt ein Entschädigungsfonds sein, aber es kann durchaus eine andere Form der Wiedergutmachung ? Rentenanerkennung oder sonst etwas ? sein. Verstehen die Heimkinder den Brief der Ministerin richtig, wenn sie Entschädigungsforderungen jetzt ganz ausgeschlossen sehen, oder sagt das Ministerium "Andere Formen als ein Entschädigungsfonds sind durchaus in diesem Verfahren noch zu diskutieren und möglich"?

KINERT: Der runde Tisch ist ein erstes Forum, bei dem darüber gesprochen wird, was die nächsten Schritte sein werden. Es geht nicht darum, von vornherein bestimmte Dinge auszuschließen. Allerdings ist das der Begriff "Entschädigungsfonds, welcher eingerichtet werden soll" so in dem Beschluss des Petitionsausschusses nicht enthalten. Insofern kann ich nur noch einmal wiederholen: Der runde Tisch wird sich mit den weiteren Schritten befassen und weitere Entscheidungen treffen, aber ich kann hier nicht ausschließen, dass bestimmte Dinge entschieden und bestimmte Dinge nicht entschieden werden, sondern der runde Tisch ist ein erster Schritt.

FRAGE: Das wären auch meine Fragen gewesen. Ich möchte sie durch zwei ergänzen: Ist das Ministerium im Gespräch mit Frau Vollmer, der Vorsitzenden des runden Tisches? Zur zweiten Frage: Der Vorsitzende des Vereins der Heimkinder sagt, sofern die Betroffenen tatsächlich nur mit zwei Vertretern beteiligt werden sollten, werde man sich überlegen, ob man an diesem Verfahren überhaupt teilnehmen werde. Ist Ihnen das bekannt?

KINERT: Wir sind im Gespräch mit Frau Vollmer, die den Vorsitz oder die Moderation des runden Tisches übernehmen soll; das ist richtig. Über die Zusammensetzung des runden Tisches ist ebenfalls noch nicht entschieden worden. Auch wenn Sie das jetzt nicht hören mögen: Auch das ist aus unserer Sicht ein laufendes Verfahren, und insofern hat es gar keinen Sinn, über "Was passiert, wenn?" zu spekulieren.

ZUSATZFRAGE: Ist Frau Vollmer denn damit einverstanden, dass der Deutsche Verein die Organisation übernimmt?
KINERT: Wir stehen mit Frau Vollmer im Gespräch. Ein Gespräch findet sogar heute Vormittag statt, wenn ich das richtig im Kopf habe. Wie Frau Vollmer dazu steht, kann ich an dieser Stelle nicht sagen. Ich spreche für das Ministerium; ich kann nicht für Frau Vollmer sprechen.

FRAGE: Herr Kinert, es gibt ein Schreiben von Frau von der Leyen, in dem sie ausdrücklich sagt, ein solcher Fonds werde nicht angestrebt. Sie sagen nun, es gebe keine Maßnahme, die von vornherein ausgeschlossen ist. Wie verträgt es sich denn, dass ein Fonds nicht angestrebt wird und Sie sagen, es sei nichts ausgeschlossen?

KINERT: Es gibt ja Möglichkeiten, möglicherweise außerhalb eines Fonds zu einer Einigung zu kommen, die alle Beteiligten zufriedenstellt. Aber den Auftrag für einen Entschädigungsfonds, welcher eingerichtet werden soll, werden Sie in der Beschlussempfehlung nicht finden. Der runde Tisch hat den Zweck, tatsächlich die nächsten Schritte festzulegen. Es geht jetzt erst einmal darum, dass der runde Tisch zum ersten Mal tagt, damit es keine weiteren Verzögerungen gibt.

ZUSATZFRAGE: Wenn ich noch einmal nachhaken darf: Was spricht denn, auch wenn das nicht im Bericht des Petitionsausschusses steht, gegen einen solchen Fonds? Wenn, wie Sie sagen, nichts ausgeschlossen ist, warum schließt die Ministerin denn dann einen Fonds aus?

KINERT: Ich kann mich da nur noch einmal wiederholen. Ich werde hier nicht Dinge vorwegnehmen, bevor nicht der runde Tisch zum ersten Mal getagt hat und bevor nicht die Experten, die dort am runden Tisch sitzen werden, die weiteren Schritte besprochen haben. Insofern können wir uns hier über inhaltliche Dinge heute nicht verständigen.

