2008

20.11.2008
Pressemeldung des Deutschen Bundestages -

Bundestagspräsident Lammert bei der öffentlichen Beratung
des Petitionsausschusses zum Thema "Heimkinder"

Pressemitteilung des Deutschen Bundestages:
20.11.2008


Heimkinder der Nachkriegszeit melden sich zu Wort

17.11.2008
Kieler-Nachrichten

Unwürdige "Umerziehung"

17. November 2008 
shz.deSchlewig-Holsteiner-Zeitung

Ein dunkles Kapitel kommt ans Licht
Von Christine Reimers

22. Oktober 2008
NDR 1 Niedersachsen

Bundestag will Nationale Konferenz für misshandelte Heimkinder einrichten

21.09.2008
ZEIT online, Tagesspiegel

Entschädigung:
Bundestag will sich um ausgebeutete Heimkinder kümmern


15.09.2008
HAZ.de Hannoversche Allgemeine

NDR: Schwere Misshandlungen in kirchlichen Kinderheimen

5. September 2008
Frankfurt-live.com

Bleibe auf Zeit

Kinder- und Jugendheim Buchenrode feiert fünfzigjähriges Bestehen

 
14.08.2008
tagesspiegel

http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/Bistum-Bamberg-Missbrauch;art122,2592510

Missbrauch

Wenn der Glaube weh tut

6. August 2008
HL-live.de
Baasch: Fürsorgeerziehung aufarbeiten

22.07.2008
Neues Deutschland

»Fürsorge« im Streifenhemd der Nazis


17. 7. 2008
Pressedienst - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein
Monika Heinold:
Menschenrechtsverletzungen muss man beim Namen nennen


17. Juli 2008
Presseinformation der FDP Landtagsfraktion Schleswig-Holstein
Nr. 221/2008 Kiel, Donnerstag, 17. Juli 2008
Wolfgang Kubicki:
,,Den Opfern helfen, das Erlebte zu überwinden."

17. Juli 2008
Presseinformation der CDU-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein
Heike Franzen:
Geschehnisse in den Landesfürsorgeheimen aufarbeiten



17.07.2008
Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein

Wolfgang Baasch:
Missstände in der Fürsorgeerziehung bundesweit aufarbeiten


17.07.2008
Presseinformation Südschleswigscher Wählerverband

Anke Spoorendonk
Entschließung des Landtages zur Unterbringung und Zwangsarbeit von Kindern/Jugendlichen in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung


16.07.2008
Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein

Bedauern über Vorfälle im Fürsorgeheim Glückstadt

26.6.2008
Der Tagesspiegel
Direkt zum Tagesspiegel
Interview mit Peter Wensierski
"Das Schweigen ist durchbrochen"


22.Juni 2008
READERS EDITION

Kinder- und Jugendhilfetag in Essen:
Offener Brief an Bischof Huber


13. Juni 2008
Berliner Umschau


Entschuldigung für jahrzehntelanges Leid
Kanadas Ministerpräsident bittet Ureinwohner um Verzeihung


11. Juni 2008
Focus-online

 
Kanada
Entschuldigung bei Indianern


3. Juni 2008
SHZ.de

NORDDEUTSCHE RUNDSCHAU
ZDF-Dokumentation über Fürsorgeheim

27. Mai 2008
SHZ.de -
URL: http://www.shz.de/

SCHLESWIG-HOLSTEIN
Gefangen im Namen der Fürsorge

24.04.2008
RP ONLINE
www.rp-online.de/public/article/solingen/559776/Tore-die-geschlossen-bleiben.html

Tore, die geschlossen bleiben

22.04.2008 
ZDF frontal 21

Torf stechen: Schwerstarbeit für "Heimzöglinge"

Zwangsarbeit für die Kirche?

Sendung ansehen: Frontal 21

18.April 2008
READERS EDITION

Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XXXVII):
Frontal 21 berichtet über Heimkinder

19.02.2008
READERS EDITION

Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken
(XVI)

NETZEITUNG.DE
13. Februar 2008

Australien kämpft um neues Image

12.02.2008
Wiesbadener Tagblatt

Die Schwachen nur als Last empfunden

25. Januar 2008
rbb-online
zibb vom 25.1.2008
Tatsachenbericht

Entschädigung für ehemalige Heimkinder

23.01.2008
Junge Welt

Tausende Einzelfälle

Ehemalige Heimkinder fordern Entschädigung für Sklavenarbeit.

22.01.08
Der Paritätische Gesamtverband
Die Erfahrungen und Forderungen ehemaliger Heimkinder waren wieder Thema einer

Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages

22.01.2008
domradio - kna

Verlorene Jahre

Ehemalige Heimkinder fordern Runden Tisch

21.Januar 2008
Die Welt - Online

Runder Tisch im Skandal um Heim in Glückstadt

18.Januar 2008
taz.de
Justizskandal im Jugendheim

Das Leiden von Glückstadt

04.01.2008
Rheinische Post
:

NRW - also doch Erziehungscamps

3. Januar 2008
Thüringer Allgemeine

Aufgewachsen im Kinderheim in Eisenach,
drehte eine Frau einen Lehrfilm für Erzieher in den USA

1. Januar 2008
n-tv

US-"Boot Camps"

Manche überleben nicht

2008



Pressemeldung des Deutschen Bundestages -
20.11.2008


Bundestagspräsident Lammert bei der öffentlichen Beratung
des Petitionsausschusses zum Thema "Heimkinder"

Zeit: Mittwoch, 26. November 2008, 17 bis 19 Uhr

Ort: Paul-Löbe-Haus, Europasaal 4.900

 Zum Thema der Heimunterbringung in den 60er und 70er Jahren führt der Petitionsausschuss am 26. November 2008 eine öffentliche Beratung durch, an der auch Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert und Vizepräsidentin a.D. Dr. Antje Vollmer teilnehmen werden. Auch acht Betroffene des Vereins ehemaliger Heimkinder wurden eingeladen.
Das Parlamentsfernsehen überträgt die Sitzung im Anschluss an die Plenarsitzung im Web-TV und zudem wird sie im Video-on-Demand-Bereich bereitgestellt. Bild- und Tonaufzeichnungen von Dritten sind während der Sitzung nicht gestattet. Medienvertreter können jedoch die Sitzung vom Parlamentsfernsehen mitschneiden lassen. Interessierte Redaktionen wenden sich bitte an Herrn Erwin Ludwig vom Sekretariat des Petitionsausschusses, Tel. 030 227 33845.
Interessierte Zuhörer, die keinen Hausausweis des Bundestages haben, melden sich bitte unter Angabe von Namen und Geburtsdatum beim Sekretariat des Petitionsausschusses, Platz der Republik 1, 11011 Berlin (Tel.: 030 227 35257, Fax: 030 227 36053, E-Mail: vorzimmer.peta@bundestag.de) an. Zum Einlass wird ein gültiger Personalausweis benötigt.
Für Medienvertreter gelten die üblichen Akkreditierungsregelungen des Bundestages.
Herausgeber
Deutscher Bundestag, PuK 1 - Referat Presse - Rundfunk - Fernsehen
Dorotheenstraße 100, 11011 Berlin
Tel.: (030) 227-37171, Fax: (030) 227-36192

http://www.bundestag.de/aktuell/archiv/2008/22815554_kw48_petitionen2/

Pressemitteilung des Deutschen Bundestages:
20.11.2008


Heimkinder der Nachkriegszeit melden sich zu Wort
Öffentliche Sitzung des Petitionsausschusses mit Bundestagspräsident Lammert

Kinder, die von 1949 bis 1975 in öffentlichen Erziehungsheimen der Bundesrepublik Deutschland untergebracht waren, stehen im Mittelpunkt einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses am Mittwoch, dem 26. November 2008.
Dem Ausschuss liegen elf Petitionen vor, in denen die damalige Heimsituation der Kinder und Jugendlichen kritisiert wird. Dabei geht es um Grundsatzfragen zum Beitrags- und Versicherungsrecht in der gesetzlichen Rentenversicherung.
Zur Sitzung sind acht Betroffene des Vereins ehemaliger Heimkinder eingeladen. An der Beratung werden auch Bundestagspräsident Prof. Dr. Norbert Lammert und die frühere Bundestagsvizepräsidentin Dr. Antje Vollmer teilnehmen.
Das Parlamentsfernsehen überträgt die Sitzung im Anschluss an die Plenarsitzung im Web-TV. Zudem kann sie als Video-on-Demand im Internet abgerufen werden.
Hinweis: Bild- und Tonaufzeichnungen während der Sitzung sind nicht zugelassen.

Zeit: Mittwoch, 26. November 2008, 13.00 bis 15.00 Uhr
Ort:  Berlin, Paul-Löbe-Haus, Europasaal 4.900
 
Teilnahme an der Sitzung
Interessierte Zuhörer können sich unter Angabe von Namen und Geburtsdatum beim Sekretariat des Petitionsausschusses, Platz der Republik 1, 11011 Berlin, Tel. 030/227-35257, Fax: 030/227-36053, E-Mail: vorzimmer.peta@bundestag.de, anmelden. Zur Sitzung bitte den Personalausweis mitbringen.

Medienvertreter werden gebeten, sich beim Pressereferat (Telefon: 030/227-329239 oder 32924) anzumelden. Sie haben die Möglichkeit, sich die Sitzung vom Parlamentsfernsehen mitschneiden zu lassen (Kontakt: Sekretariat des Petitionsausschusses, Tel. 030/227-33845).

Kieler-Nachrichten
17.11.2008

Nicht nur im Fürsorgeheim Glückstadt wurden Kinder und Jugendliche gequält - 8000 Akten werden aufgearbeitet

Unwürdige "Umerziehung"

Kiel/Glückstadt - Tausende Kinder und Jugendliche waren zwischen 1949 und 1974 im Landesfürsorgeheim eingesperrt. Wurden gedemütigt, misshandelt, zu unentgeltlicher Arbeit gezwungen. "Umerziehung" lautete das Ziel. Die Vorgänge im Landesfürsorgeheim Glückstadt sollen jetzt anhand von über 8000 Akten im Landesarchiv systematisch aufgearbeitet und die Ergebnisse in einer Ausstellung im Landeshaus Ende 2009 präsentiert werden. Das ist das Resultat des "2. Runden Tisches zur Fürsorgeerziehung", der am Wochenende in Kiel stattfand und der auch zeigte: Glückstadt ist kein Einzelfall gewesen.

Eine orangefarbene Karteikarte ist für die Betroffenen zum Symbol geworden für das Heim, in das sie zwangsweise und in der Regel ohne richterlichen Beschluss als Kinder oder Jugendliche eingesperrt wurden. Denn die Karte offenbart mit deutscher Gründlichkeit den Geist in jenem Glückstädter Backsteinbau, der den Nationalsozialisten als Arbeitserziehungslager gedient hatte. "Die Karteikarten hatten wie so vieles andere problemlos die NS-Zeit überdauert. Man schrieb einfach über die Worte Arbeitserziehungslager, Häftling und Lagerkommandant handschriftlich Landesfürsorgeheim, Zögling und Heimleiter - fertig", sagt Otto Behnck aus Schwedeneck. Mit anderen Betroffenen forderte er 2007 die öffentliche Aufarbeitung der Vorgänge in Glückstadt und die Rehabilitation der damaligen "Heiminsassen". Unterstützung fanden die Betroffenen bei Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), die zügig einen Runden Tisch einrichtete und Prof. Christian Schrapper von der Universität Koblenz mit der Aufarbeitung beauftragte.

"Diese Arbeit ist noch lange nicht am Ende, aber es gibt deutliche Hinweise dafür, dass sich die menschenverachtende Praxis des Arbeitserziehungslagers in dem Fürsorgeheim fortgesetzt hat", sagte Schrapper am Wochenende. Der Wissenschaftler will jetzt mit seinem fünfköpfigen Team untersuchen, ob neben der Einrichtung - von den Karteikarten und der alten Häftlingskleidung bis zur Isolierzelle im Keller - auch Aufseher des NS-Lagers vom Land als Heimpersonal übernommen wurden. "Irritierend ist dabei ein Sachverhalt: 1949 wurde offiziell festgestellt, dass das ehemalige NS-Lager nicht als Heim geeignet sei. Dennoch fiel zwei Wochen später die Entscheidung, dort ein Heim für 125 Kinder und Jugendliche einzurichten", berichtete Schrapper. Und: Obwohl es mehrfach Jugendlichen gelang, dass ihre Beschwerden über die menschenverachtenden Zustände in dem Heim nicht wie üblich vor ihren Augen zerrissen wurden, sondern offizielle Stellen erreichten und die Missstände öffentlich wurden, konnte das menschenverachtende System bis 1974 fortbestehen.

Neben der Kontinuität aus der NS-Zeit wird Schrapper auch die Frage untersuchen, ob für die Arbeit der Zöglinge (45 Stunden pro Woche) Rentenversicherungsbeiträge gezahlt wurden. Der Ehemalige Rolf Breitfeld, der 1968/9 in Glückstadt leben musste und dadurch seine Schlosserlehre nicht beenden konnte, berichtete, dass seine Arbeit in Glückstadt bei der Rentenberechnung nicht anerkannt worden sei. "Es muss auch geklärt werden, ob und an wen die Firmen, für die die Jugendlichen entweder im Heim oder extern gearbeitet haben, Geld gezahlt haben", forderte Trauernicht.

Der frühere Segeberger Landrat Georg Gorrissen steht den Betroffenen ab sofort als unabhängiger Ansprech- und Beratungspartner zur Verfügung (zu erreichen über E-Mail georg@georg-gorrissen.de). Er rechnet damit, dass sich auch Betroffene aus anderen Heimen melden werden. Wie jene 38-Jährige, die mit acht Monaten in ein Kinder- und Säuglingsheim im Kreis Segeberg gebracht wurde und dort in den folgenden zehn Jahren nach eigener Aussage "Gewalt, Missbrauch und Bestrafungen wie Schlaf- und Essensentzug in einem unerträglichen Ausmaß miterleben musste, bis die radikale Wende in der Sozialpädagogik Einzug hielt".

Gorrissen wird sich zudem der ungeklärten Todesfälle in Glückstadt annehmen. Dazu zählen die bis jetzt amtlich festgestellten fünf Selbsttötungen. Zudem geht es um einen Zögling, der aus dem Heim türmte und in der Nähe von Heiligenstedten von einem Jagdpächter erschossen wurde, sowie um zwei Zöglinge, die bei ihrer Flucht in der Elbe ertrunken sein sollen.


URL: http://www.kn-online.de/schleswig_holstein/aus_dem_land/?em_cnt=61842&em_loc=13

shz.deSchlewig-Holsteiner-Zeitung
17. November 2008
 

Ein dunkles Kapitel kommt ans Licht
Von Christine Reimers

Vergitterte Fenster, Schläge und Einträge in alten Nazi-Formularen: Die düstere Epoche der Jugenderziehung soll aufgearbeitet werden - am Beispiel des Glückstädter Landesfürsorgeheims, das 1974 geschlossen wurde.

Dokument des Leidens: Der Personalbogen - einst für Häftlinge in der Nazi-Zeit benutzt, später für "Zöglinge" des Landesfürsorgeheims umfunktioniert. Repro: Staudt
Das ehemalige Jugendheim in Glückstadt war berüchtigt. Wer nicht parierte, kam in den Bunker. Schläge waren nicht ungewöhnlich. Harte Arbeit gehörte zum Alltag. Die Geschichte des Landesfürsorgeheimes, das 1974 auf politischen Druck geschlossen wurde, soll jetzt wissenschaftlich aufgearbeitet werden. "Dazu sind wir fest entschlossen", sagt Prof. Dr. Christian Schrapper jetzt auf einem Treffen in Kiel mit ehemaligen Heimzöglingen und Familienministerin Gitta Trauernicht.

Der Erziehungswissenschaftler aus Koblenz übernimmt die Auswertung der 3100 Akten des Heimes aus dem Landesarchiv Schleswig. Zudem stellt er Material für eine Ausstellung über das Landesfürsorgeheim zusammen. Sie soll im Dezember kommenden Jahres zuerst im Kieler Landeshaus gezeigt werden. Das sind die Ergebnisse des Runden Tisches, an dem auch Landrat a. D. Georg Gorrissen teilnahm. Er ist ab jetzt Ansprechpartner für ehemalige Heimzöglinge. Und er wird gemeinsam mit Prof. Schrapper Betroffene unterstützen, die ihre Akten im Landesarchiv einsehen wollen. Prof. Dr. Schrapper wertete die Zusage beim Runden Tisch als "mutig". "Das hat politische Gründe. 2010 sind Landtagswahlen. Deshalb müssen wir bei dem Thema Dampf machen."
Tabu wird gebrochen

Die Finanzierung des Projektes muss im Dezember im Landtag noch abgesegnet werden. Ministerin Trauernicht zeigte sich optimistisch, dass es keine Hürden geben wird. Denn es gehe nicht nur um eine Aufarbeitung, sondern auch um die "Zukunft menschlicher Jugendhilfe". Sie stelle sich gerne an die Spitze der Heim erziehung. Die Bedrohung, wieder geschlossene Heime einzuführen, sei ganz nah. Der Runde Tisch helfe für die Zukunft zu arbeiten. "Hier wird ein Tabu aufgebrochen." Sie dankte den ehemaligen Heimzöglingen: "Die zweite Empörungswelle wurde von Ihnen losgetreten." Alle Beteiligten des Runden Tisches werden direkt oder indirekt an der Aus stellung mitwirken. Denn die Thematik ist nicht einfach. Das Landesfürsorgeheim war während des Dritten Reiches ein KZ - dies belegen Unterlagen des Holocaust Museums in Washington - und Lager für russische Zwangsarbeiter.

Thema in Kiel war jetzt auch, wer von den Mitarbeitern, die vor 1945 dort arbeiteten, später im Heim als Erzieher eingesetzt wurden. Weiterhin geht es um die Verantwortung der Heimaufsicht - sie unterlag damals dem Ministerium. Dort waren die unhaltbaren Zustände bekannt. Dies geht aus alten Protokollen hervor. Zudem werden unter anderem Themen wie der Alltag im Landesfürsorgeheim, Arbeit als Erziehung, Strafpraxen und Todesfälle bearbeitet.
Peter Hub war 16 Jahre alt, als er seine Lehre zum Industriekaufmann "hinschmiss". 1971 war dies für seinen Stiefvater Grund genug, das Jugendamt einzuschalten. Peter Hub landete im Landesfürsorgeheim in Glückstadt. Der heute 53-Jährige ist einer von mehreren ehemaligen Zöglingen, die helfen, die Geschichte des Heimes aufzuarbeiten.

Email: georg@georg-gorrissen.de

Leserkommentare
 
HEINRICH THOMSEN
17.11.2008 12:47
Landeserziehungsheim
Dem Mut und dem Engagement einiger früherer "Insassen" dieser Anstalt verdanken wir, dass die Geschichte nun endlich bearbeitet wird.
Es ist eine Schande, dass erst jetzt dafür Interesse und Mittel bereit gestellt werden.
Warum ist die Stadt Glückstadt nicht aktiv beteiligt?
Mag man sich mit diesem Teil seiner Geschichte nicht befassen?
Muß ein Professor aus Koblenz forschen, wo doch sicher qualifizierte Wissenschaftler in Schleswig-Holstein und Hamburg existieren? Hier müßten doch Soziologen, Kriminologen und Psychologen ein Interesse haben, zu forschen - und das mit Mitteln, die das Land sowieso für die Hochschulen einsetzt.
Wenn die Stadt Glückstadt sich hier nicht aktiv einbringt, dann sagt das schon viel über die Stadt aus!

ROLF BREITFELD
17.11.2008 15:22
landesfürsorgeheim glückstadt
die kontinuität zur ns-zeit liesse sich sehr leicht nachweisen.
man nehme sich die personalakten der damaligen "erzieher", denn dort steht ja wohl auch drin wo diese vorher beschäftigt waren. oder will das mal wieder keiner?
eine aktive beteiligung der stadt glückstadt würde ich begrüssen.
ich möchte allerdings dazu bemerken dass meine dortigen anfragen stets zu meiner zufriedenheit beantwortet wurden. ein lob auch dem detlefsen-museum.

und hier noch ein aufruf an alle glückstädter bürger:
wer weiss noch etwas über personal und wärter der ehemaligen landesarbeitsanstalt? die meisten sind sowieso verstorben.
unter tel. 030/7824805 bin ich zu erreichen und sichere ihnen vertraulichkeit zu.
rolf breitfeld, "ehemaliger" 1965/66.

22. Oktober 2008

NDR 1 Niedersachsen

Bundestag will Nationale Konferenz für misshandelte Heimkinder einrichten

Der Deutsche Bundestag will nach Informationen von NDR 1 Niedersachsen die Misshandlungen an ehemaligen Heimkindern umfassend aufklären.
In einer Nationalen Konferenz soll die "Fehlentwicklung in den Kinderheimen von 1945 bis 1975" aufgearbeitet werden - das erfuhr NDR 1 Niedersachsen aus Kreisen der Opferverbände.
Die Mitglieder des Bundestags-Petitionsausschusses sind sich demnach einig, den Opfern der Gewaltexzesse mit der Konferenz ein Forum zu geben, Bundestagspräsident Lammert will den Beschluss Ende November offiziell verkünden.
Die Konferenz soll Entschädigungszahlungen für die ehemaligen Heimkinder beraten, aber auch eine wissenschaftliche Erforschung der Heimunterbringung in der Nachkriegszeit in Auftrag geben. Zudem soll über Hilfen für bis heute traumatisierte ehemalige Heimkinder beraten werden.
Experten gehen von einer halben Million Kinder aus, die in bundesdeutschen Kinderheimen bis in die 70er Jahre hinein massiver auch sexueller Gewalt ausgeliefert waren oder zwangsweise arbeiten mussten.

