2007

10. Dezember 2007
READERS EDITION
Demonstration in Dernbach
:
Ehemalige Heimkinder wollen ihre Würde zurück

30. November 2007
BlogHof

Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung

in den 50er-60er -und 70er-Jahren

20.11.2007
Der Westen

Die weggesperrten Kinder der Nachkriegszeit

16. November 2007
n-tv

Jugendfürsorge in Glückstadt
Skandal wird aufgerollt

14.November 2007
Sueddeutsche.de

Ehemaliges Jugendheim Glückstadt

Schläge, Zwangsarbeit und Nazi-Uniformen

01.11.2007
DIE ZEIT
, Nr. 45

Brutale Fürsorge

26.10.2007
Frankenpost
Schläge und Schikane im Heim

18. Oktober 2007
bloghof.net
,,Opfer des staatlichen Heimes Kalmenhof in Idstein.,,

21.September 2007
ndr-info
Reportage
Misshandelt und ausgebeutet:

Heimkinder in den 60er-Jahren

26.07.2007
Stuttgarter Zeitung

Damit Heimkinder die Vergangenheit loslassen können

19.Juli 2007
Lippische-Landes-Zeitung
Wir hatten keine Rechte

12. Juli 2007
MDR.DE 
Einzelhaft und Zwangsarbeit
Fürsorgeerziehung in Deutschland
MDR FERNSEHEN Do, 12.07.2007 22:35 Uhr
Film von Uli Veith

12. Juli 2007
nah_dran | MDR FERNSEHEN | | 22:35 Uhr
Einzelhaft und Zwangsarbeit
Ein Film von Uli Veith

11. Juli 2007
Pressetext-ddp
Albtraum Erziehungsheim

5. Juli 2007
Holsteinischer Courier

Wie viele Selbstmorde gab es in den Heimen?

30.06.2007
Berliner Zeitung

Spuren, die ins Heim führen

27 Juni 2007
Kieler Nachrichten

Im Namen der Fürsorge

20.06.2007
Evangelischer Pressedienst (epd) 20.06.2007

Ehemalige misshandelte Heimkinder fordern öffentliche Debatte

Juni 2007
Karlshöhe Ludwigsburg
Öffentlichkeitsreferat

Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren

18. Juni 2007
Forum für Kinder- und Jugendarbeit

Kinder und Jugendliche haben Rechte

09. Juni 2007
kobinet-nachrichten

Schläge im Namen des Herrn

Mai 2007 
Kamillushaus Informationen Essen

Ausgabe I/2007 

30. Mai 2007 
Schleswig-Holsteinische-Zeitung

"Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim"

25. April 2007
PRESSEMITTEILUNG der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN

24.04.2007
Der Tagesspiegel

Grüne fordern Entschädigung für Heimkinder

April 2007
Paritätischer Rundbrief - Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin

Dietmar Krone im Interview

11. 4. 2007
taz - die tageszeitung

CDU gräbt Knute aus

27.02.07
Kölner Stadt-Anzeiger

Reise in die schmerzliche Vergangenheit

6.02.2007
Der Tagesspiegel

„Es handelt sich nicht um Einzelfälle“

04.01.2007
Junge Welt-Die Tageszeitung

Dokumentiert. Ehemalige Heimkinder im Petitionsausschuß des Bundestages

04.01.2007
Junge Welt-Die Tageszeitung

Diagnose: Verwahrlost

2 janvier 2007
Liberation

Des instituts religieux allemands sur la sellette

02.01.2007
Hessische/Niedersächsische Allgemeine HNA

Es tut noch immer weh

2007

READERS EDITION
10. Dezember 2007

Demonstration in Dernbach: Ehemalige Heimkinder wollen ihre Würde zurück
von Heinz-Peter Tjaden

Gewalt an Heimkindern: Alles was geschehen, aufarbeiten. sc.shot wdr.de
Er wurde geschlagen. Er wurde misshandelt. Wenn er den Nonnen nicht brav genug war, wurde sein Kopf unter kaltes Wasser gehalten, bis er keine Luft mehr bekam. Er musste Erbrochenes essen. Nachts wurde er ans Bett gefesselt. Geschenke, die für ihn bestimmt waren, wurden an die anderen Heimkinder verteilt. Nonnen sperrten ihn in eine dunkle Besenkammer.
Er ist seiner Mutter weggenommen worden. Da war er erst ein Jahr alt. Er wurde mit Kleiderbügeln geschlagen. Nonnen peitschten ihn aus. Als Dreijähriger kam er in die Psychiatrie. Nach 45 Jahren wurde er aus der geschlossenen Anstalt entlassen. Er ist nie psychisch krank gewesen.
Er wohnt auf einem Bauernhof in Aachen, heißt Willi Kappes und möchte endlich wissen, warum man ihm das in einem katholischen Kinderheim angetan hat.
Schon im Petitionsausschuss
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder in den 50er, 60er und 70er Jahren beschäftigt, die katholische Kirche will den Mantel des Schweigens lüften und Dernbach bei Montabaur erlebt am 22. Dezember auf dem Marktplatz eine Protestkundgebung von Frauen und Männern, die dem dort ansässigen Orden schwere Vorwürfe machen.
“Unrecht bleibt Unrecht” hat auch die katholische “Tagespost” am 18. November 2006 festgestellt. Peter Neher, Vorsitzender des Deutschen Caritasverbandes, forderte: “Es muss noch genauer geprüft werden, ob möglicherweise konfessionelle Prägungen einen ohnehin praktizierten Erziehungsstil weiter verschärft haben.”
Theo Breul vom Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE) stritt zwar ab, dass es Hunderttausende von Fällen gebe, aber: “Es gibt Einzelfälle, die sich allerdings mächtig häufen.” In Sack und Asche müsse die katholische Kirche nicht gehen, sie entschuldige sich jedoch “in jedem einzelnen Fall bei den Betroffenen”.
Täglich zehn Stunden Zwangsarbeit
Sie fühlte sich als Zwangsarbeiterin. Zehn Stunden täglich musste sie Wäsche waschen. Sie nähte, stopfte, bügelte und mangelte für Hotels und Privathaushalte. Bezahlt wurde sie für ihre Arbeit nicht.
Sie wohnt in Dortmund und heißt Gisela Nurthen.
Mit mehr als einer Entschuldigung und aufgebesserten Renten können diese ehemaligen Heimkinder nicht rechnen.
Mehr will beispielsweise der 2004 gegründete Verein ehemaliger Heimkinder (Vehev) auch nicht. In einem Brief an die Deutsche Bischofskonferenz schrieb er im März 2006: “Geben Sie den ehemaligen Heimkindern ihre Würde zurück!”
Dazu gehöre: Akten dürfen nicht vernichtet werden, unbezahlte Arbeit muss von den katholischen Heimen bestätigt werden, alles, was damals geschehen ist, muss schonungslos aufgearbeitet werden.

BlogHof
30. November 2007

Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in den 50er-60er -und 70er-Jahren

  
LWL - Landschaftsverband Westfalen-Lippe

Vorlage 11/1891

Aufarbeitung der Fürsogeerziehung in den 60er- und 70er-Jahren

Offizieller LWL-Bericht vom: 16.12.2003 


In den letzten Jahren meldeten sich in unregelmäßigen Abständen Betroffene beim Landesjugendamt und baten um Informationen über ihre früheren Heimaufenthalte im Rahmen der Fürsorgeziehung bzw. der freiwilligen Erziehungshilfe. Die erbetenen Angaben (Zeitraum, Dauer, Ort, Ursache, Familienverhältnisse ) über ihren früheren Heimaufenthalt wurden - soweit die Akten nicht mit Ablauf von 30 Jahren nach Beendigung der Hilfe vernichtet worden war - in der Regel schriftlich bzw. im persönlichen Gespräch vermittelt. Bei länger als 30 Jahren zurückliegenden Hilfen erfolgte in Einzelfällen eine Akteneinsicht über das Westfälische Archivamt, bei dem aus jedem Jahrgang zahlreiche Einzelfallakten, die zum Teil bis in die 30er-Jahre zurückreichen, erhalten geblieben sind. Die Praxis der 30-jährigen Aufbewahrungsfrist folgte - ohne gesetzlich geregelt zu sein - aus den bestehenden Verjährungsfristen für gegenseitige Ansprüche in Analogie zur Aufbewahrung im Gesundheitswesen. Mit der sukzessiven Versendung der Rentenmitteilungen durch die BFA nahmen auch die Anfragen an das Landesjugendamt zu. Neben den bloßen Unterbringungszeiten rückte dabei immer mehr die Frage in den Vordergrund, wie Arbeitsleistungen der Untergebrachten innerhalb von Einrichtungen bzw. für Fremdfirmen rentenversicherungsrechtlich zu bewerten sind. Um hierfür im schutzwürdigen Interesse der Betroffenen eine mögliche Informationsquelle weiter vorhalten zu können, ist die Aktenvernichtung ab dem Jahre 1972 als Beendigungsdatum der Hilfe bis auf Weiteres ausgesetzt worden. Die Frage eventueller sozialversichtungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse wird im Einzelfall aufgegriffen werden müssen. In den bis heute nachgefragten Einzelfällen ist eine abschließende Bewertung dieser Frage ohne Hinzuziehung von eventuell beim Einrichtungsträger noch vorhandenen Akten nicht zu beantworten.