FRAGE: Die Frage nach der Anerkennung von Rentenzeiten war nicht beantwortet worden. Schließt die Ministerin auch das aus, oder ist das aus ihrer Sicht ein Punkt, über den man reden kann? Der wird auch in dem Beschluss des Petitionsausschusses erwähnt.

Zweite Frage, die ich habe: Was wissen Sie über die Reaktion der Kirchen, die Bereitschaft der Kirchen, daran teilzunehmen, vor allen Dingen der Katholischen Kirche?

KINERT: Zunächst zur zweiten Frage: Ich bin nicht darüber unterrichtet, wie sich die Kirchen zu dieser Situation verhalten, und könnte für die Kirchen auch nicht sprechen.

Was Ihre erste Frage angeht: Ich kann an dieser Stelle keine inhaltlichen Angaben machen, wie das Ergebnis der Gespräche des runden Tisches aussehen wird. Es ist nämlich der Sinn des runden Tisches, sich zusammenzusetzen und die weiteren Schritte und mögliche Punkte, die sich aus diesen Gesprächen ergeben, weiter zu diskutieren. Aber es ergibt keinen Sinn und wird auch nicht passieren, dass ich hier inhaltliche Vorgaben vorgebe oder ausschließe.

ZUSATZFRAGE: Gibt es Bemühungen der Ministerin, die Kirchen ? insbesondere die Katholische Kirche ? zur Teilnahme zu bewegen?

KINERT: Wir sind mit allen relevanten Gruppen im Gespräch, die zur Aufarbeitung der Vorkommnisse rund um die Heimkinder beitragen können und die einen sinnvollen Beitrag zu diesem runden Tisch leisten können. Aber, wie gesagt, über die genaue Zusammensetzung ist noch nicht entschieden.

FRAGE: Wenn die Frage der Entschädigung ? abgesehen davon, dass es kein Fonds sein soll ? also ergebnisoffen ist, können Sie respektive kann die Ministerin nachvollziehen, dass die betroffenen Heimkinder, die jahrelang nicht über das erlittene Unrecht reden konnten, das von dieser Gesellschaft nicht anerkannt wurde und das eigentlich erst seit dem 4. September 2008 durch die Übernahme des Bundestagesbeschlusses einmal ausgesprochen worden ist, es als wirklich eklatanten Mangel an Fingerspitzengefühl empfinden, wenn die erste Einlassung des Familienministeriums zu diesem Thema ausdrücklich einen Entschädigungsfonds ausschließt?

KINERT: Selbstverständlich ist der Ministerin die Situation der Heimkinder bekannt, und Sie sehen auch an ihrer schnellen Reaktion, dass wir sehr gewillt sind, den runden Tisch einzusetzen. Natürlich ist der Ministerin klar, dass das ein sehr sensibles Thema ist. Aber jetzt über einzelne Punkte des runden Tisches und Ergebnisse desselben zu diskutieren, ergibt keinen Sinn, weil die Gespräche eben noch nicht stattgefunden haben.

ZUSATZFRAGE: Die Überweisung hat sich damals nicht nur an das Innenministerium gerichtet, sondern auch an das Arbeitsministerium und, wann immer das Justizministerium angesprochen ist, auch an das Justizministerium. An beide habe ich also die Frage, ob sie in irgendeiner Form mit dem Verfahren betraut, darüber informiert und damit bekannt gemacht worden sind.

SCHMIERER: Ich kann für uns nur sagen: Ich kann Ihnen diese Frage, ob das Justizministerium damit betraut ist, im Moment nicht beantworten. Mir ist das nicht bekannt.

SCHWARZ: Ich schließe mich dem an.
FRAGE: Wenn das inhaltlich so schwierig ist, dann stelle ich noch einmal die formale Frage. Es ist tatsächlich so, dass das an alle drei Ministerien überwiesen worden ist. Warum fühlt sich das Familienministerium an diese Empfehlung, die tatsächlich auf ein sehr langes Verfahren zurückgeht, nicht gebunden?

Ich habe noch eine konkrete Nachfrage. Sie sagten, alle Beteiligten wollten den Deutschen Verein. In dem Beschluss, an dem alle beteiligt waren, steht etwas anderes.