Holger Bock

NDR 1 Niedersachsen Tel. 0511 988-2191



ZEIT online, Tagesspiegel
21.09.2008

Entschädigung:
Bundestag will sich um ausgebeutete Heimkinder kümmern


In den 50er und 60er Jahren wurden Kinder in deutschen Heimen zur Arbeit gezwungen und ausgebeutet. Für Wiedergutmachung will sich nun der Bundestag einsetzen.
Nach der evangelischen Kirche will nun auch der Bundestag die lange verschwiegene Ausbeutung von Kindern in deutschen Heimen zwischen 1945 und 1970 thematisieren. Wie das Magazin „Der Spiegel“ berichtet, hat der Petitionsausschuss eine entsprechende Vorlage erarbeitet. Darüber hinaus will das Gremium nach Möglichkeiten der Wiedergutmachung für die Misshandlungen suchen.
Geplant sei eine bundesweite Konferenz, auf der Vertreter der Betroffenen mit ehemaligen Betreibern der Heime über konkrete Hilfen für die Geschädigten beraten sollen. Der Präsident der Diakonie, Klaus-Dieter Kottnik, habe Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) aufgefordert, die Finanzierung zu übernehmen. Vorgeschlagen wurde demnach auch eine Stiftung, in der neben Kirchen und Staat diejenigen Firmen einzahlen sollen, die von der Kinderarbeit profitiert haben.
Anfang vergangener Woche hatte die Diakonie in Niedersachsen die Misshandlung und den Missbrauch von Kindern in ihren Heimen in den 50er und 60er Jahren eingeräumt. (ut/dpa)


HAZ.de Hannoversche Allgemeine
15.09.2008

NDR: Schwere Misshandlungen in kirchlichen Kinderheimen

In kirchlichen Kinderheimen ist es nach Recherchen des Senders NDR 1 Niedersachsen in den 50er und 60er Jahren zu schweren Misshandlungen bis hin zu sexuellem Missbrauch gekommen.

Das werde durch eine Dokumentation belegt, die von der Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers in Auftrag gegeben wurde, teilte der Sender am Montag in Hannover mit.

Der Autor gehe sogar davon aus, dass die Übergriffe die Regel gewesen seien. Bislang hätten Diakonie und Caritas immer von Einzelfällen gesprochen.  In den Heimen habe es Fußtritte, Schläge, Demütigungen und sogar Vergewaltigungen von Kindern durch Aufseher gegeben, hieß es. Außerdem seien Formen von Zwangsarbeit verordnet worden wie Torfstechen oder Straßenbau. Bundesweit seien rund eine halbe Million Kinder von Gewalt in kirchlichen Heimen betroffen gewesen. 

Der NDR berichtet von einem konkreten Fall aus der Diakonie Freistatt bei Diepholz. Ein Zeitzeuge, der dort aufwuchs, beschreibt dem Sender, dass die Betreuer die Kinder im Entengang um einen Tisch hätten laufen lassen. Wer sich nicht gebückt habe, sei mit einem Stock brutal traktiert worden. Er selbst sei mehrere Male blutig geschlagen worden. 

Viele der Opfer leben laut NDR heute in Armut und haben sich nie richtig von dem erlittenen Unrecht erholt. Bis heute hätten sich die beiden großen Kirchen weder bei ihnen entschuldigt noch eine Entschädigung gezahlt.

Die Diakonie Freistatt will den Angaben zufolge im kommenden Jahr ein Buch über die Vorfälle vorlegen.

Frankfurt-live.com
5. September 2008


Bleibe auf Zeit
Kinder- und Jugendheim Buchenrode feiert fünfzigjähriges Bestehen

 
Niederrad - Am Freitag, 5. September, feiert die Frankfurter Stiftung Waisenhaus das fünfzigjährige Bestehen des Kinder- und Jugendheims Buchenrode in der Niederräder Landstraße 38 mit einem großen Sommerfest. Ab 13 Uhr sind ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner, Eltern, Nachbarn sowie interessierte Bürger eingeladen, sich selbst ein Bild von der Jugendhilfeeinrichtung zu machen.

In einem Erzählcafé interviewt die Sozialarbeiterin und stellvertretende Direktorin der Stiftung Barbara Bornemann-Sörgel ab 13.30 Uhr zwei frühere Bewohnerinnen und einen Bewohner. Sie berichten über ihre Erfahrungen mit der Heimerziehung der fünfziger und sechziger Jahre, über ihre oft traumatischen Erlebnisse und wie sie trotzdem ihr Leben meisterten. Ein Rundgang durch das soeben grundsanierte und erweiterte Haus Buchenrode informiert über die inzwischen fundamental veränderte Heimerziehung, die den Betreuten heute endlich Mitspracherechte einräumt. Im Garten und auf den Sportplätzen der Einrichtung werden zahlreiche Aktivitäten für Kinder und Jugendliche angeboten. Bei einem Imbiss können sich die Besucher über ihre Eindrücke austauschen.

Bei dieser Gelegenheit wird der Direktor der Stiftung Peter Gerdon die zum Jubiläum erscheinende 84-seitige Broschüre "Bleibe auf Zeit. 50 Jahre Kinder- und Jugendheim Buchenrode. Ein kritischer Rückblick" vorstellen. Die beiden Frankfurter Historikerinnen Heike Drummer und Jutta Zwilling stellen darin die Geschichte von Haus Buchenrode im Kontext städtischer und privater Fürsorgepolitik vor. Dabei lässt sich in den letzten fünf Jahrzehnten der Wandel zu einer modernen, differenziert ausgestalteten Kinder- und Jugendhilfe ablesen; gerade in der Main-Metropole maßgeblich beeinflusst von der "Heimkampagne" 1969/70. In der Publikation kommen auch zwei "Ehemalige" des Kinder- und Jugendheims Buchenrode zu Wort. Deren eindrucksvolles Ringen um Selbstbestimmung, persönliches Glück und die Suche nach ihrer Herkunft geben einen unmittelbaren Eindruck von langfristigen Einflüssen der damaligen Heimerziehung.

Die Stiftung Waisenhaus übernahm 1996 Eigentums- und Betriebsträgerschaft für das Kinderhaus Buchenrode von der Stadt Frankfurt am Main. Seniorin im Vorstand der Stiftung ist seit 2007 Stadträtin Daniela Birkenfeld, ihre Vertretung übernimmt Stadträtin Lilli Pölt.

tagesspiegel
14.08.2008)

Missbrauch

Wenn der Glaube weh tut

Im Bistum Bamberg soll der ehemalige Personalchef mehrere Jungen missbraucht haben, doch der will sich an nichts erinnern können. Der Beschuldigte war früher Rektor im Knabeninternat. Die Opfer leiden noch 25 Jahre danach. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft.


Im Erzbistum Bamberg soll ein hoher Geistlicher vor 25 Jahren Internatsschüler missbraucht haben. - Foto: dpa
VON CLAUDIA KELLER


Berlin - Er hatte auf eine Entschuldigung gehofft. Sie würde es leichter machen, mit dem Geschehenen umzugehen. Nun wurde seine Geschichte öffentlich, und es geht ihm schlechter als vorher, sagen Menschen, die ihm nahe stehen. Der Mann, von dem hier die Rede ist, und dessen Namen nicht genannt werden soll, wurde sexuell missbraucht – von einem Priester der katholischen Kirche.

Heute ist der Mann 41 Jahre alt. Was geschehen ist, liegt mehr als 25 Jahre zurück. Dennoch quält es ihn immer noch. So sehr, dass er sich im Herbst 2007 an das Erzbistum Bamberg wandte. Denn der Mann, der ihn missbraucht haben soll, ist Domkapitular und war bis vor kurzem Personalchef des Bistums. Der 63-jährige Otto Münkemer ist in hierzulande der höchstrangigste Geistliche, dem sexuelle Übergriffe an Minderjährigen zur Last gelegt werden. Von 1976 bis 1991 arbeitete er im Erzbischöflichen Knabenseminar Ottonianum in Bamberg, 13 Jahre leitete er die Einrichtung. In dieser Zeit soll es zu Übergriffen gekommen sein. Das Erzbistum hat mittlerweile Kontakt zu vier ehemaligen Schülern, die davon berichtet haben, dass sie von Münkemer bei „Untersuchungen“ unsittlich berührt worden seien. Es gehe um „Manipulationen im Intimbereich“, sagt Bistumssprecher Michael Kleiner.
Das Bamberger Bistum hat – wie es die Bischofskonferenz allen Bistümern empfohlen hat – bereits 2002 eine Untersuchungskommission zur Aufdeckung und Verhütung von sexuellem Missbrauch ins Leben gerufen, die von einem externen Psychotherapeuten und Moraltheologen geleitet wird. Dieser ging den Vorwürfen vergangenen Herbst nach. Der Beschuldigte stritt alles ab. Dann hätten sich die Vorwürfe aber erhärtet, sagt der Bistumssprecher. Der Domkapitular könne sich „an nichts mehr erinnern“. Er wurde beurlaubt, mittlerweile sei er von seinem Amt zurückgetreten. Mit ihm zu sprechen, ist nicht möglich. Nach Auskunft des Bistums hält er sich in einer therapeutischen Einrichtung auf.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt und hat bislang zwei mutmaßliche Opfer vernommen. Gerüchte, wonach sich Männer vor 20 Jahren das Leben genommen hätten, weil sie von Münkemer missbraucht worden seien, könne er nicht bestätigen, sagt der Bamberger Oberstaatsanwalt Joseph Düsel. Er selbst habe damals die Ermittlungen nach den Suiziden geleitet. Auf einen Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch sei er nicht gestoßen. Dennoch steht für Düsel fest: „In dem Internat ist etwas vorgefallen.“ Zu einer Anklage werde es aber wohl nicht kommen, die Taten seien verjährt.

Ende Juli sicherte der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick in einem Brief an die Bistumsmitarbeiter zu, dass man alles tun werde, um den Fall aufzuklären und dass man sich dabei streng an die Vorgaben der Bischofskonferenz halte. Auch rief er potenzielle Zeugen auf, sich zu melden.

Trotz dieser Offenheit steht das Bistum in der Kritik. Denn auf Einladung der Untersuchungskommission kam es zur Gegenüberstellung des 41-jährigen, früheren Internatsschülers mit seinem mutmaßlichen Peiniger – ein Verstoß gegen die Richtlinien der Bischofskonferenz, die empfiehlt, Opfer und Beschuldigte getrennt voneinander anzuhören. Die Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter sei auf Wunsch des Opfers zustande gekommen, sagt Bistumssprecher Kleiner. Der 41-jährige Mann sagt, er sei zu dem Gespräch „gelockt“ worden, man habe ihm Hoffnung auf eine Entschuldigung seitens des Bistums gemacht. Aussage steht gegen Aussage.

Nach den Vorgaben der Bischofskonferenz hätte das Bistum Münkemer anzeigen müssen, als sich die Vorwürfe verdichteten. Oberstaatsanwalt Düsel erfuhr von dem Fall aus der Zeitung. Wollte das Bistum den Fall vertuschen? Man habe von einer Anzeige abgesehen, sagt der Bistumssprecher, da nach Auskunft eines unabhängigen Juristen „keiner der Vorwürfe heute noch justiziabel ist“.

Bleibt die Frage, warum Bischof Schick gerade Münkemer 2004 zum Personalchef machte. Gerüchte über dessen Zeit am Ottonianum soll es schon lange geben. „Diese Gerüchte gab es, sogar Witzchen“, sagt Bistumssprecher Kleiner, „aber die Gerüchte haben den Kreis der ehemaligen Internatsschüler nicht verlassen“. Schick, der erst 2002 Bamberger Erzbischof wurde, habe davon nichts gewusst. Außerdem sei Münkemer sehr beliebt gewesen. „Ein richtiger Pfundskerl“, wie es heißt.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 14.08.2008
)



HL-live.de
6. August 2008

Baasch: Fürsorgeerziehung aufarbeiten


Der Lübecker Landtagsabgeordnete Wolfgang Baasch (SPD) zeigt sich entsetzt über die Ergebnisse eines Runden Tisches zu der Unterbringung und Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung.
"Die Dokumentation des Runden Tisches, den die Sozialministerin mit ehemaligen so genannten Fürsorgezöglingen einberufen hat, ist eine beklemmende Lektüre. Zeigt sie doch ein Thema auf, das lange Zeit mit einem Tabu belegt war, ein Thema, bei dem sich Menschen heute kaum noch vorstellen können, dass so etwas in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Realität war: die Fürsorgeerziehung der 50er bis 70er Jahre, die eindeutig ein dunkler Fleck auch in unserer Geschichte ist", so Baasch.

Aus heutiger Sicht sei es nahezu unfassbar, aus welchen Gründen junge Menschen in eine solche Einrichtung weggesperrt werden konnten. "Instabile Familienverhältnisse, besonders die uneheliche Geburt von einem Drittel der Insassen, die damals ja noch als Makel nicht nur für die Mutter, sondern auch für ihr Kind galt, war offensichtlich schon einmal eine 'gute' Voraussetzung. Wenn dazu noch jugendtypisches Verhalten kam, auf das wir heute sehr differenzierte pädagogische Antworten haben, war es offensichtlich möglich, dass ein 15-Jähriger von der Polizei gefesselt in Glückstadt eingeliefert wurde. Wohlgemerkt: Dieser Jugendliche hatte nicht etwa schwerste Gewalttaten begangen, die eine Eigensicherung durch die Polizisten notwendig machte, sondern z. B. ein Mofa gestohlen."

Ein wesentlicher Punkt der damaligen so genannten Fürsorge war "Erziehung durch Arbeit". "In der Regel war es erzwungene Arbeit, die nicht der beruflichen Qualifizierung der jungen Menschen diente und bei der Bildung und Ausbildung grundsätzlich nicht stattfanden. Und das Fürsorgeheim im Glückstadt hat hier offensichtlich eine ganz besonders finstere Rolle gespielt", so Baasch.

Selbstverständlich gelte auch im Falle solcher Beschuldigungen die Unschuldsvermutung. "Jedoch ist nicht zu übersehen, dass es in Jugendbetreuungseinrichtungen aller Art, aber insbesondere dann, wenn die so genannten Betreuer allmächtig und die Jugendlichen ihnen ausgeliefert sind, immer wieder gerade auch Pädophile sind, die eine Beschäftigung in einer solchen Einrichtung suchen. Wir im Landesparlament, aber auch alle im Jugendhilfebereich tätigen Träger im kirchlichen oder staatlichen Auftrag müssen uns der Verantwortung für die Aufarbeitung dieser Einrichtungen stellen. Demütigungen, Missachtung von Würde und Verletzung von Menschenrechten gilt es zu erkennen und aufzuarbeiten, wenn man deren Opfer nicht erneut demütigen will."

Neues Deutschland
22.07.2008

»Fürsorge« im Streifenhemd der Nazis

Aufenthalt im Heim Glückstadt war schlimmer als Strafvollzug / Insassen erheben ihre Stimme
Von Dieter Hanisch, Kiel

Heimerziehung in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik – eine Geschichte mit dunklen Kapiteln. Interessant: Ulrike Meinhof hat sich 1970 in dem Buch »Bambule« vor ihrer RAF-Karriere kritisch mit dem Thema auseinandergesetzt. Aufgearbeitet wurde es bis heute nicht.

1974 wurde das Landesfürsorgeheim im schleswig-holsteinischen Glückstadt an der Elbe geschlossen. Dort wurden von 1951 an junge Menschen unter staatlicher Aufsicht weggesperrt, gedrillt, misshandelt wie missbraucht. Es ging nicht um Erziehung; einziges Ziel war, den Willen unangepasster Jugendlicher zu brechen.
Im vergangenen Jahr haben sich ehemalige Insassen der Einrichtung erstmals öffentlich zu Wort gemeldet. Die Erzählungen ihrer Schicksale sind überaus bedrückend. Sie wandten sich an die Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) und stießen bei ihr mit diesem tabubehafteten Thema auf offene Ohren. Sie holte Betroffene an einen Tisch und ließ den Erziehungswissenschaftler Christian Schrapper aus Koblenz eine erste Dokumentation erstellen. Im Landesarchiv befinden sich noch 7000 Akten, die jetzt ausgewertet werden. Dazu schafft das Ministerium kurzfristig extra zwei Planstellen.
Experten sagen heute, dass es im Strafvollzug oft humaner zuging, mehr Rechtssicherheit vorhanden war. Beispielsweise konnte man dort auch eine Ausbildung absolvieren. Otto Behnck (56), einer der damaligen Zöglinge, versteht nicht, warum die Aufklärung der Vorgänge so schleppend vorankommt. Der heute als Markthändler arbeitende Geschäftsmann verbrachte nur drei Monate von Oktober 1970 bis Januar 1971 in dem Glückstädter Heim. Er hatte sich mit seinen Eltern überworfen, die die Jugendbehörde einschalteten. Das zuständige Amtsgericht ordnete Fürsorgeerziehung an, obwohl Behnck weder straffällig noch gewalttätig geworden war. Als seine Eltern bei einem Besuch mitbekamen, welche Methoden in Glückstadt angewandt wurden, holten sie ihren Sohn wieder ab.
Behnck fühlte sich dennoch gedemütigt, konnte aus Scham Jahrzehnte nicht darüber reden. Als er sich offenbarte, war es wie eine Befreiung. Er hat aus Gesprächen, eigener Erinnerung und durch Recherchen herausgefunden, dass es in dem 1980 abgerissenen Gebäude am Eckernförder Jungfernstieg auch zu Selbstmorden und anderen Todesfällen gekommen ist. Daher fordert er eine tiefer gehende Untersuchung der Ereignisse.
Die Heiminsassen sind auch aus anderen Teilen Westdeutschlands in die Erziehungsanstalt nach Glückstadt gekommen. So verbrachte unter anderem der RAF-Terrorist Peter Jürgen Boock dort einen Teil seiner Jugend. Anfang 1969 gab es eine Rebellion hinter den Mauern des roten Backsteingebäudes. Matratzen wurden angezündet, Zöglinge verbarrikadierten sich. Gewaltsam wurde der Aufstand niedergeschlagen.
Dort hatten die Jugendlichen Anstaltskleidung und Holzlatschen zu tragen, auf dem Dachboden mussten sie Fischernetze knüpfen. 1000 Knoten wurden mit einer Zigarette belohnt. Ferner waren die Insassen in Betrieben von Glückstadt und in der Landwirtschaft zum Arbeitseinsatz verpflichtet. »Das war nichts anderes als Zwangsarbeit«, so Behnck.
Nach und nach schlossen vergleichbare Einrichtungen bundesweit – Glückstadt war eine der letzten. Dafür hat sie eine lange Geschichte: In der NS-Zeit diente sie als Schutzhaft- und Arbeitserziehungslager. Sogar die alten Streifenhemden mit dem Aufdruck »Außenkommando Glückstadt« und dem roten Winkel der politischen Häftlinge mussten getragen werden. Dazu nutzte man die verbliebenen Karteikarten der Nazis. Auf der Pappe ersetzte man »Arbeitserziehungslager« durch »Landesfürsorgeheim«, »Häftling« durch »Zögling«, »Lagerkommandant« durch »Heimleiter«.
Inzwischen sprechen alle Parteien im schleswig-holsteinischen Landtag, der sich in der letzten Woche mit dem Thema befasste, von geschehenem Unrecht. Allein, zu einer öffentlichen Entschuldigung konnte man sich nicht durchringen. Im September soll eine interfraktionelle Resolution beschlossen werden.
»Wir beharren auf einer Entschuldigung!«, sagt Behnck Für Monika Heinold, Abgeordnete der Grünen, steht außer Frage, dass die Betroffenen durch ihre Arbeitsleistungen in Glückstadt Rentenansprüche erworben haben: »Diese Frage kann aber nicht in Schleswig-Holstein entschieden werden. Dazu bedarf es einer Gesetzesinitiative von Bundesseite.« Der Verein ehemaliger Heimkinder geht von bis einer Million Betroffenen in rund 3000 staatlichen und kirchlichen Fürsorgeheimen der ehemaligen Bundesrepublik aus.

Internet-Seite der Betroffenen: www.landesfuersorgeheim-glueckstadt.de
URL: http://www.neues-deutschland.de/artikel/132471.fuersorge-im-streifenhemd-der-nazis.html


Pressedienst - Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
17. 7. 2008

Fraktion im Landtag Schleswig-Holstein
Nr. 281.08 / 17.7.2008

TOP 25 – Entschließung des Landtages zur Unterbringung und Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung
Dazu sagt die Parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Monika Heinold:

Menschenrechtsverletzungen muss man beim Namen nennen

Ehemalige Heimkinder der 50er und 60er Jahre haben begonnen, offen über ihr Schicksal zu reden: Darüber, wie es war, physischer wie psychischer Gewalt ausgeliefert zu sein, sexueller Gewalt ausgeliefert zu sein, von BetreuerInnen und anderen „Heimzöglingen“ gedemütigt zu werden. Wie es war, in Anstaltskleidung ohne Vergütung und Sozialversicherung hart arbeiten zu müssen.