Ganz aktuell häufen sich Anfragen von Betroffenen, die um Unterstützung bei der Aufarbeitung möglicher Misshandlungen in Fürsorgeeinrichtungen bitten. Mit zunehmendem Echo in den Medien beklagen ehemalige Fürsorgezöglinge aus den 60er- und 70er-Jahren, sie seien in kirchlichen Einrichtungen körperlich schwer misshandelt oder auch sexuell missbraucht worden. Einrichtungen und zum Teil auch Namen von Täterinnen und Tätern werden dabei dem Landesjugendamt gegenüber konkret benannt. Ausgangspunkt derartige Initiativen war ein umfangreicher Artikel unter dem Titel „Unbarmherzige Schwestern" (der Spiegel, 21/2003 [vom 19. Mai 2003], Seite 70) der aus den Biografien einzelner Betroffener berichtete. Auch der WDR hat unter dem Titel „Fromme Prügel" eine entsprechende Reportage über ein betroffenes Geschwisterpaar gedreht.

Durch diese Berichterstattung in den Medien sowie durch entsprechende Foren im Internet nimmt die Anzahl von Betroffenen, die sich über derartige Zustände beklagen, zur Zeit zu. Am 21.11.2003 haben sich in Paderborn Betroffene zu einer „Interessengemeinschaft der ehemaligen Heimkinder Deutschland" zusammengeschlossen. Gegenüber Vertretern des Landesjugendamtes sind anlässlich dieses Treffens die Vorwürfe unmittelbar von den Betroffenen detailliert vorgetragen worden.

Das Landesjugendamt hat seine Unterstützung bei der erforderlichen Aufarbeitung im Rahmen seiner Möglichkeiten zugesagt. Neben der Klärung o.a. rentenversicherungsrechtlicher Fragen im Einzelfall waren bereits die Möglichkeiten von Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz bzw. eventueller inzwischen allerdings verjährter zivilrechtlicher bzw. strafrechtlicher Prüfungen Gegenstand der Einzelanfragen.

Hauptaugenmerk des Landesjugendamtes erliegt bei seinem Angebot der Unterstützung an die Betroffenen zur Aufarbeitung bei einer angemessenen Berücksichtigung der betroffenen Einzelschicksale.

Herr Lehmkuhl [*] berichtet über die Praxis des Landesjugendamtes in den letzten Jahren im Umgang mit Anfragen von ehemaligen Heimkindern nach Informationen über deren damaligen Heimaufenthalte. Zunehmend gewinnen dabei Fragen nach eventuell rentenversicherungsrechtlich bedeutsamen Zeiten an Bedeutung. Der Problematik der Sozialversicherungspflichtigkeit von etwaigen Beschäftigungen für den damaligen Einrichtungsträger bzw. für Fremdfirmen muss im Einzelfall nachgegangen werden. Um hier die vorhandenen Unterlagen weitestgehend im Interesse der Betroffenen vorhalten zu können, ist die Praxis der Aktenvernichtung (30 Jahre) auf unbestimmte Zeit ausgesetzt worden.

Darüber hinaus beschreibt Herr Lehmkuhl [*] die aktuellen Entwicklungen bei den Anfragen von Betroffenen und der diesbezüglichen Berichterstattung in der Öffentlichkeit, die sich mit dem Vorwurf von Misshandlungen während der Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in den 50er-, 60er- und 70 Jahren befassen. Das Landesjugendamt muss sich - neben den örtlichen Jugendämtern, den Vormundschaftsgerichten, den Einrichtungsträgern - mit der damaligen Form der Wahrnehmung seiner jeweiligen Funktionen als Heimaufsicht, als Kosten- und als Maßnahmeträger befassen. Parallel stehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Betroffenen als Ansprechpartner/innen zur Verfügung.

Im Rahmen der bisherigen Schilderungen sind Vorwürfe gegen die Jugendhilfeeinrichtungen des LWL-LJA nicht erhoben worden, lediglich in einem Einzelfall wurde der Rechtsvorgänger des Westfälischen Jugendheims Tecklenburg benannt.

Herr Breul [**] erklärt, dass auch er bereits viele Gespräche mit Betroffenen geführt habe. Er sieht alle beteiligten Institutionen in der Pflicht, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und sich insbesondere der zurzeit auftretenden Einzelschicksale anzunehmen. Da in der Vergangenheit kaum andere Einrichtungsträger in diesem Tätigkeitsfeld existierten, werden in erster Linie konfessionelle Träger von den Betroffenen benannt. Frau Loheide [***] regt hier eine enge Kooperation des Landesjugendamtes mit den beteiligten Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege und auch den Einrichtungen an.

Das Landesjugendamt wird sich weiterhin der Einzelfälle annehmen und seine Unterstützung bei der Aufarbeitung anbieten. Der ["]Unterauschuss Erziehunghilfe["] soll sich in seiner Sitzung am 08.03.2003 [ sic ] intensiv mit dieser Thematik befassen.

Der Ausschuss nimmt den Bericht der Verwaltung zur Kenntnis.

[ * Matthias Lehmkuhl, im LWL-Landesjugendamt, leitet das Referat Erzieherische Hilfen mit den Sachgebieten Hilfen zur Erziehung, Jugendhilfeplanung, Soziale Dienste, Familienförderung und der zentralen Adoptionsstelle. ]

[ ** Theo Breul ist Caritas-Abteilungsleiter im Erzbistum Paderborn, zuständig für Kinder, Jugend und Familie ]

[ *** Maria Loheide, Geschaftsführerin für den Bereich Familie, Bildung und Arbeit im Diakonischen Werk Westfalen ]

Der Westen
20.11.2007

Heimzöglinge der 50er und 60er Jahre haben ihr Schweigen gebrochen - Jetzt fordern sie eine Entschädigung

Die weggesperrten Kinder der Nachkriegszeit
Jürgen Potthoff

Dortmund. Kein Wort, kein Gruß, höchstens ein kurzer, scheuer Blick. Wenn sich die Schwestern Regina und Elke 1960 auf dem Flur des Vincenz-Erziehungsheims in Dortmund begegneten, mussten sie schweigen. Das Schweigen hielt noch Jahrzehnte lang an.

Regina Eppert war damals 18, Elke Meister, ihre Schwester, 16 Jahre alt. Beide waren nach Meinung der Jugendbehörden von Verwahrlosung bedroht. 47 Jahre später stehen sie vor dem Vincenzheim in der Dortmunder Nordstadt und erinnern sich an die schrecklichsten Wochen, Monate, Jahre ihres Lebens: „Verwahrlost sind wir erst hier drin”, sagt Regina Eppert.
 Die 64-jährige Frau aus Warendorf ist heute zweite Vorsitzende des „Vereins ehemaliger Heimkinder”. 40 Jahre lang hat sie kein Wort über ihre Zeit im Heim gesprochen. Nicht einmal mit ihrer Schwester, die das gleiche Schicksal erlitten hat. Nicht über die harte Arbeit an der Heißmangel, die nur mit einem Taschengeld bezahlt wurde und schweigend zu verrichten war. Nicht darüber, dass ihr Lachen und Weinen verboten war. Nicht über Demütigungen, die ihr Nonnen zugefügt haben. Nicht über das Eingesperrtsein. Nicht, dass sie als junge Mutter ihr Kind nur sonntags sehen durfte.
Jetzt spricht Regina Eppert. Und sie spricht für Tausende. Mehr als eine halbe Million junge Menschen wurden in den 50er und 60er Jahren in eines von rund 3000 Erziehungsheimen in Deutschland eingewiesen. Sie sollten durch Zucht und Ordnung „gebessert” werden. Aber sie wurden geknechtet und ausgebeutet.
Regina Eppert war ein Flüchtlingskind. Sie wuchs ohne Vater auf, lebte Ende der 50er Jahre mit Mutter und Schwester in einem Auffanglager in Altena. Sie wurde früh schwanger. Ihr erstes Kind starb, mit 18 war sie wieder schwanger. Obwohl sie den Vater ihrer Kinder heiratete, war das alles zu viel für Nachkriegsdeutschland. Regina Eppert wurde als Schwererziehbare in dem Backsteinbau zwischen dem Dortmunder Borsigplatz und den Hoesch- werken weggesperrt.
 Das Vincenzheim ist heute eine Ausbildungsstätte für Jugendliche, betrieben, wie damals, von der Caritas. 2003 - in einer Festschrift zum 100-jährigen Bestehen - wurden die dunklen Kapitel der Vergangenheit nur ansatzweise ausgeleuchtet. „Die Tür zum Garten bleibt offen”, heißt es über einem Artikel, der Zustände in der geschlossenen Anstalt der 60er Jahre schildert. Regina Eppert hat eine andere Tür vor Augen. Die Tür zur „Klabause”, einer Kammer ohne Fenster, in die man bei Strafaktionen eingesperrt worden sei: „Wir waren ehrlos, würdelos”, sagt sie und ringt um ein Wort, das all ihre Gefühle beschreiben könnte. Ihr fällt „Guantanamo” ein.
Seit 2003 ist das Schweigen gebrochen. Es begann in Irland, wo der Film „Die Magdalenen Schwestern” auf das Schicksal von Kindern in katholischen Heimen aufmerksam machte. In Deutschland griff der Journalist Peter Wensierski das Thema mit seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn” auf. Auch deutsche Heimkinder sprachen nun über ihr Trauma. Sie gaben Zeitungs-Interviews, sie tauchten im Fernsehen auf. Sie begannen, sich ihrer eigenen Biografie zu stellen. Elke Meister hatte weder ihrem Mann noch ihren Kindern von der Zeit im Heim erzählt. „Man hatte uns doch eingetrichtert, dass wir aus der Gosse kommen. Das sollte doch keiner wissen.” Aus dem eingeschüchterten Heimkind Elke Meister war eine gehorsame Ehefrau geworden. „Noch mit 40 habe ich meinem Mann jeden Einkaufszettel vorgelegt und abhaken lassen, was ich kaufen darf.”
 „Was wir erlebt haben, wirkt ein Leben lang nach”, sagt Regina Eppert. Sie brauchte ein zweites Leben, um alles aufzuarbeiten. Sie will eine Entschädigung. Und eine Entschuldigung. Schon zweimal hat der Petitionsausschuss des Bundestages ehemalige Heimkinder angehört. Die Forderung nach einer Stiftung, die die Opfer von damals für ihre Zwangsarbeit entlohnt, steht im politischen Raum. Außerdem soll Arbeit im Heim auf die Rente angerechnet werden. Eppert ist zuversichtlich, dass sich niemand mehr diesem Thema entziehen kann. Nicht die Kirchen, nicht der Staat. Regina Eppert und ihre Schwester haben auch erste Gespräche mit Nonnen des Vincentinerinnenordens geführt. Elke Meister hat im Altersheim sogar eine ihrer Peinigerinnen von damals besucht, um diese eine Frage zu stellen: „Warum bin ich so behandelt worden?” Ein richtiges Gespräch kam nicht zustande. Aber dieses Gefühl eines hilflosen Kindes war plötzlich wieder da: „Diese Frau hat Macht über mich.”
 47 Jahre später blicken die Schwestern wieder auf die Treppe zum Vincenzheim. „Da habe ich meine Freiheit abgegeben”, sagt Regina Eppert. „Da hat alles angefangen."
Und hörte nie wieder auf.