KINERT: Ich kann mich ? sicherlich zu Ihrem Ärger ? an dieser Stelle nur wiederholen: Über die Gründe dafür, dass die Entscheidungen so gefallen sind, wie sie sind, und dass der deutsche Verein auf Wunsch der von mir genannten Stellen die Organisation des rundes Tisches übernehmen soll, werde ich an dieser Stelle, weil es eben ein laufendes Verfahren ist, keine Auskunft geben. Wir sind sehr zuversichtlich, dass es im Januar eine erste Sitzung des runden Tisches geben wird. Dann wird man sehen, wie die nächsten Schritte sind, und dann kann man sicherlich auch inhaltlich sprechen.

12.01.09
Mitteldeutsche Zeitung
Schicksal misshandelter Heimkinder
Bock wird zum Gärtner

 
 von Stefan Sauer
 
Die Frage der Entschädigung von misshandelten Heimkindern sei offen, einen Entschädigungsfonds schließe man allerdings bereits aus. Den Rest berät ein Runder Tisch unter Federführung des "Deutschen Vereins für öffentliche und private Vorsorge". Mithin unter dem Dachverband der Täter-Organisationen Caritas und Diakonisches Werk. Die Entscheidungen des Familienministeriums zur Aufarbeitung der Zustände in Waisenhäusern, Kinderheimen und Erziehungsanstalten in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten sind mindestens unsensibel.
Viel näher als Tollpatschigkeit liegt aber der Verdacht, das Ministerium wolle die zweijährige Vorarbeit des Bundestagspetitionsausschusses zu dem Thema gleichsam ungeschehen machen. Ministerin Ursula von der Leyen (CDU) lehnt den Vorschlag eines Entschädigungsfonds ab, ernennt zugleich den Bock zum Gärtner und scheint auf diese Weise das gerade für die beiden großen Kirchen unliebsame Thema entsorgen zu wollen. Diesem Kalkül, sollte es existieren, darf der Bundestag nicht entsprechen.

URL: 'http://www.mz-web.de/artikel?id=1231773667586'

12.1.2009
epd
Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers
Streit um Runden Tisch für ehemalige Heimkinder
 

Bremen/Berlin (epd). Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) will offenbar eine Debatte über einen Entschädigungsfonds für ehemalige Heimkinder verhindern. In einem Brief an die Länderminister, der dem epd vorliegt, schreibt die Ministerin: "Die Einrichtung eines 'Nationalen Entschädigungsfonds' wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt." Eine Beschlussempfehlung des Bundestags lässt demgegenüber die Frage nach der Form möglicher Entschädigungen an ehemalige Heimkinder offen. Die Einrichtung eines Fonds war unter anderem von den Grünen ins Gespräch gebracht worden.

Zwischen 1945 und den 70er Jahren wurden mehrere hunderttausend Kinder und Jugendliche in Waisenheime und Erziehungsanstalten der Bundesrepublik eingewiesen. Die Mehrzahl der Heime wurde von Ordensgemeinschaften, der Caritas und der Diakonie geführt. Viele Kinder und Jugendliche waren durch brutale Erziehungsmethoden, Arbeitszwang, Prügel und sexuelle Übergriffe traumatisiert worden. Die ehemaligen Heimkinder brachen erst vor wenigen Jahren ihr Schweigen und organisierten sich in Selbsthilfevereinen. In Niedersachsen hatte das Diakonische Werk im vergangenen September eine Telefon-Hotline eingerichtet, nachdem Fälle von Misshandlung und Gewalt in evangelischen Erziehungsheimen bekannt geworden waren. Daraufhin meldeten sich 180 ehemalige Heimkinder.

Der Bundestag hatte nach zweijähriger Vorarbeit des Petitionsausschusses Anfang Dezember der Bundesregierung die Einrichtung eines Runden Tisches empfohlen, der das an den Heimkindern begangene Unrecht aufarbeiten und auch Entschädigungsfragen klären soll. Zuständig ist das Familienministerium, die Länder sollen einbezogen werden.

Vor diesem Hintergrund hatte sich von der Leyen noch im Dezember an den damaligen Vorsitzenden der Jugend- und Familienministerkonferenz, den Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner gewandt. Inzwischen hat das Land Bremen den Vorsitz übernommen. Die Bremer Jugendsenatorin Ingelore Rosenkötter (SPD) sagte dem epd, "die Länder werden offen in die Debatte am Runden Tisch hineingehen". Die Haltung zu einem Fonds sei uneinheitlich. Es dürften aber keine Ergebnisse vorweggenommen werden.