Wer behauptet, die Praxis der damaligen Landesfürsorgeerziehung entsprach den gesellschaftlich akzeptierten Erziehungsmethoden der 50er, liegt falsch. Zwar gab es bis 1958 das väterliche Züchtigungsrecht und erst 1980 wurde der Begriff der „elterlichen Gewalt“ durch die „elterliche Sorge“ ersetzt, aber die Praxis der Landesfürsorgeerziehung war schon nach damaligem Recht menschenrechtswidrig und meilenweit von der
erziehungswissenschaftlichen Fachdiskussion überholt.

Schleswig-Holstein hätte sich an Ländern wie Hessen oder Rheinland-Pfalz orientieren können, die schon in den 40er Jahren ein striktes Verbot körperlicher Züchtigung in der öffentlichen Erziehung aussprachen. Statt dessen praktizierte Schleswig-Holstein insbesondere in Glücksstadt die harte Linie: Die MitarbeiterInnen waren in der Regel nicht pädagogisch ausgebildet, der bauliche Zustand war schlecht.

Obwohl die meisten Jugendlichen nicht aufgrund krimineller Delikte eingewiesen wurden, gab es gefängnisähnliche Zustände, einschließlich einer Isolierzelle. Erniedrigungen und Misshandlungen, Willkür und Machtmissbrauch und das Prinzip unter den Heimkindern gedemütigt zu werden oder andere zu demütigen, führten dazu, dass sich Suizidversuche häuften.

Eine Fürsorgerin des Jugendamtes Pinneberg schrieb 1969 an das Landesjugendamt, dass die Zustände in Glücksstadt jeder Menschenwürde widersprächen. Im selben Jahr ,stellte die Heimaufsicht fest, dass das Einsperren der Zöglinge rechtswidrig sei und forderte wegen mangelnder pädagogischer Einwirkung, keine Jugendlichen mehr nach Glückstadt einzuweisen. Dennoch wurde das Heim erst 1974 geschlossen – als es wirtschaftlich nicht mehr rentabel war!

Trotz all dieser Erkenntnisse tun sich die Träger der damaligen Heime schwer damit, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sich für Entschädigungszahlungen einzusetzen und sich bei den Opfern für begangenes Unrecht zu entschuldigen.

Einen Anfang machte der Landeswohlfahrtsverband Hessen, ein Zusammenschluss der hessischen Landkreise und kreisfreien Städte, der im April 2006 einstimmig eine Resolution verabschiedete. In dieser spricht er sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen
erlitten haben. Diese Form der Entschuldigung ist es, die die damaligen Opfer erwarten, um selbst vergeben zu können.

Ein ehemaliges Heimkind aus Westuffeln formuliert es wie folgt: „Vergebung ist ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, das Leid, das einem Menschen zugefügt wurde, in sich zu lindern, es gar zu überwinden, denn Vergebung befreit und öffnet neue Horizonte.“

Meine Fraktion appelliert an Sie, dass sich auch der Schleswig-Holsteinische Landtag entschuldigt. So, wie wir es 2001 mit einem einstimmigen Beschluss mit der „Entschließung zur Beschäftigung von Zwangsarbeitern in Schleswig-Holstein 1939-1945“ getan haben. Es geht darum, denjenigen zu helfen, ihr persönliches Schicksal zu bewältigen, denen damals bildlich gesprochen das Rückgrat gebrochen wurde – in Verantwortung des Landes. Auch erwarten wir, dass der Bundespetitionsausschuss zügig eine bundeseinheitliche Entschädigungslösung erarbeitet und insbesondere Vorschläge macht, wie die geleistete Zwangsarbeit auf die Rentenansprüche angerechnet werden kann.

Nachdem die Landesregierung mit dem runden Tisch und der vorliegenden Dokumentation erste wichtige Schritte eingeleitet hat, unterstützen wir die Absicht einer gründlichen wissenschaftlichen Aufarbeitung. Ich würde mich freuen, wenn wir nachdem der Bericht der Landesregierung vorliegt, im Herbst zu einer gemeinsamen Entschließung kommen würden.


Presseinformation der FDP Landtagsfraktion Schleswig-Holstein 17. Juli 2008
Nr. 221/2008 Kiel, Donnerstag, 17. Juli 2008
Innen/ Landesfürsorgeeinrichtungen

Wolfgang Kubicki:

,,Den Opfern helfen, das Erlebte zu überwinden."

In seinem Redebeitrag zu TOP 25 (Entschließung zu Fürsorgeeinrichtungen) erklärte der Vorsitzende der FDP-Landtagsfraktion, Wolfgang Kubicki:

,,Wenn Du nicht brav bist, kommst Du ins Heim", diesen Satz haben in der Tat ganze Generationen von Kindern und Jugendlichen in den 50er, 60er und 70er Jahren gehört und selbst heute hört man noch manchmal entsprechende Sätze als Mittel zur ,,Erziehung" aus den Mündern von Eltern.

Was hinter diesem Satz damals wie heute stand, war die Drohung gegenüber dem eigenen Kind mit dem Verlust elterlicher Fürsorge, Zuneigung, Geborgenheit und Sicherheit und viele erinnern sich noch daran, dass die Drohung mit dem Heim zumeist eine sehr wirksame war.

Daher stellt sich heute die Frage, ob es nicht bereits seinerzeit zumindest unterschwellig in Teilen der Gesellschaft bekannt war und vielleicht sogar toleriert wurde, dass in Heimen und Fürsorgeeinrichtungen oftmals mit emotionaler Härte und Gewalt versucht wurde, Kinder ,,auf den rechten Weg" zu bringen.

Und wer hat nicht den Bericht im Schleswig-Holsteinischen Zeitungsverlag über das ehemalige Landesfürsorgeheim in Glückstadt vom letzten Jahr gelesen, der von Zwangsarbeit, übelster Gewalt und Isolationsunterbringung gegenüber und von Jugendlichen berichtet.

Dort steht unter anderem die Aussage eines ehemaligen so genannten ,,Erziehers", der die in Glückstadt angewandte Gewalt so rechtfertigte, ich zitiere: ,,Das waren ja alles schwer erziehbare Jugendliche, die musste man unter Verschluss halten, das waren Kriminelle."

Nun hat sich zum Glück das gesellschaftliche Bild von Erziehung weitestgehend dahin geändert, dass Gewalt kein geeignetes Mittel ist, um Kindern Grenzen aufzuzeigen. Auch die Frage, wie man Kriminalität definiert, hat sich geändert.

Früher wurden Kinder und Jugendliche in Fürsorgeanstalten eingewiesen für Gründe bzw. Taten, die heute kein Mensch mehr für auch nur auffällig hält und sie litten dort unter Bedingungen, die heute niemand mehr akzeptieren würde.

So wurden im Jahr 1959 männliche Fürsorgezöglinge in der Mehrheit wegen folgender Gründe eingewiesen: sie galten als arbeitsscheu, erziehungsschwierig, kriminell gefährdet, schwachsinnig oder triebhaft. Also Einweisungsgründe, denen die Willkür quasi auf die Stirn geschrieben steht.

Die ehemalige Fürsorgeanstalt Glückstadt ist hier ein mahnendes Beispiel. Sie galt bundesweit als eine der härtesten Anstalten - im negativen Sinne. Wie uns ehemalige Insassen berichten, waren dort Zwangsarbeit, Wegschließen in Isolation und körperliche Gewalt stets präsent, um jegliche Form von Widerwillen bei den ,,Zöglingen" zu brechen.

Daher begrüßen wir als FDP sowohl die Initiative hier im Landtag und auch die bereits stattgefundenen Bemühungen der Landesregierung, die sich im Wege eines runden Tisches mit der Aufarbeitung der Vorfälle insbesondere im Zusammenhang mit der ehemaligen Einrichtung in Glückstadt befasst.

Liest man die Dokumentation des Sozialministeriums über den runden Tisch mit ehemaligen Fürsorgezöglingen aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt, dann ist bereits ein guter Einstieg in die Aufarbeitung der damaligen Zustände gemacht worden.

Die Dokumentation zeigt aber auch, dass hier noch weitere Arbeit zu leisten ist. Es ist daher richtig, dass alle Fraktionen heute einen Berichtsantrag beschließen, damit die Landesregierung einen Bericht zum Stand der Ergebnisse der Aufarbeitung und zum Sachstand der Beratung des Petitionsausschusses des Bundestages in der September-Tagung geben kann.

Wir begrüßen die bereits vollzogene Maßnahme der Landesregierung, zwei zusätzliche Mitarbeiter im Landesarchiv einzustellen, um die dort über 7000 Akten zu ordnen und zu archivieren. Wir finden es richtig, dass die Landesregierung als zuständige verantwortliche Stelle bereits ihr Bedauern für die erlebten Schicksale geäußert hat.

Damit haben sich ein paar Forderungen des Antrages der Grünen erledigt. Das werden wir in den Ausschussberatungen aber noch vertiefen. Ich möchte aber noch ein paar Worte dazu sagen, warum wir uns bisher nicht auf einen gemeinsamen Wortlaut für einen interfraktionellen inhaltlichen Antrag einigen konnten.

Zunächst einmal sollten wir erst den Sachstandsbericht abwarten, bevor wir Forderungen aufstellen. Zum anderen hielten wir eine Passage im Antrag der Grünen inhaltlich nicht für richtig. Die Grünen möchten, dass dieses Parlament ? also der 16. Schleswig-Holsteinische Landtag ? gewählt im Jahr 2005 ? um Vergebung bei den Opfern bittet.

Wer um Vergebung bittet, hat Schuld auf sich geladen und das weise ich für dieses Haus zurück. Ich betone: Wir bedauern zutiefst die Vorgänge in der Landesfürsorgeeinrichtung Glückstadt. Aber eine Schuld an den damaligen
Vorgängen trifft uns nicht. Lassen Sie uns stattdessen schauen, wie wir heute den damaligen Opfern helfen können, das Erlebte so gut wie möglich überwinden."

Christian Albrecht, Pressesprecher, v.i.S.d.P., FDP Fraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag,
Landeshaus, 24171 Kiel, Postfach 7121, Telefon: 0431/9881488 Telefax: 0431/9881497,
E-Mail: presse@fdp-sh.de, Internet: http://www.fdp-sh.de/


Presseinformation der CDU-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein
17. Juli 2008

Sozialpolitik
Nr. 272/08 vom 17. Juli 2008

Heike Franzen zu TOP 25:
Geschehnisse in den Landesfürsorgeheimen aufarbeiten

Wir befassen uns heute mit einem Thema, das uns alle betroffen macht. In den letzten Monaten waren in unseren Zeitungen Überschriften zu lesen wie: ,,Gefangen im Namen der Fürsorge" oder ,,das Leiden von Glückstadt". Mit Erschütterung habe ich von den Schicksalen junger Menschen gelesen die im Namen der Fürsorge in Heimen untergebracht waren. Ein besonders erschreckendes Beispiel war offenbar das Landesfürsorgeheim in Glückstadt.
Betroffene berichten von unbezahlter Zwangsarbeit, von Misshandlungen und Missbrauch, von menschenunwürdigen Erziehungsmaßnahmen, wie tagelanger Isolationshaft in einer Arrestzelle oder Essensentzug, und von schwersten Demütigungen. Sie berichten, dass sie teilweise bis heute unter dem damals Erlebten leiden. Die Berichte beziehen sich auf die 1950er bis 70er Jahre.

Ich bin in dieser Zeit, nämlich 1964, geboren worden und es hat mich schon tief bewegt, was jungen Menschen geschehen sein soll, während ich eine glückliche Kindheit erleben durfte.
Das, was in Glückstadt und an anderen Orten von den Betroffenen als Unrecht angeprangert wird, kann niemand ungeschehen machen und ich will für meine Fraktion feststellen, dass wir die erlittenen Schicksale bedauern.

Glückstadt war allerdings kein Einzelfall, das wissen wir inzwischen. Bundesweit hat es diese Methoden in Erziehungsheimen gegeben. Unglaublich, dass es so viele Jahre gebraucht hat, bis endlich öffentlich gemacht wurde, was dort geschehen ist.

Ich bin der Landesregierung dankbar dafür, dass sich die Sozialministerin bereits im letzten Jahr dieser Thematik angenommen hat und sich im Rahmen eines runden Tisches mit Betroffenen zusammengesetzt und somit zu der Aufarbeitung der Geschehnisse beigetragen hat. Es liegt inzwischen eine Dokumentation dieser Gespräche vor und zwei Mitarbeiter des Ministeriums sind damit beschäftigt die inzwischen aufgefundenen rund 7.000 Akten aus dieser Zeit aufzuarbeiten.

Auf der Bundesebene beschäftigt sich der Petitionsausschuss intensiv mit den angemahnten Missständen in der Heimerziehung und prüft ob und welche Möglichkeiten es gibt, die in den Heimen erbrachten Arbeitsleistungen im Rahmen der Zwangsarbeit bei der Berechnung der Renten angemessen zu berücksichtigen.

Aber auch wir hier in diesem Hause sind gefragt, wenn es um die Aufklärung und die Anerkennung des erfahrenen Leides der Betroffenen geht. Auch wenn heute niemand mehr hier sitzt, der die damaligen Geschehnisse zu verantworten hat, so haben wir doch als Landesparlament die moralische Verpflichtung, uns mit diesen bedrückenden Berichten über die Zustände in den damaligen Landesfürsorgeheimen in Schleswig-Holstein zu beschäftigen.
In diesem Sinne empfinde ich es auch als ein richtiges Zeichen, dass wir uns fraktionsübergreifend darauf verständigen konnten, uns von der Landesregierung noch einmal ausführlich über das Geschehene und über die bereits ergriffenen Maßnahmen berichten zu lassen, um dann ? und ich hoffe, dass auch hier alle Fraktionen zusammenstehen - gemeinsam zu vereinbaren, welchen Beitrag dieses Parlament leisten kann, damit die Betroffenen zu ihrem Recht kommen.

Die CDU-Fraktion kann sich eine Aufarbeitung der Geschehnisse in Schleswig-Holstein durch einen neutralen Sachwalter vorstellen. Es kann nur in unserem Sinne sein, zu einer sachlichen Beurteilung dessen zu kommen, was sich in den Heimen der Landesfürsorgeerziehung zugetragen hat. Daraus müssen dann die notwendigen Konsequenzen gezogen werden.

Wenn es unrechtmäßige Übergriffe und Verstöße gegen Menschenwürde gegeben hat, dann muss das auch aufgeklärt werden.

Pressesprecher Dirk Hundertmark Landeshaus, 24105 Kiel
Telefon 0431-988-1440 Telefax 0431-988-1444 E-mail: info@cdu.ltsh.de Internet: http://www.cdu.ltsh.de



Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein
17.07.2008

TOP 25: Unterbringung und Zwangsarbeit von Kindern und Jugendlichen in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung (Drucksachen 16/2167 und 16/2177)

Wolfgang Baasch:

Missstände in der Fürsorgeerziehung bundesweit aufarbeiten

Die Dokumentation des Runden Tisches, den die Sozialministerin mit ehemaligen so genannten Fürsorgezöglingen einberufen hat, ist eine beklemmende Lektüre. Zeigt sie doch ein Thema auf, das lange Zeit mit einem Tabu belegt war, ein Thema, bei dem sich Menschen heute kaum noch vorstellen können, dass so etwas in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Realität war: die Fürsorgeerziehung der 50er bis 70er Jahre, die eindeutig ein dunkler Fleck auch in unserer Geschichte ist.

Aus heutiger Sicht ist es nahezu unfassbar, aus welchen Gründen junge Menschen in eine solche Einrichtung weggesperrt werden konnten. Instabile Familienverhältnisse, besonders die uneheliche Geburt von einem Drittel der Insassen, die damals ja noch als Makel nicht nur für die Mutter, sondern auch für ihr Kind galt, war offensichtlich schon einmal eine „gute“ Voraussetzung. Wenn dazu noch jugendtypisches Verhalten kam, auf das wir heute sehr differenzierte pädagogische Antworten haben, war es offensichtlich möglich, dass ein 15jähriger von der Polizei gefesselt in Glückstadt eingeliefert wurde. Wohlgemerkt: Dieser Jugendliche hatte nicht etwa schwerste Gewalttaten begangen, die eine Eigensicherung durch die Polizisten notwendig machte, sondern z. B. ein Mofa gestohlen.


Mit dem Film „In den Fängen der Fürsorge“ hat das ZDF dies in beklemmender Art und Weise dokumentiert. Einschüchterung und Quälerei, Psychoterror und Gewalt werden in Fürsorgeheimen von Glückstadt quer durch die Bundesrepublik geschildert. Was allein durch eine solche Art der Behandlung an Traumatisierungen bei einem jungen Menschen verursacht wird, mag man sich kaum ausmalen.

Der SPD-Abgeordnete Erwin Lingk bezeichnete anlässlich eines Besuches des Ausschusses für Volkswohlfahrt am 19. August 1969 die in Glückstadt angewendete Form der Jugendfürsorge zu Recht als „verdeckten Strafvollzug“ statt Erziehung und setzte sich – gegen den Widerstand des liberalen Sozialministers Eisenmann - für eine Schließung der Einrichtung ein.

Ein wesentlicher Punkt der damaligen so genannten Fürsorge war „Erziehung durch Arbeit“, d.h. in der Regel war es erzwungene Arbeit, die nicht der beruflichen Qualifizierung der jungen Menschen diente und bei der Bildung und Ausbildung grundsätzlich nicht stattfanden. Und das Fürsorgeheim im Glückstadt hat hier offensichtlich eine ganz besonders finstere Rolle gespielt.

Es ist mir selten so deutlich geworden, dass die berühmte Formulierung aus der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt: „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“, mehr war als bloße Rhetorik, sondern auch die Forderung nach einem Bruch mit autoritären Traditionen. Wie kann man junge Menschen, die Probleme in ihrer sozialen Entwicklung haben, in ein derart abschreckendes Gebäude einsperren, das nicht nur eine traurige Vergangenheit als Zwangsarbeitshaus, sondern in den Jahren 1933 und 1934 sogar als so genanntes „Wildes Konzentrationslager“ der Nazis hatte? Und diese Einschüchterungsarchitektur wurde noch ergänzt durch Personal, das darauf trainiert war, junge Menschen nicht aufzubauen, sondern sie zu brechen.

Selbstverständlich gilt auch im Falle solcher Beschuldigungen die Unschuldsvermutung. Jedoch ist nicht zu übersehen, dass es in Jugendbetreuungseinrichtungen aller Art, aber insbesondere dann, wenn die so genannten Betreuer allmächtig und die Jugendlichen ihnen ausgeliefert sind, immer wieder gerade auch Pädophile sind, die eine Beschäftigung in einer solchen Einrichtung suchen.

Wir im Landesparlament, aber auch alle im Jugendhilfebereich tätigen Träger im kirchlichen oder staatlichen Auftrag müssen uns der Verantwortung für die Aufarbeitung dieser Einrichtungen stellen. Demütigungen, Missachtung von Würde und Verletzung von Menschenrechten gilt es zu erkennen und aufzuarbeiten, wenn man deren Opfer nicht erneut demütigen will.

Es hat im Vorfeld der heutigen Sitzung eine Vielzahl an Gesprächen gegeben, und ich glaube, wir haben eine vernünftige Lösung gefunden. Wir wollen mit einem interfraktionellen
Antrag die Landesregierung um einen Bericht bitten. Den Entschließungsantrag der Grünen möchten wir in den Sozialausschuss und mit beratend in den Innenausschuss überweisen und dann, wenn uns der Bericht der Landesregierung vorliegt, uns darum bemühen, eine gemeinsame Entschließung zu erarbeiten.

Im Bundestag hat der Petitionsausschuss in seinem Bericht 2008 angekündigt, „zu einer gemeinsamen und parteiübergreifenden guten Lösung kommen zu wollen“. Das ist
ein gutes Signal auch für unsere weitere Diskussion, wenn wir das Thema ehemaliger Heimkinder aufarbeiten. Denn es bleibt festzuhalten, wir stehen in einer Diskussion, die auf Bundesebene geführt werden muss, da in der Fürsorgeerziehung, ob unter konfessioneller oder staatlicher Aufsicht, in dieser Zeit erhebliche Missstände aufzuarbeiten sind.

Für meine Fraktion und für mich will ich hier und heute sehr deutlich sagen: Es ist erschütternd, die Berichte zu lesen, die Schicksale wahrzunehmen. Die Betroffenen haben
unser Mitgefühl und wir die Verpflichtung, ihre Schicksale aufzuarbeiten. Ich danke Frau Ministerin Trauernicht, die die Initiative zu dem Runden Tisch und zur weiteren Aufarbeitung der Geschehnisse in Glückstadt ergriffen hat.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!