n-tv
16. November 2007

Jugendfürsorge in Glückstadt
Skandal wird aufgerollt

Otto Behnck schüttelt immer wieder den Kopf: "Falscher Film", "Das ist irre", "Kann sich heute keiner mehr vorstellen" - so lauten Satzfetzen, die aus ihm raussprudeln. Der heute 56-Jährige war 1970 als Jugendlicher Insasse der Landesfürsorgeanstalt in Glückstadt an der Elbe, einem der berüchtigtsten westdeutschen Jugendheime der Nachkriegszeit. Verbrochen hatte Behnck nichts, er trug nur damals das Haar etwas zu lang und hatte Stress mit seinen Eltern. Drei Monate lang knüpfte er im Heim in Glückstadt Fischernetze. Für 1000 Maschen gab es eine "Aktive", eine Zigarette. Ein Anderer erhielt nach vier Jahren Arbeit in der Ziegelei 164 Mark. "Das war Zwangsarbeit", sagt Behnck. "Und die muss noch bezahlt werden." Nun soll das Thema aufgerollt werden.
 
Bis 1945 war das Gebäude in Glückstadt Konzentrationslager für Arbeitshäftlinge. Fünf Jahre später wurden hier aufmüpfige Jugendliche und Straftäter staatlicher Obhut anvertraut - bis 1974. Später wurde der historisch belastete Komplex abgerissen. Schläge, unbezahlte Zwangsarbeit und Drillich-Anzüge im Stil von KZ-Uniformen - Glückstadt war nach den Berichten früherer Insassen kein Hort der Nächstenliebe.
 
Bundestag prüft Entschädigungsansprüche
 
Medienberichte, Entschädigungsforderungen und 7000 im Staatsarchiv in Schleswig aufgetauchte Akten verleihen diesem bisher tabuisierten Justizskandal neue Brisanz. Offensichtlich seien die Betroffenen erst jetzt in der Lage, über ihre Erfahrungen zu reden, sagt Schleswig-Holsteins Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD). Die Frage von Entschädigungszahlungen müsse vom Petitionsausschuss des Bundestages geprüft werden. Die Ministerin will aber eine Aufarbeitung der Akten ermöglichen, dies wird 200.000 Euro kosten.

Das Kieler Ministerium hat den Heimerziehungsforscher Prof. Christian Schrapper von der Universität Koblenz nun mit einer Analyse der Causa Glückstadt beauftragt. Er schätzt, dass in den 50er bis 70er Jahren bis zu 70.000 Jugendliche pro Jahr in staatliche Fürsorge kamen. Davon zu unterscheiden sind Hunderttausende Kinder und Jugendliche, die zum Beispiel als Waisenkinder in Heimen lebten. "Glückstadt gehörte unter den Fürsorgeeinrichtungen sowohl vom Zustand als auch vom Personal her zu den am wenigsten guten Heimen", sagt Schrapper diplomatisch. Er hält Berichte von Menschen wie Otto Behnck für authentisch.
 
Beschimpft und geprügelt
 
Behnck erzählt von Dingen wie diesen: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch kam ein Erzieher nachts in sein Zimmer, zog die Decke weg und schrie "Du Hund! Du Hund!" Dabei schlug er mit einem Totschläger immer wieder zwischen die Beine des damals 19-Jährigen. Behnck war nach Glückstadt gebracht worden, weil sich seine Eltern guten Glaubens an das Jugendamt gewandt hatten. "Ich war Hippie, damit kamen sie nicht klar." Das Amtsgericht Ahrensburg ordnete "Staatliche Fürsorge" an.
Die Polizei verhaftete Behnck in der elterlichen Wohnung, im Streifenwagen ging es nach Glückstadt, einer Kleinstadt 30 Kilometer westlich von Hamburg. "Es war alles so irreal, ich konnte es nicht glauben, ich war 19." Diese Maßnahme war möglich, weil in Westdeutschland ein junger Mensch bis in die 70er Jahre erst mit 21 Jahren volljährig wurde. Weihnachten 1970 besuchten ihn plötzlich die Eltern. "Meine Mutter wurde kreidebleich wegen der Zustände." Die Eltern setzten vor Gericht durch, dass sie wieder die Fürsorge übertragen bekamen.
 
Landesfürsorge ersetzt Arbeitslager
 
Im damaligen Verhalten der Erzieher und den Methoden sieht Behnck eine vielfältige Kontinuität zur Nazi-Zeit. So habe es Karteikarten gegeben, die noch aus der NS-Zeit stammten. Die Aufschrift "Arbeitserziehungslager" darauf wurde mit Bleistift durchgestrichen und mit "Landesfürsorgeheim" überschrieben. Als Grund der Einlieferung stand auf der Karte des mit 15 Jahren nach Glückstadt gekommenen Frank Leesemann: "Asozial, kriminell, kann sich der Gesellschaft nicht anpassen." Er hatte ein Mofa gestohlen.
 
"Die Ideologie lebte weiter. Ducken und Ja sagen, als solche Menschen sollten wir Glückstadt verlassen", sagt Behnck, der heute als Markthändler sein Geld verdient. Er spricht von Selbstmorden, die sich ereignet haben. Auch das mit dem Brechen und Kaputtmachen habe geklappt. Er zählt Namen von Heimkumpels auf und beschreibt den Werdegang nach der Entlassung: "9 Jahre Knast, 17 Jahre Knast, 20 Jahre Knast". Der Boock war auch in Glückstadt, sagt Behnk. Er meint Peter-Jürgen Boock, den Terroristen der Roten Armee-Fraktion. "Da ist mächtig was schiefgelaufen."
 
Von Georg Ismar, dpa

Sueddeutsche.de
14.November 2007

Ehemaliges Jugendheim Glückstadt
Schläge, Zwangsarbeit und Nazi-Uniformen
Es war eines der berüchtigsten Jugendheime der Nachkriegszeit. Anhand neuer Akten wird nun der Skandal um das Heim Glückstadt in Schleswig-Holstein neu aufgerollt.

"Ich war ein Hippie, damit konnten sie nichts anfangen": Otto Behnck, ehemaliger Insasse der Landesfürsorgeanstalt Glückstadt, zeigt in Kiel seine Anstaltskleidung.
Foto: dpa

Otto Behnck schüttelt immer wieder seinen Kopf mit dem kurzen grauen Haar. "Falscher Film", "Das ist irre", "Kann sich heute keiner mehr vorstellen" - so lauten Satzfetzen, die aus ihm raussprudeln. Der heute 56-Jährige war 1970 als Jugendlicher Insasse der Landesfürsorgeanstalt in Glückstadt an der Elbe, einem der berüchtigtsten westdeutschen Jugendheime der Nachkriegszeit.

Verbrochen hatte Behnck nichts, er trug nur das Haar etwas zu lang und hatte Stress mit seinen Eltern. "Ich war Hippie, damit kamen sie nicht klar." Drei Monate lang knüpfte er im Heim in Glückstadt Fischernetze. Für 1000 Maschen gab es eine "Aktive", eine Zigarette. Ein anderer erhielt nach vier Jahren Arbeit in der Ziegelei 164 Mark. "Das war Zwangsarbeit", sagt Behnck. "Und die muss noch bezahlt werden."

Bis 1945 war das Gebäude Konzentrationslager für Arbeitshäftlinge. Fünf Jahre später wurden hier aufmüpfige Jugendliche und Straftäter staatlicher Obhut anvertraut - bis 1974. Später wurde der historisch belastete Komplex abgerissen. Schläge, unbezahlte Zwangsarbeit und Drillich-Anzüge im Stil von KZ-Uniformen - Glückstadt war nach den Berichten früherer Insassen kein Hort der Nächstenliebe.

Die schleswig-holsteinische Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) ist mittlerweile unter Druck geraten, das Thema aufarbeiten zu lassen. Medienberichte, Entschädigungsforderungen und 7000 im Staatsarchiv in Schleswig aufgetauchte Akten verleihen diesem bisher tabuisierten Justizskandal neue Brisanz.

Offensichtlich seien die Betroffenen erst jetzt in der Lage, über ihre Erfahrungen zu reden. "In Gesprächen mit sechs Betroffenen ist deutlich geworden, wie wichtig es ihnen ist, mit dem notwendigen zeitlichen Abstand über ihre traumatischen Erlebnisse zu sprechen“, sagte Trauernicht der Deutschen Presse-Agentur dpa.

Junge Menschen aus ganz Deutschland kamen kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur wegen Straftaten nach Glückstadt. In vielen Fällen beantragten überforderte Eltern im Einvernehmen mit dem Jugendamt staatliche Fürsorge. Ehemalige Insassen berichten von brutalen Übergriffen der Erzieher und von Selbstmorden. Sie fordern eine Bezahlung der dort geleisteten Arbeit. "Die Frage möglicher Entschädigungen wird vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages geprüft", sagte Trauernicht.