Ein Sprecher von der Leyens erklärte in Berlin, er könne keine Auskunft »über ein laufendes Verfahren" geben. Es gehe der Ministerin aber nicht darum, Dinge auszuschließen. Der Sprecher bestätigte, dass von der Leyen die Organisation des Runden Tisches entgegen anderer Empfehlungen des Bundestages dem Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge übertragen will. Dies werde von allen Beteiligten auch so gewünscht.

Der Deutsche Verein ist die Dachorganisation der im öffentlichen Sektor tätigen Wohlfahrtspflege. In ihm sind auch die Organisationen der früheren Heimträger wie Caritas und Diakonie vertreten. Der Bundestag hatte demgegenüber kirchenunabhängige Verbände und Institute der Jugendhilfe als Organisatoren empfohlen, die im Auftrag des Petitionsausschusses einen Fahrplan für den Runden Tisch erarbeitet haben.

Der Vorsitzende des Heimkinder-Vereins, Hans-Siegfried Wiegand, sagte dem epd, den Deutschen Verein beauftragen zu wollen, sei "ein Missgriff der Ministerin". Der Deutsche Verein sei wegen seiner Geschichte nicht geeignet, den Runden Tisch zu organisieren, da er in die Heimerziehung des Nationalsozialismus sowie der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland selbst verstrickt gewesen sei.

Wiegand kritisierte außerdem, dass nach den Plänen der Ministerin nur zwei Vertreter der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch sitzen sollen. Damit seien die Betroffenen nicht ausreichend repräsentiert. Mit nur zwei Vertretern, so Wiegand, "würden wir höchstwahrscheinlich nicht teilnehmen". Insgesamt bewertet der Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder von der Leyens Vorgehen skeptisch: "Was die Ministerin will, sieht aus wie eine geschäftsmäßige Erledigung".

epd-lnb mir / 12.1.2009
Copyright: epd-Landesdienst Niedersachsen-Bremen
URL des Artikels:
http://www.evlka.de//content.php?contentTypeID=4&id=9763
© Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers

12.01.09
Kölner Stadt-Anzeiger
GEWALT IN KINDERHEIMEN
Streit um Wiedergutmachung

Von Stefan Sauer und Corinna Schulz,

Hintergrund sind die unwürdigen Zustände in kirchlichen Kinderheimen in den fünfziger und sechziger Jahren. Obwohl der Bundestag die Weichen für eine Entschädigung der Betroffenen gestellt hat, blockiert Familienministerin von der Leyen die Beschlüsse.

BERLIN - Zwei Jahre lang hatte sich der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags mit dem bedrückenden Thema beschäftigt und einen Beschluss gefasst. In seltener Einmütigkeit hatte der Bundestag einstimmig am 4. Dezember 2008 diesen Beschluss verabschiedet und die Betroffenen um Entschuldigung für geschehenes Unrecht gebeten. Nun habe Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) die bisherigen Bemühungen um eine Aufarbeitung der Heimunterbringung von rund 500.000 Kindern und Jugendlichen zwischen 1945 und 1975 „wieder zurück auf Null gestellt“, wie der Obmann der grünen Bundestagsfraktion im Petitionsausschuss, Josef Philip Winkler, bitter feststellt.>p>
Hintergrund sind die verbreitet unwürdigen Zustände in Kinderheimen in den frühen Jahren der Republik, um Gewalttaten des „Erziehungspersonals“, um sexuelle Übergriffe, die Verabreichung von Psychopharmaka und unbezahlte Zwangsarbeit. Der Petitionsausschuss und anschließend der Bundestag hatten die Einrichtung eines runden Tisches beschlossen, um die damaligen Vorkommnisse mit Heimträgern, Vertretern der Betroffenen und Fachleuten unter Leitung der ehemaligen Vizepräsidentin des Bundestags, Antje Volmer (Grüne), aufzuarbeiten. Dabei sollte auch die Frage einer Entschädigung „ergebnisoffen“ geprüft werden.