Presseinformation Südschleswigscher Wählerverband
17.07.2008

Kiel, den 17.07.2008

Anke Spoorendonk

Entschließung des Landtages zur Unterbringung und Zwangsarbeit von Kindern/Jugendlichen in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung Drs. 16/2167


Eine Aufarbeitung der bundesweiten Heimerziehung in den 50'er und 60'er Jahren geschieht seit etwa fünf Jahren im Petitionsausschuss des Bundestages. Dort fordern ehemalige Heimzöglinge aus jener Zeit ihr Recht auf Entschädigung und eine Entschuldigung für das Unrecht, das an ihnen begangen wurde. Insgesamt ist dies ein besonders dunkles Kapitel westdeutscher Geschichte und seiner Justiz- und Sozialpolitik. Was sich seinerzeit hinter den Mauern von staatlichen und kirchlichen Einrichtungen zugetragen hat, macht tief betroffen. Es hat - nicht nur nach heutigem Ermessen - nichts mit der Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu tun.

Daher ist es auch angemessen, dass sich der Landtag mit dem Schicksal der ehemaligen ,,Heimkinder" befasst. Ich muss aber auch sagen, dass ich es sehr bedauerlich finde, dass es nicht gelungen ist, den Ursprungsantrag der Grünen in einen interfraktionellen Antrag umzuwidmen.

Aus Sicht des SSW wäre es der Sache angemessen gewesen, wenn der Schleswig-Holsteinische Landtag sich gleich parteiübergreifend positioniert hätte. Dies wäre auch ein Signal für die Betroffenen. Unterm Strich bleibt festzustellen, dass wir über einen gemeinsamen Berichtsantrag nicht hinaus gekommen sind. Soll heißen, wenn der Bericht vorliegt, sollten wir dieses unbedingt nachholen.

Wer sich mit dem Thema ,,Heimkinder" näher befasst, wird unweigerlich bei seiner Recherche feststellen, dass sich das Landesfürsorgeheim Glückstadt durch sein unrühmliches Ansehen besonders hervortut.

Das Gebäude in Glückstadt hatte bereits eine Vorgeschichte, bevor es als Landesfürsorgeheim in den 50'er, 60'er und 70'er Jahren genutzt wurde. Als Korrektionsanstalt und Landesarbeitsanstalt wurde es von 1875 bis 1933 genutzt und in der Nazi-Zeit wurde das Gebäude als so genanntes ,,wildes KZ" genutzt, daneben und danach bis 1945 weiter als Landesarbeitshaus. Es stellt sich hierbei die Frage, was man sich überhaupt dabei gedacht hat, Kinder und Jugendliche in einem Gebäude mit einer solchen Geschichte wegzusperren. Es macht aber deutlich und ist symbolisch dafür, nach welchem Muster die Erziehung in dem Heim stattgefunden hat. Ziel dieser Erziehung war es, Kindern und Jugendlichen ihr unsittliches und asoziales Verhalten auszutreiben und um sie unter furchtbaren Bedingungen gefügig zu machen, damit sie gehorsam und ordentlich wieder in die Gesellschaft eingegliedert werden können.

Es handelte sich hierbei nicht ausschließlich um jugendliche Straftäter, die eine Strafe abzusitzen hatten - auch waren zum damaligen Zeitpunkt nicht alle Insassen als Straftäter verurteilt. Sie waren gesellschaftlich verurteilt und die Einweisungsgründe reichen von ,,Arbeitsscheu triebhaft" und ,,Arbeitsscheu haltlos" bis erziehungsschwierig, kriminell gefährdet und schwachsinnig. Damit es hier nicht zu Missverständnissen kommt, auch jugendliche Straftäter hätten damals niemals unter solchen Bedingungen weggesperrt werden dürfen.

Der ,,Ausschuss für Volkswohlfahrt" des Schleswig-Holsteinischen Landtages hat sich 1969 - nachdem es einem Aufstand im Landesfürsorgeheim gegeben hat ? in zwei Sitzungen mit dem Landesfürsorgeheim beschäftigt. Mit Entsetzen liest man die Protokolle von damals und steht fassungslos der Tatsache gegenüber, dass das Heim erst Ende 1974 geschlossen wurde.
?
Wir haben heute die Chance dieses Kapitel gemeinsam mit damaligen Heiminsassen aufzuarbeiten. Daher begrüßen wir die Initiative von Ministerin Trauernicht, ehemalige Jugendliche der damaligen Landesfürsorgeanstalt Glückstadt, zu einem Runden Tisch einzuladen und darüber hinaus zwei Mitarbeiter im Landesarchiv einzustellen, um die dort lagernden über 7000 Akten zu ordnen und zu archivieren. Eine Dokumentation des ersten Runden Tisches liegt bereits vor. Gemeinsam wurde dort beschlossen, dass eine weitergehende Aufarbeitung verfolgt werden soll. Ich denke, dies macht deutlich, dass Schleswig-Holstein sich seiner Verantwortung gegenüber den seinerseits Schutzbefohlenen bewusst ist.


Presseinformation der SPD-Landtagsfraktion Schleswig-Holstein
16.07.2008

Kiel, 16.07.2008, Nr.: 201/2008

Sandra Redmann und Wolfgang Baasch:

Bedauern über Vorfälle im Fürsorgeheim Glückstadt


Zur Debatte um die Vorgänge in ehemaligen Heimen der Landesfürsorgeerziehung erklären die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, Sandra Redmann, und der sozialpolitische Sprecher Wolfgang Baasch:

Sozialministerin Dr. Gitta Trauernicht hat mit der Dokumentation ,,Runder Tisch mit ehemaligen Fürsorgezöglingen aus dem Landesfürsorgeheim Glückstadt" die Schicksale der ehemaligen Jugendlichen aufgegriffen und mit der Aufarbeitung der Akten und der Einsetzung eines Runden Tisches mit den Betroffenen ein wichtiges Zeichen ge-
setzt. Die SPD-Landtagsfraktion begrüßt dieses Vorgehen und regt an, diese Aktivitäten fortzusetzen und im Herbst einen Runden Tisch auch mit Mitgliedern des Petitionsausschusses des Bundestags einzuberufen. Denn das Kinderheim Glückstadt mit seiner ,,schwarzen Pädagogik" war kein Einzelfall; derartige Vorfälle hat es auch in anderen Bundesländern gegeben. Die Aufarbeitung in Schleswig-Holstein kann für diese Vorbild sein.

Das Handeln im Landesfürsorgeheim Glückstadt, das zum Ziel hatte, Jugendliche nicht aufzubauen, sondern zu brechen, kann heute nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Das Land sollte sich jedoch zu der politischen Verantwortung für die vollständige Aufarbeitung der damaligen Ereignisse bekennen.

Wir bedauern ausdrücklich, dass es zu diesen Schicksalen der ehemaligen Jugendlichen, die Misshandlungen, Demütigungen und Ausbeutung in dem damaligen Landesfürsorgeheim Glückstadt über sich ergehen lassen mussten, gekommen ist.

Herausgeber: Landeshaus
SPD-Landtagsfraktion Postfach 7121, 24171 Kiel
Tel: 0431/ 988-1305/1307 E-Mail: pressestelle@spd.ltsh.de
Verantwortlich:
Petra Bräutigam Fax: 0431/ 988-1308 Internet: www.spd.ltsh.de



Der Tagesspiegel
26.6.2008


Peter Wensierski
"Das Schweigen ist durchbrochen"
Der Journalist und Buchautor Peter Wensierski spricht mit dem Tagesspiegel über Heimkinder der 50er und 60er.



Sie sind für Ihr Buch „Schläge im Namen des Herrn“ mit dem Medienpreis der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe ausgezeichnet worden. Was hat Ihr Buch über das Schicksal der Heimkinder der 50er und 60er Jahre bewirkt?

Eins vor allem: Tausende von Menschen verstecken ihr schweres Lebensschicksal nicht mehr. Jahrzehntelang dachte jeder einzelne von ihnen, er müsse sich dafür schämen, als Kind in ein Heim gesteckt worden zu sein – fast immer, ohne zu wissen, warum. Dieses Schweigen ist durchbrochen. Das hat das Buch bewirkt.

Was haben diese Kinder in den Heimen erlebt?

Sie waren meist einer Erziehung ausgesetzt, die diesen Namen nicht verdient und die ihr Leben bis heute negativ bestimmt. Es war eine schwarze Pädagogik voller Zucht- und Ordnungsvorstellungen mit verheerenden Folgen. Hunderttausende wurden in geschlossene Heime gesteckt. Es waren keine Kriminellen, sondern oft nur Kinder von alleinerziehenden Müttern, Kinder, die wegen Kleinigkeiten aufgefallen waren und nicht in die konservative Gesellschaft der 50er und 60er Jahre passten. Sie haben in den nicht kontrollierten Heimen drakonische Strafen erlitten, körperliche und psychische Gewalt, die manchmal an Folter grenzte. Es wurde ihnen Bildung und medizinische Versorgung vorenthalten, und oft auch die Briefe ihrer Eltern. Größere Kinder und Jugendliche mussten schwer arbeiten, es kam sehr häufig zu bis heute nicht geahndetem sexuellem Missbrauch. Aus Bequemlichkeit verabreichten Erzieher heimlich Medikamente. Fast alle Heimkinder berichten über Demütigungen und Erniedrigungen, mit denen ihnen immer wieder bedeutet wurde, dass sie nichts wert seien. Kurzum: Man hat die damaligen gesellschaftlichen Störenfriede einfach ausgegrenzt, weggesperrt und so ihrer Lebenschancen beraubt. Ich bin bei den Recherchen auf das vielleicht größte Unrecht an Kindern und Jugendlichen gestoßen, das im Westen und nicht im Osten Deutschlands passiert ist.

Der Verein der ehemaligen Heimkinder hat sich an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags gewandt. Was hat er erreicht?

Als ich an dem Buch gearbeitet habe, habe ich mich oft gewundert, wie ein derart dunkles Kapitel der jüngsten Geschichte einfach vergessen werden konnte. Das Schweigen der Heimkinder kam aber dem Schweigen der staatlichen und kirchlichen Träger dieser Einrichtungen entgegen. Das ist endlich beendet. Jetzt beschäftigen sich damit auch Wissenschaftler, Verbände und Heimträger, Universitäten, die Fachhochschulen, die Erzieher ausbilden. Der Petitionsausschuss hat die Betroffenen angehört, die Träger der Heime, Experten und Wissenschaftler. Sie haben die Geschichten der Heimkinder bestätigt. Das ist sehr wichtig, weil diese Menschen durch ihr Leben gegangen sind mit dem Gefühl, dass ihnen niemand glaubt. Sie brauchen aber immer noch praktische Hilfe. Im Herbst wird es wahrscheinlich zu einem bundesweiten runden Tisch kommen, an dem die Heimkinder, Vertreter der Heime und Politiker sitzen, um den Geschädigten zu helfen. Und ich freue ich mich über das große Interesse der jungen Leute, die Pädagogik studieren oder in der Jugendhilfe arbeiten.

Wie verhalten sich die kirchlichen Träger zu ihrer Verantwortung?

Weniger zufriedenstellend. Es gab zwar Worte des Verständnisses, aber noch keine wirkliche Bitte um Entschuldigung. Das aber wäre für die Opfer sehr wichtig, gäbe ihnen ein Stück der verlorenen Ehre wieder zurück. Es gibt den Vorschlag, eine bundesweite Stiftung zu gründen, kirchlich und staatlich finanziert, um diese Zeit aufzuarbeiten und Menschen konkret zu helfen. Die Kirchen, vor allem die katholischen Orden, haben in dieser Zeit die Heimerziehung mit ihren Vorstellungen entscheidend geprägt. Uneheliche Kinder etwa galten damals als „Kinder der Sünde“, als wertlose Geschöpfe. Da könnte man als Kirche lauter und deutlicher selbstkritisch drauf eingehen.

Muss die Bitte um Entschuldigung nicht auch vom Bundestag kommen?

Ja, denn die Richter und Jugendämter haben die Kinder leichtfertig eingewiesen und die Häuser schlecht kontrolliert. Der Bundestag sollte unbedingt darüber diskutieren, nicht nur wegen der Vergangenheit. Die Zahl der Kinder und Familien mit großen Problemen nimmt ja zu und wir sollten aus den Fehlern dieser Zeit lernen, um sie nicht zu wiederholen. Wenn wir heute wieder die Gelder für die Kinder- und Jugendhilfe kürzen, die Erzieher schlecht ausbilden und Kinder nicht achten, die Jugendämter wie am Fließband nur Akten und Fälle kennen, aber nicht die Menschen sehen, dann wird das später auf die Menschen und schon bald mit doppelten Kosten auf die Gesellschaft zurückfallen.

Das Gespräch führte Tissy Bruns.

Peter Wensierski ist Journalist und Buchautor. Seit 1993 gehört der 1954 geborene Wensierski dem Deutschland-Ressort des  Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ an.

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 26.06.2008)

READERS EDITION
22.06.2008


Kinder- und Jugendhilfetag in Essen: Offener Brief an Bischof Huber

Artikel von Heinz-Peter Tjaden vom 22.06.2008, 20:23 Uhr im Ressort Vermischtes | No Comments

Sehr geehrter Herr Bischof Dr. Huber, ehrlich gesagt: Ich habe schon lange nicht mehr in die Bibel geschaut, aber bei der Ausgabe, die sich in meinem Bücherschrank befindet, dürfte es sich um eine längst überholte Übersetzung handeln.
Deshalb bitte ich Sie, mir sozusagen auf die biblischen Sprünge zu helfen. In meinem Gedächtnis haftet ein Satz von Jesus. Er lautet: „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ Erinnere ich mich richtig? Oder hat sich inzwischen herausgestellt, dass Jesus statt dessen gesagt hat: „Kommt bloß nicht zu mir, wenn ihr Sorgen habt. Ich kann euch nicht helfen“?
Ich kann auch anders?
Warum ich diese Frage stelle? Sehr geehrter Herr Bischof, Sie sind Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, salopp könnte man sagen: Sie sind der oberste Lutheraner. Wenn ich an Luther denke, fällt mir der Satz ein: „Ich stehe hier, ich kann nicht anders.“ Auch das scheint sich geändert zu haben.
Wie ich auf all das komme, was in Ihren Ohren wohl wie blanker Unsinn klingen mag? Deswegen: In Essen fand Ende dieser Woche der [1] 13. Kinder- und Jugendhilfetag statt. Dort treffen sich Frauen und Männer, die sich mit den Rechten von Kindern beschäftigen. Das ist ein wichtiges Thema. Dafür interessieren sich auch Menschen, die ihre Kindheit in kirchlichen Heimen verbracht haben und als Erwachsene immer noch darauf warten, dass man ihnen endlich erklärt, warum sie in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren misshandelt, gedemütigt und missbraucht worden sind.
Heimkinder kommen nicht rein
Zwei dieser ehemaligen Heimkinder sind nach Essen gefahren, sie benötigten Gehhilfen für den beschwerlichen Weg und erreichten den Osteingang der Halle. Sie hatten Handzettel mit einem Artikel dabei, in dem sich der Caritas-Präsident Peter Neher öffentlich bei den Opfern kirchlicher Heimerziehung entschuldigte, an ihren Gehhilfen hatten sie Hinweise angebracht, damit jeder sofort wusste: „Wir sind ehemalige Heimkinder.“
Dennoch stellten sich Sicherheitsleute dieser Frau und diesem Mann in den Weg. Sie sollten die Halle nicht betreten, später wurden sie sogar des Geländes verwiesen. Das sorgte für Aufsehen, Mitarbeiter des Essener Jugendamtes versorgten die beiden ehemaligen Heimkinder mit Obst und Gebäck und versicherten, dass dieser Vorfall noch Folgen haben werde. Anwesend war auch ein Fernsehsender.
Veranstalter informiert
Ich habe den Veranstalter des 13. Kinder- und Jugendhilfetages sofort über die Erlebnisse der beiden ehemaligen Heimkinder informiert, die für viele schon lange keine Unbekannten mehr sind. [2] Fernsehsender und Zeitungen berichteten über ihr Schicksal, auch heute noch ist von ihnen zu hören: „Wir glauben, dass man uns helfen wird.“ Dass sie diese Hoffnung noch haben, finde ich bewundernswert, denn bei Demonstrationen machen sie bislang die Erfahrung, dass sich die Verantwortlichen vor einem Gespräch drücken.
Sie, sehr geehrter Herr Bischof Huber, haben ein Grußwort zum 13. Kinder- und Jugendhilfetag geschrieben, vor Wochen haben mir die Organisatoren mitgeteilt, dass es in Essen auch um das Schicksal ehemaliger Heimkinder gehen werde. Für die Betroffenen aber gilt Wolfgang Borchert:[3] „Draußen vor der Tür“?
Als Redakteur beschäftige ich mich seit einigen Monaten mit diesem Thema, der [4] Caritas-Präsident Peter Neher, der auch in Essen weilen soll, antwortete mir erst über die Pressesprecherin dieser Organisation, als ich ihm ein Einschreiben per Rückschein geschickt hatte. Auf die konkreten Anliegen ehemaliger Heimkinder ging sie jedoch nicht ein.
Sehr geehrter Herr Bischof Huber, verstehen Sie nun, warum für mich der Verdacht nahe liegt, dass meine Bibel ziemlich verstaubt sein muss?
Für eine Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Artikel aus "Readers Edition": http://www.readers-edition.de
Link zum Artikel: http://www.readers-edition.de/2008/06/22/kinder-und-jugendhilfetag-in-essen-offener-brief-an-bischof-huber/
Links im Artikel:
[1] 13. Kinder- und Jugendhilfetag: http://www.jugendhilfetag.de/djht08/pages/startseite.php
[2] Fernsehsender: http://www.hermine-schneider.de
[3] „Draußen vor der Tür“?: http://www.lerntippsammlung.de/Drau-ss-en-vor-der-T-ue-r-_-Wolfgang-Borchert.html
[4] Caritas-Präsident Peter Neher: http://www.readers-edition.de/2008/06/16/nach-einschreiben-per-rueckschein-caritas-pressesprecherin-beantworteweitere-fragen


Berliner Umschau
13. Juni 2008


Entschuldigung für jahrzehntelanges Leid

Kanadas Ministerpräsident bittet Ureinwohner um Verzeihung


Von Adrienne Bilitza

In einer emotionalen Rede im Parlament sprach Kanadas Premier Stephen Harper gestern endlich aus, worauf die  Ureinwohner Kanadas so lange warten mussten: Die Entschuldigung für ein rassistisches Verbrechen, unter dem ungezählte Familien der 1,3 Millionen Ureinwohner des Landes bis heute leiden. Jahrzehntelang waren die Ureinwohner Kanadas im Zuge ihrer Assimilierung misshandelt worden. Harper bat nun offiziell um Verzeihung und folgte so dem Beispiel Australiens, wo sich im vergangenen Februar nach langen Jahren für die  Diskriminierung der Aborigines entschuldigt wurde.



15 Minuten dauerte Harpers Rede, während der er zeitweise mit den Tränen ringen musste. Vor 11 Überlebenden des Umerziehungssystems, mit dem Kanada jahrzehntelang die „aggressive Assimilierung“ seiner Ureinwohner vorantreiben wollte, erklärte er im Namen der Regierung und aller Kanadier,  das Geschehene sei ein trauriger Abschnitt in der kanadischen Geschichte. „Die Regierung von Kanada entschuldigt sich aufrichtig und bittet die Ureinwohner um Vergebung dafür, dass dieses Land sie so sehr im Stich gelassen hat. Es tut uns leid“, so der Ministerpräsident.

Seit 1870 waren in Kanada Kinder der Ureinwohner ihrer Eltern beraubt und zwangsassimiliert worden, indem man sie in meist kirchlich geführte Internate steckte. Vielfach war es dort zu Misshandlungen und sexuellem Missbrauch gekommen, die Kinder waren körperlicher Gewalt und psychischer Erniedrigung hilflos ausgesetzt. Viele ehemalige Schüler berichteten, sie seien geschlagen worden, wenn sie in ihrer Muttersprache redeten, dass sie häufig unter Hunger leiden mussten und mit der Zeit den Kontakt zu ihren Eltern und ihrer Kultur vollkommen verloren. Die  letzte Erziehungsanstalt dieser Art war erst 1996 geschlossen worden.

Es sei falsch gewesen, die Kinder der Ureinwohner aus ihren Familien und Gemeinschaften zu reißen, um sie in speziellen Internaten ihrer Kultur, Sprache und Traditionen zu berauben, erklärte Harper. Heute sehe man, dass man durch die zwangsweise Trennung von den Eltern die Fähigkeit vieler Internatskinder, selbst einmal die Elternrolle zu übernehmen, beeinträchtigt habe. Damit habe man auch nachfolgenden Generationen Schaden zugefügt.

Unter den geladenen Gästen befand sich auch die 104 – jährige Marguerite Wabano, die älteste Überlebende der Betroffenen. Insgesamt erfuhren 150.000 Kinder ihre „Erziehung“ in den kirchlichen Heimen, deren Sinn und Zweck es war, den „Indianer im Kind zu töten“, wie es einer der Anwesenden formulierte. Ungefähr 90.000 von ihnen leben heute noch.