Die Ministerin will eine Aufarbeitung der Akten ermöglichen, dies wird 200.000 Euro kosten. Das Kieler Ministerium hat den Heimerziehungsforscher Prof. Christian Schrapper von der Universität Koblenz nun mit einer Analyse der Causa Glückstadt beauftragt. Er schätzt, dass in den fünfziger bis siebziger Jahren bis zu 70.000 Jugendliche pro Jahr in staatliche Fürsorge kamen.

Davon deutlich zu unterscheiden sind Hunderttausende Kinder und Jugendliche, die auf Grundlage des Jugendwohlfahrtsgesetzes zum Beispiel als Waisenkinder in Heimen lebten. "Glückstadt gehörte unter den Fürsorgeeinrichtungen sowohl vom Zustand als auch vom Personal her zu den am wenigsten guten Heimen", sagt Schrapper diplomatisch. Er hält die Berichte von Menschen wie Otto Behnck für authentisch.

Ein Dokument eines Insassen des Heims in Glückstadt: Arbeitserziehungslager wird zum Landesfürsorgeheim; aus den Häftlingen machte man Zöglinge.
Foto: dpa

Behnck erzählt von Dingen wie diesen: Nach einem gescheiterten Fluchtversuch kam ein Erzieher nachts in sein Zimmer, zog die Decke weg und schrie "Du Hund! Du Hund!" Dabei schlug er mit einem Totschläger immer wieder zwischen die Beine des 19-Jährigen. Behnck war nach Glückstadt gebracht worden, weil sich seine Eltern nach einer Tramper-Reise nach Dänemark guten Glaubens an das Jugendamt gewandt hatten. Das Amtsgericht Ahrensburg ordnete "staatliche Fürsorge" an.

Die Polizei verhaftete Behnck in der elterlichen Wohnung, im Streifenwagen ging es nach Glückstadt 30 Kilometer westlich von Hamburg. "Es war alles so irreal, ich konnte es nicht glauben, ich war 19." Diese Maßnahme war möglich, weil in Westdeutschland ein junger Mensch bis in die siebziger Jahre erst mit 21 Jahren volljährig wurde. Weihnachten 1970 besuchten ihn plötzlich die Eltern. "Meine Mutter wurde kreidebleich wegen der Zustände." Die Eltern setzten vor Gericht durch, dass sie wieder die Fürsorge übertragen bekamen.

Im damaligen Verhalten der Erzieher und den Methoden sieht Behnck eine vielfältige Kontinuität zur Nazi-Zeit. Behnk verweist auf die Karteikarten der Häftlinge, die noch aus der NS-Zeit stammten. "Arbeitserziehungslager" wurde auf diesen Karten mit Bleistift durchgestrichen und mit "Landesfürsorgeheim" überschrieben. Als Grund der Einlieferung stand auf der Karte des mit 15 Jahren nach Glückstadt gekommenen Frank Leesemann: "Asozial, kriminell, kann sich
der Gesellschaft nicht anpassen." Er hatte ein Mofa gestohlen.

"Die Ideologie lebte weiter. Ducken und Ja sagen, als solche Menschen sollten wir Glückstadt verlassen", sagt Behnck, der heute auf Märkten Wollpullover aus Peru verkauft "oder was gerade gut läuft". Er spricht von Selbstmorden, die sich ereignet haben. Auch das mit dem Brechen und Kaputtmachen habe geklappt.

Er zählt Namen von Heimkumpels auf und beschreibt den Werdegang nach der Entlassung: "9 Jahre Knast, 17 Jahre Knast, 20 Jahre Knast". Der Boock war auch in Glückstadt, sagt Behnk. Er meint Peter-Jürgen Boock, den Terroristen
der Roten-Armee-Fraktion. "Da ist mächtig was schiefgelaufen."

"Wir müssen den ehemaligen Heimkindern nach der wissenschaftlichen Auswertung auch die Möglichkeit geben, ihre eigenen Akten zu lesen", sagte
Trauernicht. Anfang der siebziger Jahre hatte sich die 56-Jährige SPD-Politikerin auch selbst mit der Überwindung der autoritären Strukturen im staatlichen Erziehungswesen und mit den Heimrevolten befasst.

1969 ereignete sich auch in Glückstadt ein solcher Aufstand, als Insassen Matratzen und Betten aus Protest gegen die Zustände in Brand steckten. Trauernicht promovierte über diese Themen und schrieb als Mitautorin das Buch "Ausreißer und Trebegänger".

(dpa/cag/bavo)

DIE ZEIT, Nr. 45
01.11.2007

Brutale Fürsorge

VON DIETER HANISCH

Ein Justizskandal der siebziger Jahre: Wie in Schleswig-Holstein Jugendliche in staatlichen Heimen zur Zwangsarbeit herangezogen wurden
Das Gebäude am Glückstädter Jungfernstieg war historisch vorbelastet. Im 19. Jahrhundert hatte der Bau als Zuchthaus gedient, später wurde er als »Korrektionsanstalt«, von 1925 an als »Landesarbeitsanstalt« bezeichnet. Von 1933 an beherbergte das alte Gemäuer ein Arbeitslager für Häftlinge aus Schleswig-Holstein und Hamburg. Von Kriegsende bis 1949 war das Bauwerk dem Strafvollzug entzogen und diente als Lazarett, ehe es zum Landesfürsorgeheim wurde, in dem jugendliche Straftäter, Entmündigte und Sprösslinge überforderter Eltern unterkamen. 1980 wurde die Hauszeile abgerissen.
Das Landesfürsorgeheim in Glückstadt wurde am 31. Dezember 1974 geschlossen, als letzte Einrichtung dieser Art in der Bundesrepublik. Was sich hinter den Mauern abspielte, davon berichten nun ehemalige Insassen. Der Markthändler Otto Behnck und der Drehorgelverleiher Frank Leesemann haben sich ans Sozialministerium in Kiel gewandt. Ihren Schilderungen zufolge schloss die staatliche »Fürsorge« in Glückstadt in vielerlei Hinsicht bruchlos an die Praktiken in Nazideutschland an: Zwangsarbeit, regellose Gewalt, sogar die Anstaltskleidung der dreißiger Jahre soll weiter verwendet worden sein.
Otto Behnck stammt aus Bargteheide, einer nordöstlich von Hamburg gelegenen Kleinstadt. 1970, als 18-Jähriger, überwarf er sich mit seinen Eltern; er ließ sich die Haare lang wachsen und wollte in eine Wohngemeinschaft ziehen. Das zuständige Amtsgericht ordnete auf elterliches Drängen Fürsorgeerziehung an, obwohl Behnck nicht straffällig geworden war. Drei Monate lang, von Oktober 1970 bis Januar 1971, musste er in Glückstadt von morgens bis abends auf dem Dachboden Netze für die Heringsfischerei knoten. Statt einer Bezahlung bekam er ein paar Zigaretten, im Jargon der Insassen »Aktive« genannt.
Andere Jugendhäftlinge verrichteten ihren Arbeitsdienst in einer hauseigenen Schlosserei. Auch die Kommune wusste die unbezahlten Arbeitskräfte zu schätzen, die sie im Freibad, auf dem Friedhof, in Parkanlagen und auf dem Sportplatz einsetzte. Bei örtlichen Unternehmen und in der Landwirtschaft fanden die jugendlichen Zwangsarbeiter ebenfalls Verwendung.
Sträflingskleidung und Karteikarten aus der Nazizeit
Seinem Mithäftling Frank Leesemann, den Behnck in Glückstadt kennenlernte, war ein gestohlenes Mofa zum Verhängnis geworden. Von 1969 an verbrachte er über zwei Jahre in dem »Fürsorgeheim«. Leesemann war der Ausbrecherkönig von Glückstadt, von 25 Fluchtversuchen glückten ihm 16, doch jedes Mal, so berichtet er, sei er nach kurzer Zeit wieder aufgegriffen und zur Strafe in eine Isolationszelle im Keller gesperrt worden, die »Box«, wie sie unter den Zöglingen genannt wurde.
Die Box hat auch Rolf Breitfeld aus Berlin, Jahrgang 1948, kennengelernt. Er erinnert sich an ein kahles Verlies, darin eine Matratze mit Reichsadler und Hakenkreuz. Auch die Kleidung der Einzelhäftlinge stammte aus der Nazizeit. Bei seiner Entlassung schmuggelte Frank Leesemann ein Fischerhemd mit nach draußen, das noch den aufgestickten Schriftzug »Außenkommando Glückstadt« trug. Auch die Karteikarte mit der Nummer Z 1571 ist noch in seinem Besitz. Das ursprüngliche Wort »Arbeitserziehungsanstalt« war darauf durchgestrichen und durch den Begriff »Landesfürsorgeheim« ersetzt worden. Als Grund seiner Inhaftierung wurde dort vermerkt: »asozial, kriminell – kann sich der Gesellschaft nicht anpassen«.
Und immer wieder gab es Übergriffe des Personals. »Gewalt gehörte zum Alltag in Glückstadt«, sagt der heute 54-jährige Walter Nikoleth, der als Frührentner am Bodensee lebt. Nikoleth war von zu Hause abgehauen, kam schon früh mit dem Gesetz in Konflikt und wurde als 17-Jähriger in Bielefeld aufgegriffen, weil er sich mit zwei Mädchen herumtrieb, die polizeilich gesucht wurden, ehe er 1970 nach Glückstadt kam.
Vom 7. auf den 8. Mai 1969 gab es einen spontanen Aufstand im Heim, das zeitweise 160 Jugendliche beherbergte. Bettlaken und Matratzen wurden in Brand gesteckt, doch die Revolte wurde niedergeschlagen. Anschließend wuchs die Kritik am Sozialministerium in Kiel. Mit Umbaumaßnahmen und einer pädagogischen Schulung des Personals reagierte der damalige Sozialminister Otto Eisenmann (FDP). »Nur Kosmetik« sei das gewesen, sagt Otto Behnck. Am Erziehungsstil habe sich nichts geändert. »Die wollten unseren Willen mit allen Mitteln brechen.« Nach wie vor gab es Misshandlungen, sexueller Missbrauch sei vorgekommen. Behncks Eltern besuchten ihren Sohn 1970 zu Weihnachten und erwirkten, bestürzt über seine Berichte, per Gerichtsbeschluss seine Entlassung.
Inzwischen hat Otto Behnck sich juristischen Beistand gesucht, um eine Entschuldigung für das erlittene Unrecht und eine wenigstens symbolische Entschädigung zu erkämpfen. Es gibt inzwischen auch einen Verein ehemaliger Insassen von Fürsorgeheimen; frühere Heimkinder haben dem Petitionsausschuss des Bundestages von ihren Schicksalen berichtet. Die Grünen setzen sich für die Einrichtung einer Bundesstiftung ein; viele Mitstreiter haben sie bislang nicht.
Es gab 800000 jugendliche Zwangsarbeiter, schätzt ein Experte
In Kiel lädt Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD), die über die Folge der westdeutschen Heimerziehung promoviert hat, im Januar zu einem runden Tisch in Sachen Glückstadt ein. Viel Hoffnung auf eine Entschädigung, sagt sie, könne sie den früheren Insassen aber nicht machen.
Wie kommt es, dass die Opfer der Fürsorgeerziehung erst jetzt ihre Stimmen erheben? Manfred Kappeler, eremitierter Professor für Sozialpädagogik und vormals Leiter der sozialpädagogischen Fakultät der Berliner TU, spricht von langjähriger, wenn nicht gar lebenslanger Traumatisierung und Stigmatisierung der Opfer. Bisweilen brauche es einen äußeren Anstoß; so seien in Irland infolge eines preisgekrönten Films die skandalösen Zustände in den katholischen Schwesternheimen des Landes zum Thema geworden.
Das Ausmaß des Unrechts in Deutschland ist Kappeler zufolge gewaltig: »Hier sind Jugendliche in Heimeinrichtungen zu Sklavenarbeit ausgenutzt worden«, sagt er – bis Anfang der siebziger Jahre seien es »schätzungsweise 800000« gewesen.