Die Ergebnisoffenheit sieht Winkler nun kaum mehr gewährleistet. Von der Leyen hatte in einem Brief an Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) geschrieben, die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds werde „von Bundesregierung und Bundestag nicht angestrebt“. Für Hans-Siegfried Wiegand, Vorstand des Vereins ehemalige Heimkinder, ist das Verhalten der Ministerin völlig unverständlich: „Warum brüskiert die Ministerin alle, die so lange und intensiv an dem Thema mitgearbeitet haben, indem sie plötzlich so vieles einfach ändert.“ Auch die Vorsitzende des Familienausschusses, Kerstin Griese (SPD), zeigt sich „überrascht, dass noch vor der ersten Sitzung des Runden Tisches bestimmte Ergebnisse ausgeschlossen werden“. SPD-Familienfachfrau Christel Humme plädiert im Widerspruch zu von der Leyen ausdrücklich dafür, „den Betroffenen auf jeden Fall eine Entschädigung zukommen zu lassen“.

Ein Sprecher des Familienministeriums sagte zwar, es gehe nicht darum, „bestimmte Dinge auszuschließen“. Warum seine Ministerin gleichwohl einen Fonds im Vorhinein eine Absage erteilte, vermochte der Sprecher nicht zu erklären. Es gebe aber Möglichkeiten, den Betroffenen eine Entschädigung außerhalb einer Fondslösung zukommen zu lassen.

Für mindestens ebenso großen Ärger sorgt die Entscheidung des Ministerium zur Geschäftsführung des Runden Tisches. Bisher hatten die Dachorganisation der Kinder und Jugendhilfe AFET sowie das Jugend-und Familieninstitut DIJUV die Federführung übernommen und bereits ein Konzept zu möglichen Entschädigungsansprüchen vorgelegt. Von der Leyen übertrug nun die Leitung dem „deutschen Verein für öffentliche und private Vorsorge“. Pikant: Es handelt sich dabei um einen Dachverband, dem auch Caritas und Diakonisches Werk angeschlossen sind. Diese beiden sowie andere kirchennahe Träger betrieben aber die ganz überwiegende Zahl der 3000 westdeutschen Kinderheime, in denen Kinder misshandelt worden waren. Winkler formuliert einen Erklärungansatz: „Für mich deutet alles darauf hin, dass man den Verein für ehemalige Heimkinder zun einer überzogenenen Gegenreaktion anstacheln will. Wenn die hinschmeißen und sagen „Rutscht uns doch den Buckel runter“ ist Frau von der Leyen das Problem los.“

© Kölner Stadt-Anzeiger
URL: http://www.ksta.de/html/artikel/1231173648899.shtml

12.01.2009 
TAZ.de
Von der Leyen will nicht entschädigen
Heimkinder gehen leer aus

Familienministerin von der Leyen will ehemalige Heimkinder, die Zwangsarbeit leisten mussten, nicht entschädigen. Ausgerechnet die Täterverbände sollen die Aufklärung leiten. VON MARLENE HALSER