Bisher hat die kanadische Regierung in Ottawa Entschädigungszahlungen in Höhe von 2 Milliarden Dollar (1,26 Milliarden Euro) für alle zwangseingeschulten ehemaligen Schüler und deren Nachfahren bereitgestellt, nachdem der Oberste Gerichtshof des Landes 2005 entschieden hatte, dass Staat und Kirchen für die psychischen, physischen und sexuellen Misshandlungen der Betroffenen verantwortlich gewesen waren. An die Opfer physischer und sexueller Gewalt soll eine zusätzliche Entschädigung gezahlt werden. Zudem wurde eine Wahrheits- und Versöhnungskommission zusammengestellt, welche die damaligen Vorkommnisse prüfen und Aussagen der noch lebenden Betroffenen anhören soll.

Einen ersten kleinen Schritt in die Richtung des Eingeständnisses der Verbrechen hatte 1998 die damalige Ministerin für indianische Angelegenheiten, Jane Stewart, gemacht, indem sie ihr Bedauern für die Einrichtung der Internate ausgesprochen hatte. Eine Entschuldigung für das zugefügte Leid hatte sie jedoch nicht geäussert.

Ministerpräsident Harper folgte mit seiner Verzeihungsrede dem Beispiel seines australischen Amtskollegen Kevin Rudd, welcher sich im vergangenen Februar bei Australiens Ureinwohnern,denen ähnliches Leid zugefügt worden war, entschuldigt hatte. Auch hier war es bis in die 70er Jahre die Regel gewesen, Eltern ihrer Kinder zu berauben, um in staatlichen Heimen ihre Assimilation an die europäisch geprägte Gesellschaft zu forcieren.

Im Gegensatz zu den kanadischen Ureinwohnern hatten die Aborigines jedoch keine finanzielle Entschädigung für die Verbrechen an ihrem Volk erhalten.

Veröffentlicht: 13. Juni 2008



Focus-online
11.06.08

 
Kanada
Entschuldigung bei Indianern


Jahrzehntelang wurden Ureinwohner in Kanada misshandelt. Seinem australischen Kollegen folgend, bat Premierminister Harper die Opfer nun um Verzeihung.

Kanadas Premier Harper im Abgeordnetenhaus
Es sei falsch gewesen, die Kinder der Ureinwohner aus ihren Familien und Gemeinschaften zu reißen, um sie in speziellen Internaten ihrer Kultur, Sprache und Traditionen zu berauben, sagte Stephen Harper am Mittwoch vor dem Parlament in Ottawa. Die zwangsweise Unterbringung der Kinder in den Heimen habe auch Misshandlungen ermöglicht. Er sprach von einem „traurigen Kapitel“ in der Geschichte des Landes und entschuldigte sich bei den Opfern.

„Heute sehen wir, dass die Politik der Assimilierung falsch war, großes Leid verursachte und keinen Platz in unserem Land hat“, sagte Harper in Anwesenheit von Vertretern der Ureinwohner. Die Auswirkungen seien absolut negativ gewesen und hätten der Kultur, dem Erbe und der Sprache der Ureinwohner nachhaltigen Schaden zugefügt. „Im Namen der kanadischen Regierung und aller Kanadier stehe ich vor euch (..), um mich für die Rolle der kanadischen Regierung in dem Indianer-Internats-System zu entschuldigen“, sagte Harper.

Misshandlungen und sexueller Missbrauch

Heute sehe man, dass man durch die zwangsweise Trennung von den Eltern die Fähigkeit vieler Internatskinder, selbst einmal die Elternrolle zu übernehmen, beeinträchtigt habe. Damit habe man auch nachfolgenden Generationen Schaden zugefügt. „Viel zu oft“ hätten diese Institutionen auch „zu Missbrauch und Verwahrlosung geführt“, so Harper.

Von 1870 bis in die 1970er-Jahre hinein waren in Kanada Kinder der Ureinwohner in zumeist kirchlich geführten Heimen zwangsassimiliert worden. Vielfach kam es zu Misshandlungen und sexuellem Missbrauch. Von den rund 150 000 Kindern, die diese staatlich geförderten Schulen durchlaufen haben, leben heute noch rund 80 000. 2006 hatte die Regierung in Ottawa bereits Entschädigungszahlungen an die Opfer für die dabei erlittenen physischen, psychischen und sexuellen Misshandlungen in Höhe von knapp zwei Milliarden Dollar (1,26 Milliarden Euro) bewilligt.

In Kanada leben rund 1,3 Millionen Ureinwohner, insgesamt gibt es 33 Millionen Kanadier. Die wirtschaftliche Lage der Ureinwohner ist deutlich schlechter als beim Durchschnitt der kanadischen Bevölkerung und die Selbstmordrate besonders hoch.

Im Februar hatte sich die australische Regierung für ähnliche Misshandlungen, die dort an den Kindern der Aborigines begangen wurden, offiziell entschuldigt. Einen Entschädigungsfonds für die Ureinwohner schloss Regierungschef Kevin Rudd jedoch aus. Die Betroffenen können aber dennoch vor Gericht ziehen: Im August 2007 wurden einem Aborigine, der 1958 seiner Familie als Baby entrissen worden war, Entschädigungszahlungen in Höhe von umgerechnet 306 000 Euro zugesprochen.


3. Juni 2008
SHZ.de

NORDDEUTSCHE RUNDSCHAU
ZDF-Dokumentation über Fürsorgeheim

SHZ.de -
URL: http://www.shz.de/
27. Mai 2008

SCHLESWIG-HOLSTEIN
 
Gefangen im Namen der Fürsorge
Von Christine Reimers

Die Aufklärung dauert ihnen zu lange. Die ehemaligen Kinder aus dem berüchtigten Glückstädter Landesfürsorgeheim wollen endlich Gerechtigkeit. Immer neue Fälle werden bekannt.


Beschuldigt das Ministerium, nicht schnell genug für Aufklärung zu sorgen: Otto Behnck vor einer Gedenktafel am neuen Gebäude, die daran erinnert, dass sich dort einmal ein KZ befand. Foto/Repro: Reimers

Harry R. wurde nur 17 Jahre alt. Im Mai 1969 hat er sich aufgehängt. Der junge Lübecker war damals im Landesfürsorgeheim in Glückstadt (Kreis Steinburg) untergebracht. Drei Wochen vorher gab es in dem Heim eine Revolte. Die jungen Leute im Alter zwischen 14 und 21 Jahren wollten auf die Missstände im Heim aufmerksam machen. Voller Wut zertrümmerten sie in den Abendstunden die Inneneinrichtung. Dementiert wurde damals von offizieller Seite, dass der Selbstmord des Insassen in Zusammenhang mit dem Aufruhr stand. Gestorben ist Harry R. in Isolationshaft - in einer Zelle im Keller, die aus der Nazizeit stammte, als das Haus ein Konzentrationslager war.

Es gibt viele Fragen zu dem damals noch einzigen geschlossenen Heim in Deutschland, welches 1974 auf politischen Druck geschlossen wurde. Ehemalige Heimkinder fordern, dass die Fragen aufgearbeitet werden. Sie fürchten aber, dass das Land sich jetzt aus der Verantwortung zieht.
Stiftung zur Finanzierung der Ermittlungen gesucht
Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) versprach schon nach der Berichterstattung 2007 in unserer Zeitung Aufklärung. Im Januar dieses Jahres lud sie erneut zum Runden Tisch ein. Die Leiden der Heimopfer sollten aufgearbeitet werden. 7000 Akten des Landesfürsorgeheims lagern im Landesarchiv. Aus ersten Recherchen dort und dem Protokoll des Runden Tisches erstellt der Pädagogik-Professor Christian Schrapper von der Universität Koblenz derzeit eine Dokumentation. Das teilt Ministeriumssprecher Christian Kohl mit. "Darüber hinaus möchte Professor Schrapper mit Unterstützung des Sozialministeriums eine weitergehende wissenschaftliche Aufarbeitung durchführen", sagt Kohl. Zur Mitfinanzierung solle eine Stiftung gewonnen werden.
Eine bekannte Stiftung habe die Finanzierung schon abgelehnt, sagt Otto Behnck (56). Der Sprecher der ehemaligen Heimkinder und -jugendlichen fordert: "Das Land muss die Finanzierung der wissenschaftlichen Aufarbeitung übernehmen. Wir wollen eine rückhaltlose Aufklärung. Die Dokumentation ist zu wenig."
"Es gibt kein schlimmeres Heim in Deutschland"
Selbstmorde sind ein Thema, die psychischen Folgen ein anderes. "Es gab kein schlimmeres Heim in Deutschland", sagt Behnck. Die Jugendlichen waren wie in einem Gefängnis weggesperrt. Anstaltskleidung war vorgeschrieben - einheitliche, blau-weiß gestreifte, durchgehend geknöpfte Hemden, dazu passende Arbeitsanzüge aus hartem Leinen und Holzlatschen. Sechs Tage die Woche mussten die "Zöglinge" arbeiten. Unter anderem knüpften sie auf einem Dachboden des Hauses Fischernetze. Für 1000 Knoten gab es als Extraration eine Zigarette. Bekannt ist auch, dass Jugendliche für eine Glückstädter Firma Jauchegruben ausheben mussten.
Immer wieder flüchteten Jugendliche aus dem Heim - so wie 1966 der damals 17-jährige Ferdinand E. Als er über einen Acker rannte, streckte ihn die Kugel eines damals 24-jährigen Jägers und Landwirts nieder. Er tötete E. mit einem Schuss in die Brust - und sagte damals aus, dass er von dem jungen Mann bedroht worden sei. Ein Gerichtsprozess endete mit dem Urteil "Notwehr". Heute will sich der Bauer nicht mehr dazu äußern.
"Wir waren ausgeliefert, wurden gedemütigt"
Behnck will diesen Fall wieder aufrollen. Er stellt auch die Frage, was aus dem Geld geworden ist, das die Firmen zahlten. "Wir haben keinen Lohn bekommen. Auch haben wir für diese Zeit keine Rentenansprüche."
Er selbst war auf Betreiben seiner Eltern drei Monate im Landesfürsorgeheim. Seine Eltern waren es auch, die ihn nach einem Besuch dort wieder vom Jugendamt herausholen ließen. Andere hatten nicht so viel Glück, sie blieben weitaus länger. "Wir wollen deutlich machen, wie es zugegangen ist. Wir waren ausgeliefert, wir wurden gedemütigt. Wir haben uns erbärmlich gefühlt."
Seelsorger: "Einigen ist das Heim gut bekommen"
Über die Frage der Entlohnung kann das Sozialministerium keine Auskunft geben. "Aussagekräftige Daten darüber sind im Moment nicht bekannt", sagt Pressesprecher Kohl. Zum Thema Selbstmorde erklärt er: "Um solchen Fragen nachzugehen, ist ein tieferes Einsteigen in die Geschichte nötig, auch deshalb hat das Sozialministerium die Aufarbeitung und Archivierung der Akten im Landesarchiv veranlasst. Die Häufigkeit von Selbstmorden oder der Umgang mit Selbstmördern können noch nicht eingeschätzt werden."

Ein Seelsorger, der damals im Heim tätig war, hat eine andere Sichtweise als die Heimzöglinge: "Einzelnen ist das Heim gut bekommen. Es tat mir damals leid, dass es geschlossen wurde." Ein absoluter Verschluss der jungen Männer sei notwendig gewesen. "Weil sie es nötig hatten." Er war auch für die Abteilung der jungen Frauen zuständig. "Sie waren nicht so gefängnismäßig unter gebracht wie die Jungen", erinnert er sich. Insgesamt habe er aber von beiden Abteilungen einen guten Eindruck gehabt. Nur als der neue Leiter des Fürsorgeheimes kam und "neue Methoden" einführte, sei es unruhiger geworden. "Er wollte mit den Jungen zum Beispiel gemeinsam laufen gehen." Aber das hätte zur Folge haben können, dass die jungen Leute weggelaufen wären.

Leserkommentare
 
HEINRICH THOMSEN
27.05.2008 10:58
Landeserziehungsheim
In den späten 60ern gehörte es noch zum Alltag in Glückstadt, dass entlaufene Jugendliche durch die Stadt gejagt wurden.
Eine häufig zu verrichtende Arbeit für die Jugendlichen war das Ausschaufeln der Klärbecken zur Betriebswassergewinnung bei der Temming AG.
Sie standen tief im stinkenden Klärschlamm und schaufelten.
Dieses Bild hat sich mir eingeprägt.
Der Begriff "Heim" war sicher ein Euphemismus - es war eine Jugendstrafanstalt und nach meinem Wissen war die Zusammensetzung der "Insassen" sehr gemischt -Gewalttäter und "schwierige Jugendliche" recht zufällig gemischt.
Sicher wird es Zeitzeugen geben und jede Menge Dokumente.
Man kann auch durch eine sehr langwierige, kostspielige wissenschaftliche Studie
sicher sehr viele solide Informationen gewinnen. Eine solche Studie birgt aber auch die Gefahr, der "Beerdigung eines Themas auf wissenschaftlichem Niveau".
Verständlich, dass ehemalige "Insassen" in der Regel heute schweigen.
es sollte aber wohl möglich sein, auch mit begrenzten Mitteln schnell eine seriöse Aufklärungs- und Forschungsarbeit zu dieser Einrichtung zu starten.
Ich verweise ungern in diesem Zusammenhang auf Ausgaben, die recht problemlos für Gutachten aller Art im Land und in den Kommunen getätigt werden.

© SHZ.de 2008
Schleswig-Holsteinischer Zeitungsverlag GmbH & Co. KG

RP ONLINE
24.04.2008
www.rp-online.de/public/article/solingen/559776/Tore-die-geschlossen-bleiben.html
Solingen

Tore, die geschlossen bleiben
VON MARTIN OBERPRILLER

Heute haben Einrichtungen wie der Halfeshof moderne Konzepte. Das war früher anders. Der Landschaftsverband lässt über die Geschichte seiner Heime forschen, die auch die Geschichte von Paul Budau und seines Vaters ist.
Das stählerne Tor zum Solinger Halfeshof fiel scheppernd hinter dem kleinen Jungen ins Schloss – und in diesem Moment, der so schrecklich lange zu dauern schien, kam es Paul Bludau fast so vor, als würde er noch einmal die Stimme des Vaters hören. Der hatte 20 Jahre zuvor selbst in einem Kinderheim gesessen, und immer dann, wenn Sohn Paul, eines von zwölf Kindern, ihn mal wieder nervte, waren dem Vater die Geschichten von den „großen, kräftigen Männern“ eingefallen, vor denen es angeblich kein Entkommen gab, wenn man ihnen erst mal in die Hände gefallen war. Jetzt jedenfalls war es so weit: Paul würde von nun an den Kerlen hinter dem Stahltor hilf- und schutzlos ausgeliefert sein – und ob sie ihn jemals wieder los lassen würden, wer konnte das schon sagen!?
Seit diesem schrecklichen Tag im Jahr 1981, als Paul Bludau ins Kinderheim Halfeshof kam, sind inzwischen 27 Jahre ins Land gezogen. Das große Tor gibt es schon lange nicht mehr, und die gefürchteten Pfleger, vor denen der damals Elfjährige diese riesen Panik hatte, erwiesen sich schließlich auch noch als ganz fähige Erzieher. „Meine Gefühle sind gespalten, wenn ich an meine Zeit im Halfeshof denke“, erinnert sich Bludau, der immerhin sieben Jahre, bis 1988, dort lebte. Heute ist er gelernter Altenpfleger, hat fünf Kinder, engagiert sich im „Elternverband Bergisches Land“ für Familien – und ob das alles so ohne den Halfeshof gekommen wäre, da hegt Bludau schon Zweifel.
Abgeschottete Welt
Denn immerhin herrschten in dem Heim für Schwererziehbare, wie der Halfeshof in den 80er-Jahren noch genannt wurde, schon längst nicht mehr die Zustände, die Paul Budaus Vater Jahrzehnte zuvor in einer anderen Einrichtung durchlitten hatte. „Nach dem Krieg waren die Heime noch eine sehr abgeschottete Welt“, berichtet Wolgang Beicht, der den Halfeshof seit 1987 leitet. Und in dieser Welt herrschte ein strenges Regiment. Die Kinder, die fast alle aus ganz schwierigen familiären Verhältnissen kamen, mussten zum Beispiel in der heimeigenen Landwirtschaft hart schuften. Pädagogische Konzepte, heute selbstverständlich, kannte damals kein Mensch.
Diese Geschichte der Heime und ihrer Zöglinge will der Landschaftsverband Rheinland als Träger von Historikern aufarbeiten lassen (wir berichteten). Eine sechsstellige Summe steht zur Verfügung. „Es melden sich immer mehr Ehemalige zu Wort“, erklärt Halfeshof-Leiter Beicht, dessen Einrichtung heute oft Jugendliche vor dem völligen Abrutschen bewahrt. „In unserer Haft-Vermeidungsgruppe arbeiten wir eng mit der Justiz zusammen“, fährt Beicht fort, der auch weiß, dass der Halfeshof eine Familie nie ersetzen kann. Und an diesem Punkt spalten sich die Gefühle, wenn Paul Budau an die Halfeshof-Zeit zurückdenkt: „Bis heute habe ich Schwierigkeiten, mit einem Partner zusammenzuleben.“ Einige Tore öffnen sich eben nie wieder.
© RP ONLINE GmbH 1995 - 2008

ZDF frontal 21
22.04.2008
 

Torf stechen: Schwerstarbeit für "Heimzöglinge"

Zwangsarbeit für die Kirche?

Heimkinder fordern Entschädigung
von Karsten Deventer und Eva Schmitz-Gümbel
Bete und arbeite - noch bis in die 70er Jahre hinein sah so der Alltag vieler Kinder und Jugendlicher in kirchlichen Erziehungsheimen aus. Erst vor kurzem haben Heimkinder ihr jahrzehntelanges Schweigen gebrochen und fordern jetzt Entschädigung für eine leidvolle Kindheit.
 
 Als Heimkind musste Rosenkötter hart arbeiten.
Wolfgang Rosenkötter ist 16 Jahre alt, als er 1961 in ein Heim der Evangelischen Diakonie Bethel im niedersächsischen Freistatt eingewiesen wird. Das Scheidungskind bekommt schnell die ganze Härte des Anstaltsalltags zu spüren. Um 7.00 Uhr: Antreten zum Appell, danach geht es zum Arbeiten ins Moor - Torf stechen. Die Heimkinder von Freistatt verrichten täglich Schwerstarbeit: "Wir mussten praktisch ständig in gebückter Haltung arbeiten", erinnert sich Rosenkötter. Immer wieder wären sie aufgefordert worden, schnell zu arbeiten. Oft seien sie auch geschlagen worden.

Lohn gibt es für die harte Arbeit nicht; dafür Strafmaßnahmen für diejenigen, die nach Ansicht der Erzieher nicht spuren. "Im Tagesraum stand ein großer Billardtisch", berichtet Rosenkötter. "Dann musste man im Entengang um diesen Billardtisch herumlaufen, bis man umgekippt ist. Wenn man hochkam, weil man nicht mehr konnte, dann kriegte man mit dem Billardstock eins über den Rücken." Mehrere Male habe sein Rücken geblutet. Auch an tagelange Isolation in so genannten Besinnungszellen könne er sich erinnern. Hilflos ist Wolfgang der Willkür seiner "Erzieher" ausgeliefert. Eine staatliche Kontrolle gibt es nicht.

"Bedauerliche Einzelfälle"
Etwa 3000 Heime gab es in Deutschland zwischen 1950 und 1970, 80 Prozent davon in kirchlicher Hand. Insgesamt wurden dort etwa eine Million Kinder und Jugendliche erzogen. Was jedoch hinter den Mauern vieler Einrichtungen geschah, gelangt bis heute nur vereinzelt an die Öffentlichkeit. Doch immer mehr Betroffene brechen, wie Wolfgang Rosenkötter, ihr Schweigen und fordern eine Wiedergutmachung von Seiten der Kirche. So ist es Rosenkötter wichtig, dass "die Träger, die Verantwortlichen, anerkennen, dass Zwangsarbeit stattgefunden hat, dass man sich für diese Sache entschuldigt, dass ein finanzieller Ausgleich erfolgt für die Zeit, die man hier erlitten hat und nicht entlohnt wurde."

Heimkinder wurden oftmals als billige Arbeitskräfte ausgenutzt.

Doch die Kirchen wiegeln ab, sprechen von "bedauerlichen Einzelfällen": Nach Ansicht des Präsidenten des Diakonischen Werkes, Klaus-Dieter Kottnik, sei es damals üblich gewesen, dass Kinder auch auf Bauernhöfen mitgearbeitet haben, mit zum Erwerb der Familie beigetragen haben. "Und so haben die Kinder, die in den Heimen gelebt haben, mitgeholfen, zum Unterhalt der Heime beizutragen. Zwangsarbeit ist etwas, was wir da überhaupt nicht als eine Parallele ansehen", so Kottnik gegenüber Frontal21.
Kirche spricht von "Arbeitserziehung"
Auch die katholische Bischofskonferenz spricht von Einzelfällen, sieht keine Systematik. Für die Arbeit in den Heimen finden die Bischöfe sogar eine Rechtfertigung. Auf Anfrage von Frontal21 teilt die Bischofskonferenz schriftlich mit, es sei darum gegangen, Kindern und Jugendlichen zu helfen: Dazu gehöre nach damaliger Einschätzung die Hinführung zur Arbeitswelt unter dem Begriff "Arbeitserziehung".
Seit 2006 beschäftigt sich auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags mit dem Schicksal der Heimkinder. In wenigen Wochen wird er einen Abschlussbericht zu den Anhörungen vorlegen. Derweil plädiert die Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Renate Künast, für eine Stiftung nach dem Vorbild des Entschädigungsfonds für NS-Zwangsarbeiter.