Frankenpost
26.10.2007

Schläge und Schikane im Heim

Erinnerungen | Wolfgang Rosenkötter berichtet in einer Lesung von seiner schlimmen Kindheit

Hof – Es ist ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, und es geschah nicht während der Nazi-Diktatur, sondern später; in den fünfziger, sechziger und den siebziger Jahren. Kinder, die unliebsam waren, deren Mütter und Väter mit der Erziehung in der Nachkriegszeit überlastet waren, kamen ins Heim. Probleme dieser Art passten nicht in den beginnenden Wohlstand der Nachkriegszeit, so heißt es in einer Mitteilung der Fachakademie für Sozialpädagogik.
Vor zwei Jahren griff Spiegel-Reporter Peter Wensierski das Thema auf. Er recherchierte, unterhielt sich mit betroffenen Menschen. „Schläge im Namen des Herrn“, das Buch, das aus den Recherchen entstand, hat viele Betroffene veranlasst, ihr Schweigen zu brechen. Ein Verein wurde gegründet, die Politik befasst sich mit den Aussagen und den Forderungen der Menschen, die Schlimmes erlebt haben in ihrer Kindheit und Jugend. Einen, der dies genau weiß und der sich artikuliert, ist Wolfgang Rosenkötter aus Hamburg. Auf Einladung der Hofer Fachakademie für Sozialpädagogik las und berichtete er in der vergangenen Woche in der Stadtbücherei in Hof.

Erfahrungen verdrängt

Schläge habe es im Heim gegeben, perfide Schikane und Drohungen, den Kindern sei Angst eingejagt worden durch drakonische Strafen, es gab wenig zu essen und viel Arbeit. Er habe immer wieder versucht, heimlich nach Hause zu kommen. So wurde er „durchgereicht“, und ein Heim war schlimmer als das andere. Zwangsmedikation, Kollektivstrafen und Unterdrückung seien an der Tagesordnung gewesen.
Jahrelang habe Rosenkötter seine Erfahrungen verdrängt, gesteht er bei seinem Vortrag. Aber jetzt drängten die traumatischen Erlebnisse an die Oberfläche. Er engagiert sich im „Verein ehemaliger Heimkinder“. Und er unterstützt tatkräftig dessen eigentlich so lapidare Forderungen nach einer Entschuldigung und nach Anrechnung der Jahre unbezahlter Zwangsarbeit. Die Öffentlichkeitsarbeit zeigt langsam Früchte: Auf vielen TV-Kanälen wird das Thema aufgegriffen. Der Bundestag befasst sich im November in einer ersten Anhörung mit den Anliegen der Betroffenen.
Die Heime waren damals überwiegend in kirchlicher Hand, berichtete Rosenkötter. Pädagogisch ausgebildetes Personal war rar. Die Erziehungsmethoden waren grausam, die Unterbringung menschenunwürdig. Die Jungen und Mädchen bekamen in vielen Heimen keine Schulbildung. Stattdessen mussten sie in der Wäscherei, der Näherei, der Küche, der Metzgerei, im Garten oder auf dem Feld arbeiten. Und das sechs Tage die Woche, zehn, zwölf Stunden am Tag.
Auch heute hätten die Kirchen kein Interesse an einer Aufarbeitung der Geschehnisse, monierte der Referent in der Stadtbücherei. All dies seien Gründe, um die Erziehung junger Menschen heute genauer anzusehen. „Man muss mit Kindern so umgehen, wie man möchte, dass mit einem selbst umgegangen wird“, hieß es in einer sehr lebhaften Diskussion nach dem Vortrag.
Nur mit guter Ausbildung der Erzieher, mit guten Heilpädagogen und Psychologen sei es möglich, das umzusetzen. Wolfgang Rosenkötter arbeitete am nächsten Tag mit einer Gruppe der Hofer Berufspraktikanten in der Fachakademie für Sozialpädagogik im Rahmen eines Seminartages am gleichen Thema, so die Mitteilung abschließend.

bloghof.net
18. Oktober 2007

Anna Elfriede Schreyer, Heinz Schreyer, Günter Klefenz, Volker Spiegler und Michael Börner ,,Opfer des staatlichen Heimes Kalmenhof in Idstein.,,

Der Kalmenhof in Idstein und deren grausame Erziehungspraktiken an Kinder und Jugendliche. Zuständig der LWV Kassel.

Heinz Schreyer kämpft seit Jahren um die Anerkennung  seiner Mutter als Opfer eines grausamen und verwerflichen  Lebens Die Mutter 1931 geboren, lebt heute in einem Pflegeheim.  Im Alter von 13 Jahren,  1943  kam Frau  Anna Elfriede Schreyer in den Kalmenhof nach Idstein.

Im selben Jahr 1943 wurde Elfriede in die Landesanstalt Eichberg verlegt.Sie galt als Unwertes Leben aber die Landesanstalt Eichberg fragte nach auf wessen Veranlassung befand sich Elfriede in der Landesanstalt Eichberg und können sie das Gericht nennen, das den Einziehungsbeschlusses gefaßt hat. Am 22.10.1943 wurde Elfriede wieder zurück in die Heilerziehungsanstalt Kalmenhof gebracht. Von den 22 auf den 23.10.1943 ist Ihre ganze Familie bei einen Bomben Angriff auf Kassel ums Leben gekommen. Aber auch gleichzeitig sind sämtliche Unterlagen verloren gegangen.Man hat um nähere Angaben in diesem Falle gebeten.Am 9.12.1943 gab es eine neue Akte,,,Elfriede Schreyer,, übersendet vom ,,Oberpräsidenten Hei,, aus Marburg. 1944 Verlegte der Kalmenhof aus Platzmangel  Elfriede nach Goddelau von dort aus zum ,,Philiphospital Darmstadt,, .Im selben Jahr 1944 zurück in den Kalmenhof. Dort waren schon die Nazis und es begann die Euthanasie. Der Kalmenhof  wurde zu einer Verwaltungsmaschinerie, in der Kinder  junge Erwachsene  und Erwachsene, die als Lebensunwerte eingestuft wurden und dann der Euthanasie zum Opfer fielen. Elfriede Schreyer bekam indirekt mit was dort geschah. Sie hatte verdammt großes Glück, die Zeit selber überlebt zu haben..Wie furchtbar muss ein Mensch sich fühlen der über Jahre das Wissen hatte, was täglich in diese Einrichtung an Morden verübt wurde und trotzdem überlebt zu haben?

Wir  erinnern uns  an den Fall ,,Paul Brune ,, der mit noch 7 weiteren Überlebenden in Januar 2003 eine öffentliche Entschuldigung vom Landschaftsverband Westfalen Lippe bekam. Auch erinnern wir uns an die Heimkinder.ne... anfang 2003 unter Michael Eder, der diese Entschuldigung die vom Landschaftsverband selber in das Gästebuch rein geschrieben wurde und diese Entschuldigung immer wieder löschte.Von Anfang an wurde das Schicksal der Heimkinder in der BRD immer wieder  versucht  zu boykottieren. Auch sollte niemals aus Überzeugung eine Webseite für Heimkinder der BRD  von 1945-1975 öffentlich gemacht werden.
Bis heute wurde nur in der Öffentlichkeit, Entschuldigungen  vom Landschaftsverband  Hessen  ausgesprochen zu den  eigentlichen  Opfern die bis heute  noch schwer traumatisiert  sind  aber möglichst kein persönlicher  Kontakt aufgenommen  werden..
Heinz Schreyer, Günter Kefenz, Volker Spiegler und  Michael Börner sind nur einige die um die  Wahrheit kämpfen.