Auf Bund und Länder könnten Entschädigungsforderungen in Milliardenhöhe von ehemaligen Heimkindern in Deutschland zukommen. Doch Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) scheint eine Debatte über diese Forderungen schon im Vorfeld verhindern zu wollen. In einem der taz vorliegenden Brief an Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) schreibt sie: "Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt."
Damit unterläuft die Ministerin nach Ansicht der Mitglieder des Vereins für ehemalige Heimkinder (VEH) einen Beschluss des Bundespetitionsausschusses. Dieser hatte sich im Dezember für die Einrichtung eines runden Tischs zur Aufarbeitung der westdeutschen Heimerziehung zwischen 1945 und 1975 ausgesprochen. Über etwaige Entschädigungszahlungen hätte im Rahmen des runden Tischs diskutiert werden sollen.
Oft aus nichtigen Gründen waren etwa 800.000 Kinder und Jugendliche in der Nachkriegszeit vom Staat in rund 3.000 westdeutsche Heime eingewiesen worden. Unter der Obhut kirchlicher Trägervereine wie der Caritas und dem Diakonischen Werk waren die Jungen und Mädchen in den Heimen zum Teil gequält und misshandelt worden. "Viele Betroffene leiden heute noch unter den Folgen der Geschehnisse", beklagt der Sprecher des Opfervereins, Michael-Peter Schiltsky. "Sie mussten folterähnliche Bestrafungen hinnehmen, harte industrielle Arbeit ohne Bezahlung und ohne Rentenansprüche ableisten, sie bekamen ungefragt Psychopharmaka, viele wurden über Jahre sexuell missbraucht."
Manfred Kappeler, der sich mit dem Thema seit 40 Jahren wissenschaftlich befasst und den VEH unterstützt, sieht in der Stellungnahme der Ministerin den "Versuch, dieses außerordentlich heikle Thema im Wahljahr auf kleiner Flamme zu kochen und nach der Wahl stillschweigend zu entsorgen". Das Bundesfamilienministerium wollte sich auf Nachfrage nicht zu den Vorwürfen äußern. Der Vorgang müsse noch mit den Ländern abgestimmt werden. Zu einem laufenden Beschlussverfahren könne man keine Stellung nehmen, so ein Sprecher.
Mit Hilfe des runden Tischs, der Ende Januar zu seiner ersten Sitzung zusammentreten könnte, sollen die Menschenrechtsverletzungen in deutschen Erziehungsheimen nun aufgearbeitet werden. Unter der Moderation der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, Antje Volmer (Grüne), wollen die Opfer mit den verantwortlichen Heimträgern die noch vorhandenen Akten sichten und auswerten, sowie Lösungsvorschläge zur Rehabilitierung der misshandelten Heimkinder und zur Berücksichtigung von individuellen Rentenansprüchen entwickeln.
Doch nicht einmal die Zusammensetzung des runden Tischs ist konsensfähig. Das ursprüngliche Konzept hatten die Kinder- und Jugendhilfe Dachorganisation AFET und das Deutsche Institut für Jugend- und Familienrecht DIJUV erarbeitet. Wie aus einem Schreiben des Parlamentarischen Staatssekretärs im Familienministerium, Hermann Kues (CDU), an den Petitionsausschuss hervorgeht, will das Ministerium nun statt der beiden kirchenunabhängigen Vereine den "Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge" mit der Organisation des runden Tischs betrauen - ausgerechnet den Dachverband der ehemaligen Täterorganisationen. Für die Mitglieder des VEH ist diese Entscheidung nicht zuletzt aufgrund der NS-Vergangenheit des Vereins untragbar.
Zudem kritisiert der VEH, dass von der Leyen neben Entschädigungsansprüchen auch auf die Einrichtung einer Hotline für ehemalige Heimkinder und die Unterstützung der Opfer bei ihrer Traumatherapie verzichten will. Zu guter Letzt sollen nach dem Willen des Ministeriums lediglich zwei Betroffene am runden Tisch teilnehmen dürfen. Die Opfer befürchten, dadurch marginalisiert zu werden.
http://www.taz.de/nc/1/politik/deutschland/artikel/1/heimkinder-gehen-leer-aus&src=PR
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10. Januar 2009, 02:02 Uhr
Welt-Online
Neuer Streit um Entschädigung für Ex-Heimkinder


Berlin - Um den vom Bundestag beschlossenen Runden Tisch über das Schicksal ehemaliger Heimkinder in Deutschland gibt es neuen Streit. Der "Verein ehemaliger Heimkinder" (VEH) warf dem beim Runden Tisch federführenden Bundesfamilienministerium vor, in mehreren Punkten von den Beschlüssen des Bundestagspetitionsausschusses abweichen zu wollen. Damit werde das Ziel gefährdet, die Geschichte der Heimerziehung in Deutschland aufzuarbeiten und die Leiden der Opfer anzuerkennen.
Zahlreiche Kinder und Jugendliche sollen bis Ende der Sechzigerjahre in staatlichen und kirchlichen Heimen misshandelt und ausgebeutet worden sein. Der VEH hält Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) nun insbesondere vor, dem Runden Tisch lediglich eine "Erörterungs- und Abklärungsfunktion" zukommen lassen zu wollen. Über die Einrichtung eines Entschädigungsfonds solle dabei "nicht einmal mehr diskutiert werden, das Ministerium will dies von vorneherein kategorisch ausschließen", hieß es. KNA

URL: http://www.welt.de/welt_print/article3002416/Neuer-Streit-um-Entschaedigung-fuer-Ex-Heimkinder.html

3.1.2009
Pfälzischer Merkur
Schläge im Namen des Herrn

Misshandlung, Zwangsarbeit, sexueller Missbrauch: Das haben tausende Heimkinder in den 50erund 60er Jahren erlebt. Jetzt soll ein "Runder Tisch" unter dem Vorsitz von Antje Vollmer (Grüne) die Vorfälle aufklären.
Von Merkur-Korrespondent Werner Kolhoff