READERS EDITION
18.April 2008

Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XXXVII):
Frontal 21 berichtet über Heimkinder

Artikel von Heinz-Peter Tjaden

Der Papst hat Größe bewiesen: In den USA traf er sich für alle überraschend mit [1] fünf Frauen und Männern, die als Kinder von Priestern sexuell missbraucht worden sind. Lange Zeit wurden diese Übergriffe unter den Teppich gekehrt, bis niemand mehr diesen Schmutz verstecken konnte, inzwischen ist eine Milliardensumme als Entschädigung geflossen - die Zahl der sexuellen Missbrauchsfälle wird zurzeit auf über 10.000 geschätzt.
Sexuellen Missbrauch gab es in den 50-er, 60-er und 70-er Jahren auch in deutschen Heimen unter dem Dach der katholischen Kirche, die Kinder wurden verprügelt, gedemütigt und als kostenlose Arbeitskräfte ausgenutzt. Darüber berichtet das ZDF-Magazin [2] “frontal 21? am 22. April 2008 ab 21 Uhr. Vor die Kamera geholt wurden auch ein ehemaliges Heimkind und der heute beim Landschaftsverband Rheinland (LVR) Verantwortliche.
Dezernent entschuldigt sich
So trafen sich am 10. April: [3] Ein 51-Jähriger, der in einem Kloster zur Welt kam und bis 1974 in vier verschiedenen Heimen lebte. Erdulden musste er Schläge mit Kleiderbügeln, Schuhen, Rohrstöcken, man bestrafte ihn mit verdorbenem Essen und Wegsperren, an ihn gerichtete Post wurde unterschlagen, bei der Arbeit musste er giftige Gase einatmen, immer wieder gab es Prügel, seine Schulbildung wurde vernachlässigt.
Dafür entschuldigte sich LVR-Dezernent [4] Michael Mertens, es habe damals kein pädagogisches Konzept gegeben, alle Kinder seien in ein Korsett gezwängt worden, niemand habe Rücksicht auf Berufswünsche und persönliche Entwicklung genommen. Mertens versprach eine Prüfung der Akte des ehemaligen Heimkindes und dessen finanzielle Ansprüche aus dem Opferentschädigungsgesetz.
Zuständig ist der LVR auch für 89 Jugendämter. Dazu gehört das Jugendamt in Mönchengladbach, das vom Oberlandesgericht Düsseldorf (Az II-5 UF 69/08) zu einer Stellungnahme aufgefordert worden ist, weil sich die Eltern von Jessica Müller über den fortbestehenden Sorgerechtsentzug beschwert haben. Diese Stellungnahme trägt das Datum vom 3. April 2008.
Olle Kamellen
Auf zwei Seiten bezieht sich die zuständige Jugendamtsmitarbeiterin erst einmal und dann immer wieder “auf die Stellungnahme des Jugendamtes vom 10. 1. 2008.” Ziemlich sicher ist sie, dass die Eltern immer noch erziehungsunfähig sind, als jüngsten Beweis dafür, dass Jessica im Heim am besten aufgehoben ist, führt sie einen Bescheid des Düsseldorfer Versorgungsamtes vom 5. Januar 2007 an. Im Schlussabsatz schreibt sie: “…sind das Jugendamt und die Vormünderin bereit, die Kontakte wie gehabt zuzulassen.”
Damit stellt sie wahrscheinlich unter Beweis: Mit der Heimleitung hat sie vor der neuerlichen Stellungnahme nicht gesprochen, denn sonst wüsste sie, dass die Besuchskontakte zwischen Eltern und Jessica inzwischen ausgeweitet worden sind, und zwar von der Heimleitung in Absprache mit Mutter, Vater und Kind. Sollte diese Jugendamtsmitarbeiterin mit der Heimleitung gesprochen haben und dem Gericht die neue Entwicklung verschweigen, wäre es auch nicht besser.
Im letzten Satz weist sie darauf hin, dass sich die Eltern auch nicht über das Protokoll beschwert haben, das es vom jüngsten Hilfeplangespräch vom 13. Februar 2008 gibt. Dieser Hinweis ist aberwitzig: Immer wieder haben sich Behörde und Vormünderin darüber beklagt, dass der Vater von Jessica stets Protest anmeldete. Hüllen sich die Eltern von Jessica einmal in Schweigen, ist das auch wieder nicht richtig?
Den Vorwurf, dass sich Frank Müller sexueller Übergriffe schuldig gemacht hat, wiederholen weder Vormünderin noch Jugendamtsmitarbeiterin in ihren aktuellen Stellungnahmen. Der Grund könnte sein: Die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach beschäftigt sich in einem Verfahren gegen diese Jugendamtsmitarbeiterin und gegen die Familienrichterin mit diesem Vorwurf. Das Aktenzeichen, das am 14. April 2008 vergeben worden ist, lautet 502 AR 93/08.

Mehr zum Thema:
- Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XXXVI)
- Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XXXV)
- [5] Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XXXIV)

READERS EDITION
19. Februar 2008

Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XVI)
Artikel von Heinz-Peter Tjaden

Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages beschäftigt sich mit dem[1] Schicksal von Heimkindern in der Nachkriegszeit. Da auch der Landschaftsverband Rheinland (LVR) keine Fliege macht. Deshalb hat sich der Landesjugendhilfeausschuss am 29. November 2007 im Kölner Landeshaus mit diesem Thema beschäftigt. In einer Vorlage heißt es dazu: “Da der Landschaftsverband Rheinland in der gesamten Zeit nicht nur Träger von Einrichtungen war, sondern auch die Fachaufsicht über andere Träger ausgeübt hat, ist eine Positionierung seitens des Landschaftsverbandes Rheinland erforderlich.” In Erwägung gezogen wird inzwischen eine Entschuldigung bei ehemaligen Heimkindern.
Geht es allerdings um aktuelle Ereignisse, stecken immer noch viele den Kopf in den Sand, obwohl merkwürdigerweise immer wieder das Jugendamt der Stadt Mönchengladbach auftaucht, wenn es um unglaubliche Schilderungen geht.
Dieses Amt, das beharrlich zu Jessica Müllers Schicksal schweigt, ist laut einer Gesprächsnotiz, verfasst am 24. November 2006 von einem Pfarrer, für die Kinder Dennis und Jessica zuständig, für die kleineren Geschwister zeichnet das Jugendamt von Düren verantwortlich.
Ärztin stellt Ferndiagnose
Dem Vater der Kinder hat eine Ärztin im Juni des gleichen Jahres eine “paranoide Psychose” bescheinigt. Dieser Diagnose widersprach ein Psychotherapeut aus Berlin am 13. Juni 2006 in einem Attest ganz energisch: “Die Grundlage der Diagnostik der Ärztin beruht auf Angaben einer Sozialarbeiterin. Im Gegensatz zu Frau Dr. P. habe ich Herrn K. untersucht. Zum Zeitpunkt der Untersuchung gab es keinen, auch keinen diskreten Hinweis auf die von Frau Dr. P. vorgetragene Diagnose.”
Brachiale Gewalt
Drei Monate später bekam dieser Vater Besuch, besagter Pfarrer schilderte am 12. September 2006 die Ereignisse: “Das Jugendamt und die Polizei müssen mit einem großen Aufgebot (5 Polizisten und 3 Jugendamtsmitarbeiter) recht brachial in die Wohnung eingebrochen sein.” Die Schreie der Kinder seien im ganzen Haus zu hören gewesen. Weiter schrieb dieser Pfarrer: “Zwei der Kinder (die beiden Kleinen) wurden aus der Wohnung herausgezerrt. Dabei wurden sie angeherrscht, mit dem Schreien aufzuhören. Als dies nicht geschah, wurden ihnen die Münder zugehalten. Im Flur wurden sie dann, als sie sich losreißen konnten und verzweifelt nach ihrem Vater riefen, gegen das Geländer gepresst.”
OB lässt ersten Termin verstreichen
Dem Jugendamt von Mönchengladbach muss man jedoch den Mund nicht zuhalten, um Schweigen zu erreichen. Gleiches scheint für den Oberbürgermeister von Mönchengladbach zu gelten. Dem habe ich per Einschreiben auch im Namen von Jessicas Vater ein Gespräch vorgeschlagen. Dieses Schreiben kam am Freitag im Rathaus an, der erste von uns vorgeschlagene Gesprächstermin wäre der 22. Februar 2008. Den lässt Oberbürgermeister Norbert Bude auf jeden Fall erst einmal verstreichen.
Schwachsinnige Mühle-Spielerin?
Sabine und Frank Müller durften ihre Tochter Jessica inzwischen wieder in dem Heim besuchen, in dem die Zehnjährige seit vier Jahren lebt und seit einigen Wochen mit Risperdal ruhig gehalten wird, obwohl der Kleinen zu 60 Prozent Schwachsinn bescheinigt worden ist.
Diese Diagnose ist offensichtlich so falsch wie jene Ferndiagnose der Ärztin P. Denn dass die Kleine nicht nur Mühle spielen kann, sondern ihren Vater am Sonntag auch noch in Zwickmühlen gebracht hat, gleicht vor diesem Hintergrund einem spielerischen Wunder…
Mehr zum Thema:
- Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XIII)
- [2] Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XIV)
- [3] Papa, böse Kinder kommen in böse Kliniken (XV)

NETZEITUNG.DE
13. Februar 2008

URL dieses Artikels:
http://www.netzeitung.de/politik/ausland/901117.html

Australien kämpft um neues Image

Jahrelang wurden die Aborigines diskriminiert. Jetzt hat sich die australische Regierung offiziell bei den Ureinwohnern des Landes entschuldigt und damit begonnen, sich um Aussöhnung zu bemühen.

Alice Springs hat aufgeräumt. Alkohol trinken in der Öffentlichkeit ist in der Stadt im Herzen Australiens jetzt verboten. Arbeitslose Aborigines aus den 23 Towncamps am Stadtrand malen jetzt zum Teil für angesehene Ateliers die traditionellen Dot-Painting-Kunstwerke. So wie Alice Springs kämpft auch die Regierung für ein neues Image Australiens. Am Mittwoch hat sich Premierministers Kevin Rudd bei den Aborigines für die jahrzehntelange Diskriminierung entschuldigt. Doch viele Probleme im Zusammenleben zwischen den Ureinwohnern und den Nachfahren der weißen Siedler bleiben. In kaum einer anderen Stadt zeigt sich dies so wie in Alice Springs.
Bob Taylor steht am ausgetrockneten Todd River und zeigt auf ein versandetes Wasserloch. Die lästigen Buschfliegen vertreibt er mit der Hand. «Hier ist der Ursprung von Alice Springs», sagt er. Die weißen Siedler nannten die kleine Quelle im Zentrum des Kontinents 1871 «Alice», nach der Frau des Postmeisters Charles Todd, der den Bau einer Telegrafenleitung von der Süd- zur Nordküste vorantrieb.
Wie fast überall in Australien: Die Europäer haben die Städte gegründet, doch sie waren nicht die ersten hier. Schon zehntausende Jahre zuvor zogen Taylors Urahnen durch das Land rund um das heutige Alice Springs: Die Aborigines vom Stamme der Aranda oder Arrernte nannten den Ort Mbantua - Treffpunkt. «Ich fühle den Geist dieses Landes, die Anwesenheit unserer Vorfahren, Mutter Erde», sagt Taylor.


Das Schicksal eine gestohlenen Generation

Taylor? Klingt nicht sehr eingeboren. Das Schicksal des 47-jährigen Kochs und Fremdenführers ist das Schicksal einer ganzen «gestohlenen Generation»: Wie Zehntausende andere Aborigine-Kinder wurde er als Achtjähriger seinen Eltern weggenommen und in einem Erziehungsheim nach europäischen Maßstäben großgezogen. «Ich habe dort in Adelaide genug zu essen gehabt, konnte die Schule besuchen und in Sicherheit leben. Aber es war schwer für mich, so viele Jahre getrennt zu sein von meinen Eltern.»
Australien bemüht sich um Aussöhnung. Bereits 1985 konnten die Anangu-Aborigines das Land rund um das Wahrzeichen Ayers Rock (Uluru), das ihnen im 19. Jahrhundert weggenommen wurde, wieder offiziell in Besitz nehmen. Doch die Wunden der Geschichte reißen immer wieder auf. Zuletzt Ende vergangenen Jahres: Eine weiße Richterin schickte neun junge Männer aus Queensland, die ein Aborigine-Mädchen vergewaltigt hatten, nicht ins Gefängnis, sondern nach Hause. Begründung: Das zehnjährige Opfer habe der Tat «wahrscheinlich zugestimmt».


Vor der Besiedlung durch die Weißen war das Leben ideal

«Ein rassistisches Urteil», sagt Dennis Orr von der Frontier Camel Farm in Alice Springs. So wie er sehen das viele in Alice Springs, auch der Aborigine-Tänzer Peter Williams, der eigentlich Thulli Bibaway Thirramagundy heißt: «Die Regierung will uns nur stärker kontrollieren. Daher behauptet sie, wir würden unsere Kinder missbrauchen.» Der 43-Jährige Williams träumt davon, das Land seiner Vorfahren zu kaufen. «Vor der Besiedelung durch Weiße hatten wir das ideale Leben als Nomaden und Jäger.»
Zurück zu den Aborigine-Ursprüngen - dieses Motto hat auch das Art- Center Ngurratjuta Iltja Ntjarra. Dot-Painting heißt die traditionelle Malweise der Ureinwohner, früher als Zeichnungen im Sand, heute auf Leinwänden, professionell vermarktet. Eine Art naive Malerei mit Natursymbolen - überlieferten Zeichen etwa für Wasserlöcher, Bäume, Kängurus, Schlangen und Kinder. «Unsere Malerei ist wie eine Meditation, ein Traum», sagt Marilyn Armstrong. Sie ist eine von 400 Künstlern, die im Art-Center registriert sind. Einige der hier entstandenen Werke hängen in den führenden Galerien der Welt und erzielen auf dem Kunstmarkt hohe Summen - eine der ganz wenigen Erfolgsgeschichten der Aborigines in Australien. (dpa, Bernward Loheide)

Wiesbadener Tagblatt
12.02.2008

Regionalnachrichte aus Ihrer Idsteiner Zeitung

Die Schwachen nur als Last empfunden
Idsteiner Konfirmanden mit den Schicksalen von Opfern des Dritten Reiches konfrontiert

IDSTEIN Was heißt eigentlich behindert? Und wie wollen wir mit hilfsbedürftigen Menschen umgehen? Diesen schwierigen Fragen stellten sich Idsteiner Konfirmanden beim Besuch des Kalmenhofes. Dabei sahen sich die Jugendlichen mit dem Mord an vielen Heimbewohnern während der Nazi-Herrschaft konfrontiert.
 
Von Lisa-Leyla Öztürkoglu
Erzieher Lutz Kratz berichtete anhand der Dauerausstellung im Verwaltungsgebäude über die wechselvolle Geschichte der Einrichtung. 1888 mit dem Ziel gegründet, "den Hilflosen zu helfen", entwickelte sich der Kalmenhof schnell zu einer modernen Einrichtung mit reformpädagogischem Ansatz. "Es gab eine große Anzahl an Fachliteratur, und auch Lehrmaterial für Behinderte wurde hier entwickelt", berichtete Kratz. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde es gefährlich für die Bewohner des Kalmenhofes. "Die Menschen waren seelisch hart geworden", erklärte der Erzieher den Jugendlichen. Anstatt sich um die Schwächeren zu kümmern, wurden diese nun als Last für die Gesellschaft empfunden. Kratz zeigte auf ein Propagandaplakat, auf dem ein nach dem Rassenideal "arischer" Mann einen so genannten "Arbeitsscheuen" und einen behinderten Menschen auf dem Rücken trägt. "Behinderte Menschen wurden mehr und mehr als Gefahr für die `Volksgesundheit` gesehen", so Kratz.
Besonders die Einzelschicksale bewegten die Jugendlichen. So wie das von Anneliese H., die nach einem zweifelhaften Intelligenztest und der Prüfung ihrer "Erbtafel" zwangssterilisiert wurde. Besonders schlimm für Kratz war der Ton, in dem der Mutter diese Maßnahme mitgeteilt wurde: "Völlig unberührt klingt das. So als würde ein Lehrer der Mutter sagen, dass ihre Tochter die Hausaufgaben nicht gemacht hat!"
Das ganze Ausmaß der Euthanasie-Verbrechen im Kalmenhof verdeutlichen zwei schwarze Säulen, auf denen die Namen derer verewigt sind, die hier ihr Leben lassen mussten. "Die Zahlen variieren, aber man geht von über 750 Opfern aus", so Kratz. Nicht alle Bewohner wurden ermordet, viele starben auch an Vernachlässigung und Unterernährung. Emil W. dagegen, dessen kurze Briefe an seine Mutter in der Ausstellung zu sehen sind, wurde mit der Spritze hingerichtet. Kratz las den Jugendlichen aus den Briefen vor und fragte: "Hört sich das nach einem Kind an, das es nicht wert ist, weiterzuleben?"Er erntet nur stummes Kopfschütteln von den Jugendlichen, die von dem Schicksal des Jungen sichtlich betroffen sind.
Beim anschließenden Gang zum Grabmal zeigte sich der Erzieher beeindruckt von der Aufmerksamkeit der Jugendlichen: "Sie hören fast zwei Stunden interessiert zu; keine Selbstverständlichkeit in diesem Alter!"
Am Grabmal angekommen, verwies Kratz auf die jährlichen Gedenkfeiern am Volkstrauertag. "Wenn ihr euch eine halbe Stunde Zeit nehmen wollt, um der Opfer zu gedenken, ist das eine gute Möglichkeit", lud Kratz die Jugendlichen ein.
Aber auch der heutige Alltag im Kalmenhof kam zur Sprache. "Längst nicht alle Bewohner des Kalmenhofes sind behindert, viele kommen aus schwierigen Familienverhältnissen und finden hier ein neues Zuhause", so der Erzieher.
Die Konfirmandengruppe besuchte an diesem Tag zusätzlich das Idsteiner Altenzentrum Vinzenz-von-Paul-Haus, um dort mehr über den Alltag der Bewohner zu erfahren. Hier begleitete "Konfi-Teamerin" Jutta Schmidt die jungen Gäste.

rbb-online
25. Januar 2008

zibb vom 25.1.2008
Tatsachenbericht

Entschädigung für ehemalige Heimkinder
 
Der Berliner Dietmar Krone hat ein Buch über seine traurigen Kindheitserlebnisse als Heimkind in der BRD geschrieben. Die Rede ist nun von Wiedergutmachung für die Menschenrechtsverletzungen in den 50er bis 70er Jahren.

Sogar im Petitionsausschuss des Bundestags wird über diskutiert, während sich ehemals Misshandelte beim Verein "Gangway" in Berlin-Mitte mit heutigen Jugendlichen treffen, die ebenfalls nach einem Platz in der Gesellschaft suchen.

Hintergrund

Das Thema Erziehungscamps ist mit dem hessischen Wahlkampf hoch gebrodelt. Diese Diskussion kritisiert der Verein ehemaliger Heimkinder. Sie haben Wegsperren, Ausgrenzung und so genannte Arbeitstherapie in den 50er, 60er und 70er erlebt.

In 3000 Fürsorgeheimen lebten und litten sie zum Teil ohne Ausbildung unter unwürdigsten Missständen. Vor vier Jahren wurde durch einen Spiegelartikel das Schweigen gebrochen und die Betroffenen organisierten sich.

Seit 2006 befasst sich auch der Bundestag mit ihren Forderungen an Staat und Kirche: Sie wollen Entschädigung, Entschuldigung und die Finanzierung von Langzeittherapien, denn die Verletzungen sitzen tief.

Wie bei dem Berliner Dietmar Krone: Der Frührentner hat vor ein paar Jahren begonnen zu schreiben. Auf diese Weise arbeitet der 53-Jährige seine Traumata auf. In seinem Buch „Albtraum Erziehungsheim" erinnert er sich an jedes Detail.

Als ungewolltes Kind landete er zunächst im Waisenhaus, dann bei seiner Oma. Nach deren Tod hat ihn die Mutter schwer misshandelt und halb verhungern lassen. Dietmar Krone wurde vernachlässigt bis die Fürsorge ihn „ wegen sittlicher Verwahrlosung" ins Erziehungsheim in Viersen-Süchteln einwies.

Täglich stand er acht bis 14 Stunden auf dem Feld; damals schufteten Mädchen für kirchliche Träger, Jungen für die Landschaftsverbände. Es war ein Leben ohne Bücher, ohne Schul- und Berufsausbildung.

In den Fürsorgeanstalten gab es drakonische Strafmaßnahmen, zum Beispiel die berüchtigte Dunkelkammer bei Wasser und Brot. Unter den Betreuern waren auch viele, die auf dem Bau gearbeitet oder sogar in der Wehrmacht gedient hatten: Es gab keine ausgebildeten Erzieher, keine Pädagogik, sondern nur seelische und körperliche Gewalt.