Der LWV in Kassel hatte viele Einrichtungen in Hessen  und überall   wurden verehrende  unglaubliche Erziehungspraktiken angewandt.

Wir hoffen das der LWV  in Kassel, endlich die Nähe zu dem Opfern sucht und sich persönlich bei diesen Entschuldigt und nicht lapidar nur über die Medien und Öffentlichkeit.

ndr-info
21.September 2007

Reportage
Misshandelt und ausgebeutet: Heimkinder in den 60er-Jahren

Man wollte ihr Bestes, dafür mussten sie arbeiten, gehorchen und oft wurden sie geschlagen. Etwa eine halbe Millionen Heimkinder kamen in den 50er- und 60er-Jahren in solche Einrichtungen. Viele von ihnen leiden noch heute unter den Spätfolgen. Daher wollen sie Entschädigung - finanzieller, vor allem aber moralischer Art. Der Petitionsausschuss des Bundestages befasst sich zurzeit mit dem Thema.

Eingesperrt in Einzelzellen
An den Februar-Tag im Jahr 1965 kann sich Eleonore Fleth noch genau erinnern: Die damals 15-Jährige war mit ihrer Mutter und den beiden jüngeren Schwestern beim Frühstück. Plötzlich stand das Jugendamt vor der Tür und holte die drei Kinder ab. Warum, wusste sie nicht. Eleonore und ihre Schwestern landeten im Heim für schwer erziehbare Kinder in Ummeln bei Bielefeld - eingesperrt in Einzelzellen: "Es war ein ganz langer Flur und es waren so ganz schmale Türen - alle so nebeneinander. Und ich musste in die erste Tür, die wurde sofort hinter mir geschlossen. Und dann stand ich im Zimmer - meine Schwester ist also noch weiter gebracht worden - und da habe ich erst mit Erschrecken festgestellt, wo ich eigentlich bin, dass ich gar nicht wieder 'raus konnte, weil die Tür gar keine Klinke hatte. Da habe ich nur noch geschrieen. Ich kann das gar nicht beschreiben."
Erinnern kann sie sich nur in Ausschnitten, da sie starke Beruhigungsmittel bekam. Nach einigen Monaten zeigte man ihr ein Schreiben, in dem stand, warum sie da war. Ein Nachbar hatte ihre Familie beim Jugendamt gemeldet - Eleonores Eltern lebten getrennt. Das Jugendamt fürchtete, dass die Kinder verwahrlosen könnten: "Das ist für mich das Schlimmste, dass da jemand vor mir sitzt, mir das vorlegt und sagt: 'Unterschreiben Sie das!' (...) Ich als Minderjährige hatte keine Chance, irgendetwas zu verändern, etwas dagegen zu unternehmen. Ich war eingesperrt, ich hatte kein Telefon, ich konnte nicht schreiben, beziehungsweise war Schreiben sowieso nur zu den Eltern erlaubt. Somit war ich hilflos."

Arbeiten, beten, schlafen
Was in den nächsten Jahren folgte, war für sie der reinste Horror: Arbeit in der Großküche, beten, schlafen. Ihre unbeschwerte Jugend war vorbei. 40 Jahre später bekam sie ihre Akte, in der die Heimschwestern alles über sie fein säuberlich notierten. Ganz lesen kann sie sie bis heute nicht - das berührt sie zu sehr. Aber sie fand darin eine Postkarte ihres Vaters: "Das hat mich sehr berührt, weil ich nicht viele Andenken von meinem Vater habe. Aber ich bedaure, dass ich das damals nicht gekriegt habe. Das ist ja immer auch ein Zeichen, dass einen die Eltern nicht vergessen haben. (...) Mein Vater hat geschrieben, ich soll mich mal melden. Ich weiß nicht mehr, ob ich nicht schreiben durfte, oder ob ich geschrieben habe und meine Post nicht 'rausgegangen ist. Das kann ich heute nicht mehr nachvollziehen".

Erziehung und Züchtigung
In den meisten Heimen wurde die Post kontrolliert. Auch bei Wolfgang Rosenkötter. Das Heim Freistatt in Niedersachsen war 1962 schon seine dritte Station. Er war immer fortgelaufen - zu seinem Vater nach Hause. Aber das Jugendamt empfahl die freiwillige Erziehungshilfe. In Freistatt bedeutete das Torfstechen im Moor, sieben Tage die Woche. Erziehung und Züchtigung waren an der Tagesordnung: "Ich habe vom ersten bis zum letzten Tag nur Angst gehabt und nie irgendwie ein Gefühl, dass man mal aufatmen konnte und sagen konnte: 'So, jetzt kannst du dich mal ein bisschen zurücknehmen' oder sagen konnte, 'jetzt fühlst du dich wohl' und so etwas. Das gab es überhaupt nicht. Man war eingeschlossen in dem Haus. Das Haus war ja ein festes, geschlossenes Haus mit Gittern vor den Fenstern. Man kam ja nicht raus."

Den Stärksten verprügeln
Angst zu vermitteln und Macht auszuüben war ein wichtiger Bestandteil der Erziehung. Dieter Grünenbaum war damals in Freistatt Diakon-Schüler, gerade 24. Er wurde von einem älteren Erzieher angewiesen, wie er die Jugendlichen behandeln sollte: "Ich werde nie vergessen, dass er mir nach einer Woche sagte: 'Wenn Sie hier Autorität erreichen wollen, dann müssen Sie genau hingucken, welcher Jugendliche am stärksten ist, wer von den anderen am meisten geachtet wird und den müssen Sie sich bei nächster Gelegenheit schnappen und verprügeln. Dann haben Sie hier Autorität'."
Ein Erlebnis wird Grünenbaum nie vergessen. Er hatte mitbekommen, dass zwei Jungen weglaufen wollten und meldete das pflichtbewusst. Die Strafe des Heimvaters folgte sofort und Dieter Grünenbaum musste sie mit ansehen: "Er hatte einen Krückstock und diesen dem Jugendlichen so um den Hals gehalten, dass der mit dem Kopf nicht wegkam und dann hat er ihm immer rechts und links ins Gesicht geschlagen, bis der gesagt hat: 'Ja, wir wollten abhauen!' Ich weiß, dass ich mir damals geschworen habe, nie wieder einen Jugendlichen zu verraten. Es war so schrecklich für mich, das mit ansehen zu müssen." Immer mehr wurde dem Diakonschüler klar, dass das alles nichts mit Pädagogik hatte. Aber erst später lehnte er sich dagegen auf.

"Kein Mensch hat mir geglaubt"
Wolfgang Rosenkötter hatte es geschafft aus Freistatt zu fliehen, trotz sperriger Holzschuhe, die er tragen musste: "Ich bin auch weggekommen, was ganz selten war dort. Ich habe mich durchgeschlagen, durch das Moor nach Minden und von Minden nach Bielefeld und habe dort geschildert, was in diesem Heim abging. Es hat mir kein Mensch geglaubt. Die haben gesagt, das kann gar nicht sein, das ist ein christliches, evangelisches Heim, da passiert so was nicht, da musst du durch." Drei Tage Arrest in einer dunklen Zelle, bei Brot und Wasser, das war die Strafe. Eine Strafe, über die Wolfgang Rosenkötter noch heute entsetzt ist.
Auch Eleonore Fleth glaubt, dass ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn man sie nicht ins Heim gesteckt hätte: "Deren Interesse hat darin gelegen, uns zu manipulieren. Uns als Arbeitstiere zu manipulieren, auch für die Zukunft. Arbeiten und Beten heißt das Leben. Also nicht, um aus uns eigenständige Menschen zu machen, die im Leben bestehen, sondern ganz anders. Deren erklärtes Ziel war ein anderes. Davon bin ich heute eigentlich mehr als überzeugt."
Rosenkötter meint, er habe "gelernt, die Zähne zusammenzubeißen und sich anzueignen, bei bestimmten Dingen nicht zu reagieren. Das heißt also, wenn man bestimmte Strafen bekam, die hinzunehmen und einfach zu sagen: 'OK, du kannst nichts ändern, du musst durchhalten'. Das ist das einzige, was man gelernt hat, sonst gab es nichts zu Lernen."
Autor: Ilka Steinhausen

Stuttgarter Zeitung
26.07.2007

Seite  24
LUBU

Damit Heimkinder die Vergangenheit loslassen können

Vor 50 Jahren ist es auf der Karlshöhe noch streng zugegangen: Geschichte des Kinderheims soll wissenschaftlich untersucht werden
LUDWIGSBURG. Die Karlshöhe stellt sich der Vergangenheit: Drei ehemalige Heimkinder wollen ihren Aufenthalt in der Ludwigsburger Einrichtung aufarbeiten. Um deren Geschichte in den 1950er- und 1960er-Jahren zu untersuchen, wurde eine Projektgruppe gegründet.