Berlin. Es ist verborgenes Unrecht, und es ist noch nicht lange her. 200 000 Kinder und Jugendliche lebten in den 50er und 60er Jahren jeweils gleichzeitig in geschlossenen Heimen der alten Bundesrepublik, über eine Million dürften es insgesamt gewesen sein. Sie alle sind heute 50 oder 60 Jahre alt; und viele von ihnen haben traumatische Dinge erlebt: Misshandlung, Einsperrung, Zwangsarbeit, sexueller Missbrauch, Ruhigstellung mit Medikamenten und Schikanen. Weil die Betroffenen ihre Stimme immer lauter erheben, wagt der Bundestag nun ein einmaliges Experiment. Ein "Runder Tisch" soll die Vorgänge aufklären. Eine "kleine Wahrheitskommission", wie es die zur Vorsitzenden ernannte ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) nennt. Ein Begriff aus dem Südafrika unmittelbar nach der Apartheid.
Vollmer sagt, dass sie "große Manschetten" vor der Aufgabe hat. Denn die Erwartungen der Opfer sind riesig. Und die Empfindlichkeiten der damaligen Erzieher und ihrer Trägerinstitutionen ebenfalls. Noch keine Eingabe habe den Petitionsausschuss so beschäftigt, wie die der ehemaligen Heimkinder, sagt die Vorsitzende des Gremiums, Kersten Naumann (Linke). Zur entscheidenden Sitzung kam demonstrativ auch Parlamentspräsident Norbert Lammert (CDU). Es wäre, sagt er, zu rechtfertigen gewesen, die Petition einfach an die zuständigen Länder zu verweisen. Doch das wolle man aus "Wertschätzung für das Anliegen" nicht.
"Schwarze Pädagogik"
Die meisten der Heime gehörten den beiden Kirchen oder Orden. Aber, hier beginnt die Schwierigkeit, sie unterstanden ihnen oft nicht direkt. Heute, sagt Antje Vollmer, sind die Häuser teilweise komplett aufgelöst, und wenn nicht, wird dort ein ganz anderer Erziehungsstil praktiziert. Damals aber herrschte die "schwarze Pädagogik", nahtlos übernommen aus Kaisers und Hitlers Zeiten. Vollmer, selbst Erzieherin, hat das erlebt, als sie im Jahr 1962 im Alter von 19 Jahren zum Praktikum in ein Heim für psychisch Kranke kam. "Die wurden zur Strafe in kaltes Wasser gesetzt.". Der "Spiegel"-Journalist Peter Wensierski hat dem Skandal mit seinem Buch "Schläge im Namen des Herrn" einen Titel gegeben - und viele Betroffene ermuntert, sich zu melden. Eingewiesen werden konnte damals praktisch jeder. So genannte "gefallene Mädchen", die der herrschenden Sexualmoral nicht entsprachen. Kinder allein erziehender Mütter oder überforderter Eltern, die in den Wirtschaftswunderjahren mit dem Alltag nicht fertig wurden. Und Behinderte. Aber, hier liegt die nächste Schwierigkeit, wie und wo unterschied sich die Schikane in den Heimen von der autoritären Erziehung, die überall herrschte? Das "Besondere" müsse herausgearbeitet werden, auch um die Gruppe der wirklichen Opfer abgrenzen zu können, sagt Vollmer. Und um die wirklich Verantwortlichen zu finden.
Vollmer ist bei den Zielen des Runden Tisches ganz vorsichtig. Zunächst geht es ihr darum, ihn überhaupt in Gang zu bringen. Die Länder sollen mitmachen und natürlich die Kirchen. Die evangelische Kirche zeigt sich bisher noch am meisten aufgeschlossen, etwa Niedersachsens Landesbischöfin Margot Käßmann, die offen von Menschenrechtsverletzungen spricht. "Auch wir haben Schuld auf uns geladen". Die katholische Kirche ist da wesentlich zurückhaltender. Für die Betroffenen, organisiert im "Verein ehemaliger Heimkinder", ist die Anerkennung ihres Schicksals ein erster wichtiger Schritt. Im zweiten aber geht es um ein ganz anderes Thema: Entschädigung, so wie bei den Zwangsarbeitern der Nazi-Zeit. Auch wird die Anerkennung der Heimzeiten in der Rentenversicherung gefordert.