Traumatisch waren für Dietmar die Selbstmorde, die er miterleben musste und ein brutaler Übergriff: Seitdem ist er zu 70 Prozent schwer behindert. Die Psychiatrie war seine Endstation. 1973 landete er mit nichts in Westberlin. Er konnte nur Hilfsjobs annehmen bis er sich selbst das Uhrmacherhandwerk beibrachte und sich selbstständig machte.

Jetzt ist er früh berentet, wie 90 Prozent aller ehemaligen Heimkinder, und er ist schwer krank. In dem Verein ehemaliger Heimkinder engagiert er sich dafür, dass die Zwangsarbeit auf die Renten angerechnet wird. Er hofft auf eine Gesetzesvorlage, damit das Leiden von Tausenden als Menschenrechtsverletzung anerkannt wird, und auf eine Wiedergutmachung.

Für Dietmar Krone war es ein tief greifendes Erlebnis, zu merken, dass er nicht mit seinen erlittenen Qualen alleine ist. Eine Entschuldigung ist für ihn das Wichtigste, um das Leiden aufzuarbeiten.

Ein Beitrag von E. Wagner

Dietmar Krone „Albtraum Erziehungsheim
Die Geschichte einer Jugend“, Engelsdorfer Verlag

Junge Welt
23.01.2008

Tausende Einzelfälle

Ehemalige Heimkinder fordern Entschädigung für Sklavenarbeit.

Wissenschaftler im Bundestag: Unrecht mit System in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen
Jana Frielinghaus

Auch Regina Eppert hat über 40 Jahre geschwiegen und nicht einmal mit ihrer Schwester über die gemeinsamen traumatischen Erlebnisse in einem Heim für »gefallene Mädchen« des Vinzentinerinnenordens gesprochen. Jahrzehntelang schämte sie sich, weil man ihr immer wieder gesagt hatte, sie sei nichts wert. Heute ist sie zweite Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder (VEH), der im Namen Zehntausender Entschädigungen für Entrechtung und jahrelange Schwerstarbeit ohne Entlohnung fordert. Zwischen 1945 und 1975 waren in rund 3000 staatlichen und kirchlichen »Fürsorgeheimen« zwischen 500000 bis eine Million Jungen und Mädchen untergebracht, aber auch junge Erwachsene, die noch nicht 21 waren – erst mit diesem Alter galt man seinerzeit als volljährig.

Am Montag abend hatte der Verein in Berlin sechs Wissenschaftler zu einem öffentlichen Gespräch eingeladen, die zuvor in einer Anhörung des Petitionsausschusses des Bundestages über die Organisation und die Zustände in der Jugendhilfe jener Zeit berichtet hatten. Regina Eppert forderte im Namen des VEH einen Runden Tisch zur Aufarbeitung des Unrechts in den Heimen. Rechtsanwalt Gerrit Wilmans fügte hinzu, dies müsse jetzt erfolgen und nicht erst in mehreren Jahren. Politik und Kirchen dürften nicht »auf eine biologische Lösung des Problems hoffen«. Eppert betonte, der Verein fordere auch die Anerkennung der Arbeitszeiten in den Heimen als Rentenanwartschaftszeiten für die unbezahlte Arbeit früherer Heiminsassen. In der Regel waren für sie keine Sozialversicherungsbeiträge bezahlt worden.

Die Wissenschaftler erklärten übereinstimmend, die Mißstände in Heimen seien in den 1950er, 60er und 70er Jahren ein strukturelles Problem gewesen. Christian Schrapper, Leiter des Instituts für Pädagogik der Universität Koblenz, betonte, bereits vor 50 Jahren hätten Fürsorgeheime in der Kritik gestanden: »Das war schon zur damaligen Zeit offensichtliches Unrecht«. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler hob hervor, die Qualifikation des Personals in den Fürsorgeheimen sei damals »katastrophal« gewesen. Befremdlich sei die Tatsache, daß für die »politisch opportune« Aufarbeitung von Verfehlungen in der Jugendhilfe der DDR Geld vorhanden sei, für eine vergleichbare Forschung in den alten Bundesländern aber nur schwer Mittel aufzutreiben seien.

Kappeler hatte in früheren Veröffentlichungen erklärt, in den meisten großen Erziehungsanstalten habe ein »postfaschistischer Geist« geherrscht. Selbst die Ausbildung an Fachschulen für Sozialarbeit sei seinerzeit noch stark vom »eugenischen Denken« der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt gewesen.

Anwalt Wilmans resümierte, die Schilderungen zeigten, daß es nicht nur um Einzelfälle gehe, wie von Kirchenvertretern immer wieder behauptet, sondern um systematische Menschenrechtsverletzungen. Kirche und Staat hätten also Tausende zerstörter Biographien zu verantworten. Nach Angaben von Regina Eppert wird sich der Petitionsausschuß in mehreren Schritten weiter mit dem Thema befassen. Am Ende solle ein Konzept zur Aufarbeitung des Unrechts stehen. Sie zeigte sich gegenüber jW enttäuscht, daß Menschen, die ein halbes Jahr in einem Jugendwerkhof der DDR verbracht hätten, längst eine staatliche Entschädigung erhalten hätten, während die Opfer der Heimerziehung West weiter auf dergleichen warten müssen.

Die Bundestagsfraktion der Grünen hat bereits im April 2007 die Einrichtung eines Fonds gefordert, der nicht nur Entschädigungen für entgangenen Lohn und vorenthaltene Ausbildung zahlen, sondern auch Therapien finanzieren soll. Hier sollten sowohl die Kirchen als auch öffentliche und andere Betreiber von Heimen einzahlen. Die Kirchen vertreten noch immer die Ansicht, eine systematisch angeordnete oder geduldete Mißhandlung und Ausbeutung in den von ihnen betriebenen Heimen sei auszuschließen.

Der Paritätische Gesamtverband
22.01.08

Die Erfahrungen und Forderungen ehemaliger Heimkinder waren wieder Thema einer Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages
Von: Norbert Struck

Am Montag, den 21. Januar 2008 fand im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages die 3. Anhörung zum Thema ehemalige Heimkinder statt. Nachdem bei einer ersten Anhörung Betroffene zu Wort kamen, bei einer zweiten dann TrägervertreterInnen, hatten jetzt Wissenschaftler das Wort. Es ist dringend Zeit für einen lösungsorientierten Runden Tisch - so lautet ein zentrales Fazit.
 Die Sitzungen des Petitionsausschusses finden nicht-öffentlich statt. Deshalb war es gut, dass der Verein ehemaliger Heimkinder e.V., eine Mitgliedsorganisation des PARITÄTISCHEN Landesverbandes NRW, im Anschluss an die Anhörung zu einer Pressekonferenz in den Räumen von Gangway e.V., einer Mitgliedsorganisation des PARITÄTISCHEN Landesverbandes Berlin, eingeladen hatte. Vier der angehörten Experten waren anwesend und berichteten in Kurzform von ihren Einlassungen.

Prof. Christian Schrapper trug fünf Thesen vor:
1. Öffentliche Erziehung war durchaus auch in den 1950er und 1960er Jahren ein politisch wie fachlich prominentes Thema – ähnlich wie heute – und die Fürsorgeerziehung am Ende der Interventionsskala war auch damals durchaus umstritten.
2. Es gab intensive – auch kontroverse - Fachdiskurse über die Heimerziehung zu dieser Zeit (AFET, Unsere Jugend, Mehringer, Handbuch für Heimerziehung…), die deutliche Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Heimerziehung konstatierten.
3. Es gab auch Forschung zum Thema Heimerziehung (Pongratz, Dührssen…)
4. Die Praxis der Fürsorgeerziehung entsprach weder den gesetzlichen Vorgaben noch den fachlichen Standards. Menschenrechtswidrige Praxis in Fürsorgeerziehungsheimen hatte eine Droh- und Abschreckungsfunktion für das gesamte System der Heimerziehung. Sicher waren hierfür auch völlig unzureichende Ressourcen mit verantwortlich.
5. Derzeitiger Forschungsbedarf besteht vor allem im Hinblick auf die Faktensicherung auch durch die Aktenbestände bei Einrichtungen, Trägern, Verbänden und Behörden.

Prof. Manfred Kappeler skizzierte die Fürsorgeerziehung der 50er bis 70er Jahre als totale Institution, die auf Anpassung an die Zwecke der Organisation abstellte und der "Zöglinge" wie ErzieherInnen unterworfen waren. Beide wurden - auch gegen ihren Willen - in diese Institution einsozialisiert.

Die Fachkraftquote in Berliner Kinderheimen lag damals bei 13 %. Das Sozialministerium Hessen berechnete 1967, dass es - die damaligen Abgangsquoten von Fach(hoch)schulen vorausgesetzt - fast 100 Jahre dauern würde, bis der Fehlbedarf an Fachkräften in den Heimen beseitigt wäre. Behörden kannten also grundlegende Probleme.

Prof. Johannes Münder skizzierte die Geschichte der Entwicklung der Fürsorgeerziehung. Sie entstand 1871 für 12-18-jährige - damals lag die Strafmündigkeitsgrenze noch bei 12 Jahren - als strafrechtliches Sanktionsmittel. Den Ländern wurde schon bald - 1876 - die Möglichkeit eingeräumt, den Einsatz dieses Mittels auszudehnen, auch auf unter 12-jährige. Seit 1900 wurde dann die Anwendung von Fürsorgeerziehung von Straftatbeständen abgekoppelt, zur Voraussetzung wurde nun die "Verwahrlosung". Lange galt dabei die Fürsorgeerziehung als das, was die Rechtsdogmatik als "besonderes Gewaltverhältnis" bezeichnete (Schulen, Bundeswehr, Gefängnisse, Psychiatrie, Heime...), ein Konstrukt, eigentlich zur Rettung vorkonstitutioneller Verwaltungsmacht, das den Verwaltungsorganen massive Befugnisse zu Grundrechtseingriffen zugestand und das erst 1971 vom Bundesverfassungsgericht für untragbar erklärt wurde.

Bei der RJWG-Novelle von 1953 hatten sich die konfessionellen Träger noch erfolgreich gegen die Einführung einer Heimaufsicht gewehrt. Diese wurde erst mit dem JWG von 1961 eingeführt - hatte aber das Problem, dass die Aufsichtsinstanz - Landesjugendämter - selbst einer der wesentlichen Träger von Fürsorgeerziehungsheimen war.

Dr. Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) schilderte, welche Auslöser damals oft ausschlaggebend waren. Uneheliche Kinder standen generell unter Vormundschaft. Der Tatbestand einer "sittlichen Gefährdung" wurde als gegeben erachtet, wenn die Mutter im "Konkubinat" lebte - also immer, wenn sie mit einem Mann lebte, der nicht ihr Ehemann war. Hinsichtlich der Verfahren gab es zwar im Recht sehr klare Vorgaben für Beteiligungen und Anhörungen, aber das Aktenstudium zeigt, dass es praktisch vielfältige Verletzungen dieser Verfahrensrechte gab, die kaum wirksam problematisiert wurden. Die Vormünder, die für die Kinder bestellt wurden, haben offenbar ihre Schutz- und Fürsorgefunktion gegenüber den Jungen und Mädchen in den Heimen so gut wie nicht wahrgenommen. Das DIJuF war früher das Deutsche Institut für Vormundschaftswesen und wurde durch die Vorbereitungen von Dr. Meysen auch mit einer Facette seiner eigenen Geschichte konfrontiert, die beim kürzlich begangenen 100-jährigen Jubiläum noch nicht präsent gewesen war: Zwar hatte es im 19. Jahrhundert konkrete Diskussionen über die Aufsichtsfunktion von Vormündern für Heimkinder gegeben, aber in den 1950er bis 1970er Jahren hat sich niemand im Institut um dieses Thema gekümmert. In dieser Zeit gab es in den Publikationen des Vereins eine Vielzahl von Aufsätzen zu den Aufgaben von Vormündern, 2/3 bezogen sich auf Unterhaltsfragen, aber nicht eine befasste sich mit dem Schutz von Heimkindern. Der Vorstand des DIJuF hat dies zur Kenntnis genommen und seine ganz ausdrückliche Entschuldigung an die ehemaligen Heimkinder ausgesprochen und sein großes Bedauern über dieses Organisationsversagen ausgedrückt.

Im Rahmen der Pressekonferenz meldeten sich dann auch Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder zu Wort, die prägnant und eindrücklich von ihren Belastungen und Erfahrungen in Heimen der 1950er bis 1970er Jahre berichteten. Sie betonten, wie lange die Erfüllung ihrer Forderungen jetzt schon überfällig sei und dass mit Unterstützung für sie nicht noch ewig zugewartet werden darf!

In der Zusammenfassung wurden drei zentrale Aufgaben benannt, für die die Unterstützung des Petitionsausschusses erhofft wird:

1. Kollektive und individuelle Aufarbeitung zu ermöglichen (historisch forschend wie auch therapeutisch stützend)
2. die rentenversicherungsrechtliche Behandlung der Arbeitszeiten ohne Entgeld und Sozialversicherung klären und
3. eine gemeinsame Lösung für Entschädigungen finden.

Über die Diskussionen im Petitionsausschuss wurde natürlich nicht berichtet, aber ein anwesender Bundestagsabgeordneter aus dem Ausschuss machte deutlich, dass der Ausschuss mit großer Ernsthaftigkeit und gutem Willen die Anliegen bearbeite. Die Anhörungen seien jetzt abgeschlossen. Der Petitionsausschuss wird aus seinem Wissen und seinen Bewertungen eine Empfehlung an den Deutschen Bundestag machen, die dann in eine Empfehlung des Deutschen Bundestags an die Bundesregierung münden könnte.

Es ist dringend Zeit für einen lösungsorientierten Runden Tisch!

 
domradio
22.01.2008


Verlorene Jahre

Ehemalige Heimkinder fordern Runden Tisch

Nach einer Anhörung des Bundestags-Petitionsausschusses hat der Verein ehemaliger Heimkinder einen Runden Tisch zur Aufarbeitung strukturellen Unrechts gefordert. Das müsse jetzt erfolgen und nicht erst in mehreren Jahren, sagte Rechtsanwalt Gerrit Wilmans am Montagabend in Berlin. Zudem forderte er den Gesetzgeber zum Handeln auf. Politik und Kirchen dürften nicht "auf eine biologische Lösung des Problems hoffen".
Zuvor hatten Experten in der nichtöffentlichen Beratung des Ausschusses betont, Missstände in Heimen seien in den 1950er, 60er und 70er Jahren ein strukturelles Problem gewesen. Seit 2006 befasst sich der Petitionsausschuss mit dem Schicksal von Heimkindern im Nachkriegsdeutschland. Der Verein fordert die Klärung fehlender Rentenanwartschaften für unbezahlte Arbeit der früherer Heiminsassen, für die keine Sozialversicherungsbeiträge bezahlt wurden. Weiter verlangt er von Staat und Kirchen eine Anerkennung moralischer Schuld wegen mangelnder Heimaufsicht. Der Verein geht von Tausenden Betroffener aus, die bis heute mit Problemen zu kämpfen hätten. Der Petitionsausschuss will seine Beratungen fortsetzen.

"Schon damals Unrecht"
Vier der Fachleute berichteten im Anschluss an die gut dreistündige Ausschusssitzung von dem Gespräch. Der Leiter des Instituts für Pädagogik der Universität Koblenz, Christian Schrapper, betonte, schon vor 50 Jahren hätten Fürsorgeheime in der Kritik gestanden. "Das war schon zur damaligen Zeit offensichtliches Unrecht", meinte er.

Der Berliner Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler bezeichnete die Qualifikation des pädagogischen Personals als katastrophal.
Bemerkenswert sei heute, dass für die "politisch opportune"
Aufarbeitung verfehlter Heimpädagogik in der DDR Geld vorhanden sei, für eine vergleichbare Forschung in den alten Bundesländern aber nur schwierig Mittel zu beschaffen seien. Der Berliner Sozialrechtler Johannes Münder betonte, in den 50er Jahren hätten sich die kirchlichen Träger massiv gegen eine gesetzliche Regelung der Heimaufsicht gewehrt.

Laut Wilmans machen die Expertenschilderungen deutlich, dass es nicht nur um Unrechts-Einzelfälle, sondern eine Systematik gehe. Deren Folge sei eine Vielzahl traumatisierter Menschen und zerstörter Biografien. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Jens Ackermann, der dem Petitionsausschuss angehört, bekräftigte, das Gremium nehme das Thema sehr ernst und denke auch über die Form etwaiger Entschädigungen nach. Notwendig sei eine lückenlose Aufklärung der Vorkommnisse.

Nach Bekanntwerden der Vorwürfe haben die Kirchen mehrfach ihre "moralische Verantwortung" für frühere Missstände eingeräumt, zugleich aber vor falschen Verallgemeinerungen gewarnt. Aus ihrer Sicht spricht nichts dafür, dass die von den Anwälten der Betroffenen prognostizierte Opferzahl von 15.000 etwas mit der Realität zu tun haben könnte.

Eine systematisch angeordnete oder geduldete Misshandlung sei jedenfalls auszuschließen. Der Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) hatte bereits 2006 erklärt, dass Misshandlungen keine generelle Praxis in kirchlichen Heimen gewesen seien.
(kna)

Die Welt - Online
21.Januar 2008

Runder Tisch im Skandal um Heim in Glückstadt

Kiel (dpa/lno) - Im Skandal um das frühere Landesfürsorgeheim Glückstadt hat Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) mit ehemaligen Heimkindern die dortigen Zustände aufgearbeitet. Bei dem Runden Tisch am Samstag in Kiel schilderten neun Insassen ihren Weg nach Glückstadt, die Zeit dort und die Verarbeitung des erlittenen Unrechts, teilte das Ministerium am Montag mit. In dem Heim wurden von 1951 bis 1974 Jugendliche zu unentgeltlicher Arbeit verpflichtet und Erzieher sollen Heimkinder geschlagen haben. «Der Runde Tisch hat verdeutlicht, dass diese Zeit zu den dunkelsten der Heimerziehung in Deutschland gehört», sagte Trauernicht. © Welt

taz.de
18.Januar 2008


Justizskandal im Jugendheim
Das Leiden von Glückstadt

Schläge, Demütigungen, Zwangsarbeit: 35 Jahre haben sie darüber geschwiegen was sie in Glückstadt erlitten. Nun brechen ehemalige Insassen ihr Schweigen. VON HEIKE HAARHOFF

Bis 1945 war Glückstadt ein KZ. Für die Zöglinge wurden die alten Karteikarten weiterverwendet. Statt Arbeitserziehungslager schrieb man Landesfürsorge-Heim.    Foto: privat

DER FALL GLÜCKSTADT
Auf Druck der Opfer findet am 19. Januar im schleswig-holsteinischen Sozialministerium ein runder Tisch zum ehemaligen Landesfürsorgeheim Glückstadt statt. Die Kieler Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) hat bereits die politische Verantwortung aus heutiger Sicht übernommen und die wissenschaftlich-historische Aufarbeitung angekündigt. Damit beauftragt ist der Pädagogikprofessor Christian Schrapper von der Universität Konstanz. Die ehemaligen Heimkinder fordern eine Rehabilitierung für ihren schuldlosen Arrest und die erlittenen Demütigungen, zudem eine finanzielle Entschädigung für die körperliche Arbeit, die sie unentgeltlich leisten mussten. Auch wollen sie wissen, wie viele von ihnen sich zwischen 1949 und 1974 in Glückstadt das Leben nahmen. Die Öffentlichkeit soll erfahren, welche Erziehungspraktiken unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in der jungen Bundesrepublik möglich waren.


SCHWEDENECK/BERLIN taz Er hat den Mann dann durchs Zimmer kriechen lassen. "O wie ist das Leben schön" musste er dabei singen. Und ihm die Schuhe lecken. Eine gerechte Strafe für einen, der es gewagt hatte, seinen Freund zu belästigen, fand Otto Behnck.
Es schneit über der Ostsee, die Wohnung liegt nur fünfzig Meter entfernt vom Strand in Schwedeneck, Ledercouch, Tierfellteppiche, freigelegte Dachbalken. Otto Behnck lebt seit einigen Jahren allein hier, zweimal verheiratet, drei Kinder von drei Frauen, er hat das alles hinter sich gelassen. 56 Jahre alt ist er, er sagt: "Familie, ich weiß einfach nicht, wie das geht."