Von Kathrin Haasis

Viele Jahre später hat Annelen Schünemann alles aufgeschrieben. "Heim-Weh" nennt die 59-Jährige ihre Biografie. "Nach einem halben Leben kann man die Vergangenheit aus einem anderen Blickwinkel betrachten", sagt sie. Als Dreijährige kam sie in ein Kinderheim. Sechs Geschwister hatte das Mädchen und weil die Mutter allein erziehend war, arbeiten musste und der Tageskinderhort geschlossen wurde, brachte sie zwei ihrer Kinder fort. "Bei jedem Besuch sagte sie: Wir holen euch beim nächsten Mal raus", erinnert sich Annelen Schünemann. Sie verbrachte 16 Jahre in drei Heimen, von 1960 bis 1963 war sie auf der Karlshöhe. Vor allem unter Einsamkeit hat sie als Kind gelitten. "Man hatte nur sich selbst", erzählt sie.
Adelheid Schweigert erlebte eine ähnliche Geschichte. Sie wuchs bei ihren Großeltern an der holländischen Grenze auf, die Eltern zogen mit ihrem Bruder in den Süden. Als die Oma schwer am Herzen erkrankte, schickte sie das Kind in den Ferien zu ihrer Familie. "Kurz nach der Ankunft hat mich meine Mutter im Heim aufgegeben", berichtet die 54-Jährige. Der Vater war pflegebedürftig, die Mutter verdiente das Geld. Von 1962 bis 1969 lebte das Mädchen auf der Karlshöhe. "Das Schlimmste für mich war die emotionale Armut", erzählt sie. Wenn sie einer Erzieherin aus kindlicher Freude um den Hals gefallen sei, sei sie komisch angeschaut worden. Adelheid Schweigert hat immer auf den Tag ihrer Entlassung gewartet.
Die Heimerziehung in den 1950er- und 1960er-Jahren lässt sich nicht mit heute vergleichen. Annelen Schünemann und Adelheid Schweigert mussten auf dem Feld arbeiten, standen als Siebenjährige in der Waschküche oder zupften Bohnen. Zum Spielen gab es kaum Zeit. Als Schulbildung war für die Mädchen nur eine Art Hauptschulabschluss gedacht. Zwei Erwachsene kümmerten sich damals um 20 Kinder - sie konnten höchstens die Grundbedürfnisse ihrer Schützlinge sichern. Überhaupt herrschten härtere Erziehungsmethoden. "Die Unterbringung eines Kindes in einem Heim ist nach wie vor ein dramatischer Eingriff, der sich enorm auf die Lebensgeschichte auswirkt", sagt Hans Fischer, der Leiter der Kinder- und Jugendhilfe auf der Karlshöhe. Aber die Verhältnisse haben sich geändert: Heute sind fünf Mitarbeiter für sechs bis acht Kinder zuständig.
Annelen Schünemann und Adelheid Schweigert sind trotzdem regelmäßig auf die Karlshöhe zurückgekehrt. Früher fand einmal im Jahr ein Heimattag für die Ehemaligen statt. "Durch die Treffen habe ich mit der Aufarbeitung begonnen", sagt Annelen Schünemann, "hier haben wir über alles gesprochen." Andere Einrichtungen hätten ein solches Angebot nicht gemacht, ergänzt Adelheid Schweigert. Sie stellte dabei fest, dass sie mit ihren Problemen nicht allein ist. Seit 1987 kümmert sich die 54-Jährige deshalb um die Ehemaligenarbeit, alle drei Jahre organisiert sie eine Zusammenkunft.
Im Februar hat sich zusätzlich eine Projektgruppe auf der Karlshöhe gebildet, um der Vergangenheit mehr Raum zu geben. Annelen Schünemann und Adelheid Schweigert sowie Wolfgang Bahr gehören als ehemalige Heimkinder dazu, frühere und heutige Mitarbeiter sind auch dabei. Als erster Schritt wurde eine Umfrage über das Interesse an der Gruppe an 170 Adressen verschickt, die Antworten sollten bis heute abgegeben werden. "Uns ist es wichtig, die Zeit zu würdigen und die Auswirkungen zu bewerten", erklärt Hans Fischer. Geplant ist, mit einer Universität oder einer Fachhochschule diesen Teil der Karlshöher Geschichte zu untersuchen. Ende des Jahrs findet noch ein großes Ehemaligentreffen statt. Und 2009 sollen bei einem Tag der öffentlichen Erinnerung die Ergebnisse der Aufarbeitung vorgestellt werden. "Das Projekt soll allen helfen, die noch an der Vergangenheit knabbern", erklärt Adelheid Schweigert, "damit sie loslassen können."
Kindheitserinnerungen: Adelheid Schweigert und Annelen Schünemann vor dem ehemaligen Mädchenhaus auf der Karlshöhe Foto factum/Stollberg
©2007 Stuttgarter Zeitung

Lippische-Landes-Zeitung
19.Juli 2007
Wir hatten keine Rechte

MDR.DE
12. Juli 2007 |

Einzelhaft und Zwangsarbeit
Fürsorgeerziehung in Deutschland

MDR FERNSEHEN Do, 12.07.2007 22:35 Uhr
Film von Uli Veith

Tausende von Jugendlichen wurden in den sechziger Jahren in Heimen staatlicher und kirchlicher Trägerschaft eingesperrt und zu Arbeit ohne Lohn und Sozialversicherung herangezogen. Dass ihnen die Zeiten im Heim heute nicht zur Rente angerechnet werden, ist nur eine Folge.

Weil er seinen Pflegeeltern wegläuft, kommt der 17-jährige Michael Hofmann ins Fürsorgeheim der evangelischen Diakonie Freistatt. Kaum angekommen, wird er in eine Zelle gesperrt - Fluchtgefahr! Harte Arbeit und Strafen bestimmen auch den Alltag im staatlichen Heim Kalmenhof in Idstein, wo der 14-jährige Hans-Peter Junge eingesperrt ist und schwer misshandelt wird. Nachbarn denunzieren die Schwestern Elke und Regina Eppert. Regina ist zwar verheiratet, hat aber mit 15 Jahren bereits ein Kind, ihre 16-jährige Schwester Elke einen Freund. Die Schwestern kommen samt Kind ins katholische Vincenzheim nach Dortmund.

Viele der der ehemaligen Fürsorgezöglinge leiden bis heute an den psychischen Folgen ihres Heimaufenthaltes. Lange haben sie geschwiegen, gegenüber ihren Freunden, selbst gegenüber ihren eigenen Familien, aus Scham und Unverständnis über das, was ihnen damals angetan wurde. Uli Veith begleitet vier von ihnen in die Heime zurück, in denen sie damals eingesperrt waren. Ihre Erzählungen, ergänzt durch Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Diakonie, Vertretern von Caritas und Jugendamt, erinnern an eine Pädagogik, die Gewalt als Mittel einsetzte, und an ein fast vergessenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
© 2007 | MDR.DE

nah_dran | MDR FERNSEHEN
12.07.2007 | 22:35 Uhr

Einzelhaft und Zwangsarbeit
Ein Film von Uli Veith

Die Rückkehr in sein früheres Erziehungsheim nimmt Michael Hofmann sehr mit.
Tausende von Jugendlichen wurden in den sechziger Jahren in Heimen staatlicher und kirchlicher Trägerschaft eingesperrt und zu Arbeit ohne Lohn und Sozialversicherung herangezogen. Dass ihnen die Zeiten im Heim heute nicht zur Rente angerechnet werden, ist nur eine Folge.
 
Michael Hofmann steht noch einmal in der Zelle, in der er als Jugendlichen oft eingesperrt war.
Denunziert und eingesperrt
Weil er seinen Pflegeeltern wegläuft, kommt der 17-jährige Michael Hofmann ins Fürsorgeheim der evangelischen Diakonie Freistatt. Kaum angekommen, wird er in eine Zelle gesperrt - Fluchtgefahr! Harte Arbeit und Strafen bestimmen auch den Alltag im staatlichen Heim Kalmenhof in Idstein, wo der 14-jährige Hans-Peter Junge eingesperrt ist und schwer misshandelt wird. Nachbarn denunzieren die Schwestern Elke und Regina Eppert. Regina ist zwar verheiratet, hat aber mit 15 Jahren bereits ein Kind, ihre 16-jährige Schwester Elke einen Freund. Die Schwestern kommen samt Kind ins katholische Vincenzheim nach Dortmund.
 
Die Schwestern Elke und Regina erzählen heute von ihren schlimmen Erfahrungen im katholischen Vincenzheim in Dortmund.
Betroffene brechen Schweigen
Viele der ehemaligen Fürsorgezöglinge leiden bis heute an den psychischen Folgen ihres Heimaufenthaltes. Lange haben sie geschwiegen, gegenüber ihren Freunden, selbst gegenüber ihren eigenen Familien, aus Scham und Unverständnis über das, was ihnen damals angetan wurde. Uli Veith begleitet vier von ihnen in die Heime zurück, in denen sie damals eingesperrt waren. Ihre Erzählungen, ergänzt durch Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitern der Diakonie, Vertretern von Caritas und Jugendamt, erinnern an eine Pädagogik, die Gewalt als Mittel einsetzte, und an ein fast vergessenes Kapitel der deutschen Nachkriegsgesellschaft.

 
Pressetext-ddp
11. Juli 2007

Albtraum Erziehungsheim
Neues Buch vom Engelsdorfer Verlag

Leipzig (pts/11.07.2007/13:00) - Das Buch "Albtraum Erziehungsheim - Die Geschichte einer Jugend" führt zurück in die Jahre 1968 bis 1973. In dieser Zeit stand der Autor Dietmar Krone (53) unter staatlicher Fürsorge. Für seinen konkreten Fall war die sogenannte Fürsorgeerziehung angeordnet. Mit einfachen Worten, ohne konstruierte Spannungsbögen, beschreibt er sein Leben hinter den Mauern eines Erziehungsheims in Viersen-Süchteln. Die Existenz der dort unter "staatlicher Betreuung" stehenden Jugendlichen bestand aus Arbeit, Demütigung, Prügel und Vergewaltigung. Während sich in der restlichen, freien Bundesrepublik das Wirtschaftswunder abspielte, arbeiteten in dem nordrhein-westfälischen Jugenderziehungsheim Kinder für 4 Pfennig die Stunde. Sie montierten Rasierapparate oder fertigten Teile für bekannte deutsche Haushaltsgeräte-Hersteller. In einem Interview berichtet der Autor: "Als ich einmal zwei Teller fallen ließ, wurde ich von einem betrunkenen Erzieher zusammengetreten. Dabei brach mein Schultergelenk und ich hatte Muskel- und Sehnenabrisse. Statt ärztlicher Behandlung bekam ich drei Tage Dunkelzelle. An den Folgen leide ich bis heute."
Am 11. 12. 2006 fand vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Anhörung ehemaliger Heimkinder statt. Sie war das erste Resultat einer Petition, die der Verein ehemaliger Heimkinder e. V. eingereicht hatte. Darin ging es um eine Reihe von Forderungen wie beispielsweise die Anerkennung betroffener ehemaliger Heimkinder als Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Auch die Finanzierung von Langzeittherapien und finanzielle Konsequenzen durch vorenthaltene Sozialbeiträge wurden darin aufgeführt. Seit April diesen Jahres gibt es einen Fraktionsbeschluss von Bündnis 90 / Die Grünen, der eine Stiftung "Ehemalige Heimkinder" vorschlägt.