Es ist ja nicht so, dass sein Leben völlig aus dem Ruder gelaufen wäre wegen der Monate in Glückstadt, dieser schleswig-holsteinischen Kleinstadt mit dem trügerischen Namen. Im Gegenteil. Selbstständig hat er sich gemacht vor über 30 Jahren, als er endlich raus war aus diesem Landesfürsorgeheim, das wie ein Strafgefangenenlager funktionierte. Straßenhändler in Kiel ist er geworden, zum Leben reicht es, dem Staat jedenfalls ist Otto Behnck nie zur Last gefallen.
Und schon gar nicht ist er kriminell geworden, wie so viele andere Zöglinge von damals. Dass er offenbar Schwierigkeiten mit dauerhaften Beziehungen hat, die auf Vertrauen basieren, dass er zuweilen schrecklich wütend wird, so sehr, dass er andere quälen oder schlagen könnte - meist hat er sich im Griff. "O wie ist das Leben schön", dieser Vorfall war ein Ausrutscher.
Einer, den er jahrelang nicht seiner Vergangenheit zuschreiben mochte. Otto Behnck neigt weder zum Psychologisieren noch dazu, sich als Opfer zu gerieren. Glückstadt, das sollte mit seinem Leben nichts mehr zu tun haben. "Wenn du Leuten erzählst, dass du ein Heimkind bist, dann denken die doch immer, oha, irgendwas Schlimmes wird der schon ausgefressen haben, grundlos landet man da schließlich nicht." Also hat er geschwiegen. 35 Jahre lang.
Die Gitter vor den Fenstern, die Demütigungen der Erzieher, die Schikanen der anderen Zöglinge, zwanzig Mann in einem Schlafsaal, die Arbeit auf dem Strickboden. Fischernetze musste er dort knüpfen, sechs Tage die Woche, unbezahlt. Seine Fluchtversuche, die Schläge zwischen die Beine, auf den Rücken, auf den Kopf, der Suizid eines Jugendlichen, die tage-, manchmal wochenlange Isolierung in der "Box" oder im "Bunker", wo es außer einer Pritsche und einem Eimer für die Notdurft nichts gab - am Ende schienen die Erinnerungen nicht einmal mehr Otto Behnck selbst zugänglich zu sein.
Bis zu jenem Tag im Frühherbst 2006. Otto Behnck war beim Jugendamt in Kiel, es ging um den Unterhalt für seine jüngste Tochter. Die Sachbearbeiterin hatte vermutlich einzig das Kindeswohl im Auge. Aber sie sprach in jenem Befehlston, auf den Otto Behnck allergisch reagiert: Was denn, das ist Ihr Jahreseinkommen? Guter Mann, Sie melden Ihr Gewerbe mal ganz schnell ab und suchen sich einen Job mit ordentlicher Bezahlung. Zwanzig Bewerbungen, bis in vier Wochen. So in dem Stil.
"Ich hab mich mit den Armen auf dem Schreibtisch abgestützt und bin mit meinem Kopf ihrem ganz nah gekommen. Ich hab sie angebrüllt. Dass ich in Glückstadt war und weiß, was Gewalt ist, und ob sie diese Gewalt auch mal erfahren will." Nur weil sie eine Frau war, hat er nicht zugeschlagen.
Seither gehört Glückstadt wieder zu Otto Behncks Leben. Denn wenn ein nichtiger Vorfall einen solch unkontrollierten Ausbruch auslösen konnte, dann musste er in Erfahrung bringen, was ihm und den anderen im Landesfürsorgeheim wirklich geschehen ist. Unrecht, so viel war klar.
Dass er 1970 überhaupt dort landet, verdankt er seinen Eltern. Die halten ihren Sohn für missraten, weil der für lange Haare und Jimi Hendrix schwärmt und weil er die Lehre abgebrochen hat. "Ich war nicht politisch, mir ging es um das Lebensgefühl", sagt Behnck. Einmal trampt er heimlich nach Dänemark. Danach ist das Maß voll. Bei der Rückkehr wird er ins geschlossene Heim eingewiesen, der Vater hat das Jugendamt darum gebeten, seine Mutter ruft die Polizei, damit sie ihn nach Glückstadt bringe.
Bis 1945 nutzten die Nazis das dortige Gebäude als Konzentrationslager für Arbeitshäftlinge. Nach dem Krieg waren es Kinder und Jugendliche, einige straffällig, andere aufmüpfig oder aus prekären Verhältnissen, deren Leben hier, in der Obhut des Staates, nachhaltig zerstört wurde: Mindestens 7.000 Zwölf- bis Einundzwanzigjährige wurden von 1949 bis 1974 zur "Umerziehung" eingesperrt und zur unentgeltlichen Arbeit gezwungen. Sowohl im Heim als auch bei Betrieben im Ort. Für die Einweisung bedurfte es nicht etwa eines richterlichen Beschlusses. Es genügten die Auffassung des Jugendamts und die Zustimmung der Eltern.
Wer dagegen rebellierte, wurde geprügelt, gedemütigt, weggesperrt. Zu den Erniedrigungen gehörte auch, dass die Zöglinge die Häftlingskleidung der Nazis auftragen mussten. Sogar die alten KZ-Karteikarten wurden weiterhin verwendet. "Inwieweit das auch für das Aufsichtspersonal gilt, müssen wir noch herausfinden", sagt Otto Behnck. "Wenn das so ist, dann knallts richtig."
Bislang ist die Glückstädter Heimgeschichte weitgehend unerforscht - politisch wie historisch wie wissenschaftlich (siehe Kasten). Zwar wurde die Anstalt 1974 nach einer Heimrevolte und auf politischen Druck hin geschlossen. Rehabilitiert oder gar finanziell entschädigt wurde dagegen niemand. Bevor Otto Behnck sich vor einem Jahr mit seiner Internetseite auf der Suche nach ehemaligen Zöglingen, Zeitzeugen und Dokumenten an die Öffentlichkeit wandte, gab es lediglich eine Diplomarbeit aus dem Jahr 1997. Die untersuchte am Beispiel Glückstadt, wozu ein Umgang mit jugendlichen Straftätern und Schwererziehbaren führen kann, der einzig auf Bewachen, Strafen und Isolieren basiert: zu Revolten, Selbstmorden oder weiterer Kriminalisierung der Zöglinge. Die Lektüre wäre für manchen heute aufgeregten Wahlkämpfer in Hessen und anderswo durchaus empfehlenswert.
Ihr Verfasser, der Sozialpädagoge Karsten Hanstein, erinnert sich, wie mühsam die Recherche war. Der Zugang zu vielen Originaldokumenten blieb ihm verwehrt, ehemalige Erzieher wimmelten ihn ab. Das für Heimerziehung und Fürsorge zuständige Kieler Sozialministerium wusste angeblich keinen Rat, das Landesarchiv ließ 7.000 Zöglingsakten, die in seinen Kellern lagern, unerwähnt. Deren Existenz wurde erst 2007 bestätigt - da hatte Otto Behnck im Ministerium auf den Putz gehauen.
Zehn Jahre zuvor war einzig der ehemalige RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock bereit, über den Heimalltag zu berichten. Boock war 1968, mit 17 Jahren, in Glückstadt gelandet, weil er von zu Hause abgehauen und in Holland mit ein paar Gramm Haschisch geschnappt worden war.
Boock als Kronzeuge von Glückstadt? Rolf Breitfeld aus Berlin winkt genervt ab. "Der war doch immer nur der Karl May der RAF", sagt der 59-Jährige. Von 1964 bis 1966 war er, von seinen Eltern ungeliebt und geprügelt, nach Glückstadt abgeschoben worden. Nein, mit Boock möchten er und die knapp zwei Dutzend ehemaligen Zöglinge, die Otto Behncks Aufruf gefolgt sind und jetzt öffentlich sprechen, nichts zu tun haben.
Denn Boocks Lebensweg gleicht nicht ihren Karrieren nach der Heimentlassung - die verliefen meist unspektakulär, wenn auch nicht minder deprimierend, ohne Geld, Schul- oder Berufsabschluss. Wenn sie aber später mit Drogen handelten, Menschen ausraubten, betrogen, verletzten oder sich selbst das Leben nahmen, dann nicht, weil sie angeblich die Gesellschaft revolutionieren wollten. Sondern, wie es Otto Behnck formuliert: "Weil du nach Glückstadt entweder untergegangen oder als Schwein rausgegangen bist." Keine Talkshow hat sich jemals für derartige Befindlichkeiten interessiert - ohnehin hätten die wenigsten sie zuschauergerecht artikulieren können.
Zumindest aber Respekt und eine finanzielle staatliche Entschädigung fordern sie jetzt. "Mir beispielsweise fehlen eineinhalb Jahre Rente", sagt Rolf Breitfeld. Nach seiner Entlassung aus Glückstadt fuhr er einige Jahre zur See, später arbeitete er in Berlin als Schlosser, einem Beruf, dessen Ausbildung abzuschließen ihm während seiner Zeit im Heim verweigert wurde. Als er vor etwa dreißig Jahren das Land Schleswig-Holstein auf den fehlenden Lehrabschluss verklagen wollte, sagte ihm ein Anwalt, die Sache sei aussichtslos.
Rolf Breitfeld hat dann Menschen geschleust, aus der DDR in den Westen. Nicht aus Nächstenliebe oder politischer Überzeugung, es war lukrativ: Zwischen 15.000 und 35.000 Mark bekam er für jede erfolgreiche Flucht. Er hat die alten Verträge in Aktenordnern aufbewahrt. Einmal schickte er sogar eine Mahnung an die in der DDR verbliebene Mutter eines zahlungssäumigen Flüchtlings. Als er 1975 am Grenzübergang Staaken mit zwei DDR-Bürgern im Kofferraum geschnappt wurde, versuchte er erst gar nicht, sich herauszureden. Viereinhalb Jahre war er danach im Stasi-Knast - "schlimmer als Glückstadt waren die Jahre im Gefängnis dann auch nicht."
Spuren hinterlassen haben sie dennoch. Eine neurotische Depression haben Ärzte diagnostiziert und seine Frühverrentung durchgesetzt. Seine Wohnung verlässt Rolf Breitfeld heute nur noch selten; sein Geld spart er für Reisen mit seiner Frau, einer gebürtigen Philippinin, in deren alte Heimat. Das, sagt Rolf Breitfeld, sind für ihn die schönsten Momente. Auf den Philippinen können sie mit seiner Vergangenheit sowieso nichts anfangen. Und wenn er wieder nach Berlin kommt und die Depressionen oder die Wut ihn einholen, dann hat er sich für alle Fälle einen Punchingball aufgehängt.
http://www.taz.de/nc/1/leben/alltag/artikel/1/das-leiden-von-glueckstadt&src=PR
© taz Entwicklungs GmbH & Co. Medien KG,

Rheinische Post
04.01.2008

NRW - also doch Erziehungscamps
Düsseldorf (ots) - Von Detlev Hüwel
    
Was für ein verwirrender Start der Landespolitik im neuen Jahr! Anfang der Woche wurde aus vielen Rohren ein Bericht dementiert, wonach das Land an Erziehungscamps für jugendliche Straftäter denke und bereits entsprechende Vorbereitungen treffe. Dann aber mehrten sich die Stimmen, die diese Idee gar nicht so übel fanden - immer vorausgesetzt, es handle sich nicht um Brüll- und Beschimpfungscamps wie in den USA. Besonders bemerkenswert war dabei die Kehrtwende des NRW-Justizministeriums. Familienminister Armin Laschet setzt diesem Verwirrspiel nun ein ebenso abruptes wie überraschendes Ende: In Nordrhein-Westfalen wird bereits in Kürze das landesweit erste geschlossene Erziehungsheim für junge Intensivtäter seine Arbeit aufnehmen. Dort soll gewalttätigen Jugendlichen, die schon eine Menge auf dem Kerbholz haben, ein geregelter Tagesablauf beigebracht werden, und sie sollen pädagogisch qualifiziert betreut werden. 20 Jugendliche sind nicht viel, aber fürs Erste gewiss aller Anstrengungen wert. Man kann nur hoffen, dass das Projekt nicht sofort von der Tagespolitik zermalmt wird. Die Kommunikation war allerdings hundsmiserabel. Vielleicht lag dies auch daran, dass NRW so lange keinen Regierungssprecher hatte. Aber das ist ja jetzt anders.

Thüringer Allgemeine
3. Januar 2008

Aufgewachsen im Kinderheim in Eisenach, drehte eine Frau einen Lehrfilm für Erzieher in den USA
Von Sven-Uwe VÖLKER

GROSS GEWORDEN: Das Papierfoto zeigt Marion Aitcheson als erwachsene Frau. Als ihr Großvater 1985 starb, kam sie in Eisenach unter die Fittiche der Erzieher Ralf Hagen und Angelika Ritz, die noch heute in dem Kinderheim arbeiten.

Ein amerikanischer Film zeigt, wie im AWO-Kinderheim Eisenach gelebt wird. Die Filmemacherin ist selbst als Heimkind aufgewachsen, ehe sie 1996 nach Amerika auswanderte. Für den Film kehrte sie zurück.
EISENACH. Den Kopf in beide Hände gestützt. Blonde Ponysträhnen fallen der jungen Frau kess ins Gesicht. Sie mag 17 Jahre alt sein, vielleicht jünger. Ein altes Schwarzweißfoto. Die Frisur lässt ahnen: Das Bild stammt aus den 1980er-Jahren.
So beginnt der halbstündige Streifen. Marion Aitcheson, heute 32, hat ihn mit Hilfe eines professionellen Kamerateams gedreht. Das blonde Mädchen mit der New-Wave-Frisur auf dem Foto und den melancholischen Augen war einmal sie. Vor 15 Jahren, da trug sie noch einen deutschen Familiennamen. Aber eine Familie, die hatte sie nicht.

Der Film "On my own" ist die Erinnerung an ein Leben als Heimkind - an Verlust, an Einsamkeit, an Vier-Bett-Zimmer, an das allmähliche Heimischwerden im Kinderheim in der Fritz-Koch-Straße. Zugleich ist er ein Lehrvideo zu heutigen Methoden von Betreuung und Erziehung in den inzwischen vier Häusern der Arbeiterwohlfahrt in Eisenach und Creuzburg. 54 Kinder und Jugendliche werden hier betreut. Es gibt sieben verschiedene Erziehungsprogramme. "In einigen Bereichen sind wir deutschlandweit führend mit fortschrittlichen Methoden", so Heimleiter Dieter Jähnichen. Ihn macht stolz, dass der Film bei Tagungen in den USA vor mehreren hundert Fachleuten gezeigt und interessiert aufgenommen worden sei.
Geboren wurde Marion im August 1975. Über die Mutter sagt der Film nicht viel. Sie kam mit der Erziehung nicht zurecht. Der Großvater kümmerte sich um seine Enkelin. Die Tränen nur mühevoll zurückhaltend, berichtet Marion Aitcheson, wie ihr Opa schwer erkrankte, in die Klinik musste. Wie sie niemand anderen hatte, wie das Jugendamt sie in die alte große Villa unweit vom Prinzenteich brachte, wo sich noch heute einige Gruppen des Kinderheims befinden. Wie sie immer hoffte, es wäre nur für kurze Zeit. Wie sie einmal noch ins Krankenhaus gerufen wurde, dann starb ihr Großvater, da war sie zehn.
Es schnürt die Kehle zu beim Anschauen. Mancher wird einwenden: typisch amerikanisch. Ohne Tränen geht es nicht.
Marion hat später Kinderpflegerin gelernt. Eine kurze Zeit lebte sie wieder bei der leiblichen Mutter, es klappte nicht. Sie kehrte zurück, bezog mit einer Freundin eine Außenwohnung des Kinderheims am Frauenplan. Bald verliebte sie sich in einen US-amerikanischen Soldaten, der in Deutschland stationiert war. Sie zog mit ihm in die Vereinigten Staaten, studierte. Mit Unterstützung der Fernsehstation der Universität in Elon kehrte sie nach Eisenach zurück. Einen Monat lang lebte sie mit den acht Kindern einer speziellen Wohngruppe in einem Haus des AWO-Heimes. Der Film zeigt amerikanischen Sozialpädagogen und Erziehern, nach welchen Grundsätzen in der Heimerziehung in Eisenach gearbeitet wird. Im Mittelpunkt steht eine heilpädagogische Wohngruppe mit acht Kindern verschiedenen Alters. Sie befindet sich in einem Haus in der Langensalzaer Straße, unweit vom alten Schlachthof. Von Sonntagnachmittag bis Freitag leben die Kinder hier. Die Wochenenden verbringen sie bei ihren Eltern. "So behalten sie den Kontakt zu ihren Eltern." Das sei wichtig, erklärt Heimchef Jähnichen. Weil die Eltern aber so große Probleme mit der Erziehung haben, gibt es für sie eine Elternschule. "Da werden ganz praktische Dinge geübt." Was tue ich als Vater, wenn mein Kind lustlos ist? Wie erkläre ich meinen Willen als Mutter? An welche Gesprächsregeln haben sich auch Eltern zu halten?
Große Glaubwürdigkeit gewinnt der Film durch die an vielen Stellen eingefügten Erinnerungen der Marion Aitcheson an ihr eigenes Schicksal. "Ich schäme mich nicht dafür, im Kinderheim aufgewachsen zu sein", sagt sie an einer Stelle. Und: Sie wolle sich "mal offiziell bedanken" für die gute Erziehung in Eisenach. Zu den emotionalen Höhepunkten zählt die Begegnung mit zwei Menschen: Angelika Ritz, genannt Ritzi, und Ralf-Dieter Hagen. Die beiden waren vor vielen Jahren die Heimeltern für Marion. Sie kümmern sich noch immer um Mädchen und Jungen im Heim der AWO.

n-tv
1. Januar 2008

US-"Boot Camps"
Manche überleben nicht

Als die ersten "Boot Camps" für straffällige Jugendliche in den USA entstanden, schwärmte das US-Justizministerium von "einer der innovativsten und aufregendsten Formen" des Jugendstrafvollzugs. Fast 20 Jahre später ist Ernüchterung eingekehrt. Zwar glauben viele Amerikaner ungebrochen daran, dass Recht und Freiheit ohne Härte und Brutalität nicht zu haben sind - das beweist auch die aktuelle Folter-Debatte. Aber die Bilanz der paramilitärischen "Boot Camps" bestätigt kaum die Hoffnungen vor allem von Konservativen, mit "harter Hand" und "eiserner Disziplin" lasse sich der Charakter junger Gewalttäter oder Drogensüchtiger positiv formen.
 
Die Rückfallquote ist laut einem Bericht des "Christian Science Monitor" keinesfalls geringer als bei den Insassen von Gefängnissen und Jugendstrafanstalten. Dafür aber gibt es erschreckende Berichte über das grausame Lagerleben.
 
Oft genug überleben Jugendliche den Camp-Aufenthalt nicht: Aaron Bacon beispielsweise soll in einem Camp im Bundesstaat Utah verhungert sein, nachdem er als Strafe nichts zu essen bekam, dennoch aber täglich bis zu 16 Kilometer laufen musste. In einem anderen Lager in Utah starb eine 15-Jährige, die eine erlittene Vergewaltigung seelisch überwinden sollte, bei einem erzwungenen Langstreckenlauf.
 
Der 14-jährige Martin Anderson wurde, wie Video-Aufnahmen belegten, in einem Camp in Florida von seinen Aufsehern zu Tode gequält. Die Wächter hatten bei einem Lauf die Bitte des schwarzen Jungen um eine Verschnaufpause als Provokation empfunden und ihn schwer misshandelt. Sieben Männer traten und schlugen ihn, schließlich flößten sie ihm Ammoniak ein. Vor Gericht wurden die Männer vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen - der Familie wurden fünf Millionen Dollar (3,4 Millionen Euro) als Entschädigung zugesprochen.
 
Ursprünglich waren die "Boot Camps" in den 80er Jahren als Alternative zu zwei- bis dreijährigen Freiheitsstrafen eingeführt worden: Wer sich für 120 Tage dem extremen militärischen Drill und den Torturen eines solchen Lagers aussetzte, konnte danach die Freiheit erlangen. Die Philosophie der Camps ist den US-Marines entlehnt: der Wille soll - nicht selten mit Demütigungen, seelischen und körperlichen Misshandlungen - gebrochen werden, um ihn dann wieder aufzubauen.
 
Inzwischen gibt es in den USA mehrere hundert solcher staatlicher und privater Einrichtungen, in die auch schwer erziehbare oder traumatisierte Kinder und Jugendliche kommen. Zuweilen kosten sie die Eltern bis zu 5000 Dollar im Monat. Auch die Verweildauer wurde für manche inzwischen auf Jahre ausgedehnt. 4500 straffällige Jugendliche befinden sich offiziellen Angaben zufolge derzeit in "Boot Camps", insgesamt werden über 10.000 Jugendliche jährlich in Lager zur Umerziehung oder "Therapie" geschickt.
 
Aber in den wenig kontrollierten Camps sind Missbrauch und Willkür Tür und Tor geöffnet. Eltern, die ihre Kinder abliefern, unterschreiben meist eine Blanko-Erklärung, derzufolge sie mit allen Maßnahmen im Lager einverstanden sind. Viele Jugendliche berichteten laut "New York Times" von der täglichen Gewalt, gewaltsamen Übergriffen, sexuellem Missbrauch und menschenverachtenden Züchtigungsmethoden. Seit 1980 seien allein in elf Bundesstaaten mindestens 30 Teenager in "Boot Camps" ums Leben gekommen. Oft genug gebe es Selbstmordversuche.
 
Einem jüngst vom US-Kongress vorgelegten Bericht zufolge starben seit 1990 zehn Jugendliche in "Boot Camps". Allein im Jahr 2005 habe es in diesen Lagern mehr als 1600 Missbrauchsfälle gegeben. "Kinder werden gezwungen, ihr eigenes Erbrochenes zu essen, in Urin oder Kot zu liegen. Sie werden getreten, geschlagen und zu Boden geworfen", berichtete ein Ermittler des US-Kongresses, Gregory Kutz, der Zeitschrift "Time".
 
Von Laszlo Trankovits, dpa