Zum Autor: Dietmar Krone wurde 1954 in Remscheid geboren. Nach der Zeit in Erziehungsheim und Nervenklinik kam er 1973 nach Berlin. Hier eröffnete er einen Kunsthandel und arbeitete dort bis zu seiner frühen Berentung.

Über den Engelsdorfer Verlag: Der 2001 gegründete Verlag veröffentlichte bisher knapp 1.000 Bücher von über 650 Autoren. Kern des Unternehmenskonzepts ist die auflagenabhängige Wahl des Herstellungsverfahrens. Durch laufend modernisierte Digitaldrucktechnik können auch kleine Auflagen effizient und mit wenig wirtschaftlichem Risiko hergestellt werden. Die auflagenstärkeren Titel entstehen im Offsetdruck.

Diese Meldung wurde von pressetext.deutschland ausgedruckt und ist unter http://www.pressetext.de/pte.mc?pte=070711017 abrufbar.

Albtraum Erziehungsheim. Die Geschichte einer Jugend
Dietmar Krone

ISBN 978-3-86703-323-7
10,00 Euro (D), Taschenbuch 145 Seiten
Engelsdorfer Verlag
www.engelsdorfer-verlag.de

Holsteinischer Courier
5. Juli 2007

Wie viele Selbstmorde gab es in den Heimen?

Kiel/Glückstadt / tnn - Wurden die Jugendlichen im Landesfürsorgeheim Glückstadt systematisch bewacht, bestraft und isoliert? Wie viele Selbstmorde hat es unter den Heranwachsenden gegeben? Ein Bericht unserer Zeitung über das Schicksal ehemaliger Heimkinder löste zahlreiche Fragen und Reaktionen aus. Viele Betroffene meldeten sich.

Von den 50er bis in die 70er Jahre wurden Tausende Heranwachsende in vielen kirchlichen und staatlichen Heimen in der Bundesrepublik geschlagen, gedemütigt, missbraucht. Aus Scham haben sie all die Jahre geschwiegen. Einige möchten ihre Identität bis heute nicht preisgeben. Aber sie haben den Mut, über ihr Schicksal zu sprechen.

"Wir wollen, dass sich das Land bei uns entschuldigt", sagt Otto Behnck (55), ehemaliges Heimkind aus Schwedeneck. Weitere Forderungen der ehemaligen Heimkinder: Eine wissenschaftliche Aufarbeitung und eine Anhörung im Landtag.
Bei Sozialministerin Dr.Gitta Trauernicht stießen sie mit ihren Forderungen auf Entgegenkommen. Anfang der Woche lud die Ministerin die ehemaligen Heimkinder zu einem persönlichen Gespräch. "Die Heim-Unterbringung von Kindern der 50er und 60er Jahre gehört zu den dunkelsten Kapiteln in der Geschichte der Fürsorgeheime. Gemeinsam mit den Betroffenen werde ich eine umfassende Aufarbeitung dieser Zeit in Schleswig-Holstein einleiten. Dafür konnte ich Professor Schrapper von der Universität Koblenz gewinnen, der auf diesem Gebiet bundesweit einer der qualifiziertesten Forscher ist. Eine solche Schwarze Pädagogik, wie sie damals praktiziert wurde, darf nie wieder eine Chance bekommen", sagte Trauernicht.

"Das Gespräch lief sehr positiv", bestätige Michael-Peter Schiltsky, Geschäftsführer des Vereins ehemaliger Heimkinder. Entgegen bisheriger Äußerungen ist inzwischen auch bekannt, dass im Landesarchiv Akten über das Fürsorgeheim archiviert werden.

Berliner Zeitung
30.06.2007

Spuren, die ins Heim führen
Torsten Harmsen

Manchmal klagt die Tochter über ihren Geschichtsunterricht. Dann erfährt man, wie wenig Schüler heute oft über Zusammenhänge wissen, wie fremd und fern historische Blöcke dastehen, als wären sich nicht auch gelebtes Leben, vergangene Hoffnungen, Tränen, Leiden, Freuden, kurz, der Boden, auf dem wir stehen: "die Römer", "die Germanen", "das Mittelalter", "die NS-Zeit, "die DDR". Trockene, uninteressante Lehrformen, die Angst davor, Zusammenhänge zu zeigen (man will den Schülern keine falschen Schlüsse aufdrängen, also zieht man gar keine) - all das führt dazu, dass Geschichte als etwas erscheint, das einen selbst überhaupt nichts angeht.
Doch es gibt auch ganz andere Wege. In dieser Woche ehrte der Berliner Senat zum Beispiel die Landessieger im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Diesen Wettbewerb gibt es seit 1973. Mehr als 110 000 Schüler haben sich schon daran beteiligt, und er beschäftigte sich mit den unterschiedlichsten Themen: der Arbeitswelt, der Technik, Mensch und Tier, dem Alltag im Nationalsozialismus, mit Denkmälern, Aus- und Einwanderern. In diesem Jahr nun ging es um "Jung und Alt in der Geschichte". Bundesweit nahmen 5 000 Schüler daran teil. Viele von ihnen waren eher zufällig auf Themen gestoßen, die ihnen plötzlich historische Welten in ihrer nächsten Umgebung öffneten.
Christina Dornbusch zum Beispiel hatte Artikel über über ehemalige Heimkinder gelesen, die in den 50er- und 60er-Jahren Misshandlungen in kirchlichen und staatlichen Anstalten erleiden mussten und vor dem Petitionsausschuss des Bundestages darüber aussagten. Die Schülerin der 12. Klasse der Romain-Rolland-Oberschule erinnerte sich, dass es ja ganz in ihrer Nähe auch ein Kinderheim gab: das Elisabethstift in Hermsdorf. "Mir ist aufgefallen, wie wenig ich eigentlich über die Erziehung im Kinderheim weiß", sagt sie. Sie meldete sich dort, interviewte ehemalige Heimkinder und Erzieher, lernte viel über die Wandlung der Erziehungsauffassungen - auch wenn es Gott sei Dank in "ihrem" Heim keine so schlimmen Auswüchse gegeben hatte. Sie erfuhr, wie sich Verhältnisse verändern, wie Menschen lernen, wie sich die Rolle der Familie wandelt. Hatte sie Anfangs noch Hemmungen, Interviews zu führen, sich ans Schreiben zu machen, so wurde sie nach und nach sicherer. "Ich lernte, wie man sich Informationen selbst sucht", sagt sie. Oder dass sich so eine Arbeit "wie ein Kartenhaus" aufbaut.
Die Schülerin Giordana Dunkhorst, auch eine Siegerin, schrieb über jugendliche DDR-Flüchtlinge um 1980, fragte nach ihren Gründen, dem Leben im System, den Folgen der Flucht. Fünftklässler der Spartacus-Grundschule in Friedrichshain wiederum beschäftigten sich auf ihre Art - in einem Tagebuch mit Texten, Gedichten, Fotos - mit der NS-Vergangenheit.
Geschichte - das sind wir, und zwar schon morgen. Und wir hoffen, dass es dann auch noch Kinder gibt, die sich - auf welchem Weg auch immer - für uns interessieren.

Kieler Nachrichten
27 Juni 2007

Im Namen der Fürsorge pdf

Evangelischer Pressedienst (epd)
20.06.2007

Ehemalige misshandelte Heimkinder fordern öffentliche Debatte

Düsseldorf. Ehemalige Heimkinder in Deutschland haben am Dienstagabend die Anerkennung als Opfer von Menschenrechtsverletzungen gefordert. Bei einer Veranstaltung in der Düsseldorfer Fachhochschule sprachen sie sich zudem für eine öffentliche Anhörung ihrer Belange im Bundestag aus.

Die Veranstaltung unter dem Titel «Schläge im Namen des Herrn» beschäftigte sich mit der lange Zeit in Westdeutschland verdrängten Geschichte der Heimkinder.

Der Erziehungswissenschaftler Manfred Kappeler warnte vor einem Rückfall in der Fürsorge-Erziehung. Derzeit gebe es in Politik und Gesellschaft starke Tendenzen, die jetzigen Standards im Bereich der Jugendhilfe wieder auszuhöhlen.

Der emeritierte Professor für Erziehungswissenschaft kritisierte Forderungen nach mehr Strenge in der Erziehung und nach geschlossenen Einrichtungen für angeblich «nicht erziehbare» junge Menschen. Bis in die 70er Jahre wurden laut Kappeler mehr als eine halbe Million Kinder und Jugendliche in kirchlichen und staatlichen Heimen oft seelisch und körperlich misshandelt sowie als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.

Der Autor Peter Wensierski, der mit seinem Buch «Schläge im Namen des Herrn» die Schicksale zahlreicher Heimkinder aufgedeckt hatte, warf der Jugendhilfe vor, nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte Kindern und Jugendlichen «größtes Unrecht» angetan zu haben. Wensierski schätzt, dass vielleicht bis zu eine Million junger Menschen durch diese Einrichtungen gingen. Viele von ihnen leiden nach den Worten des Journalisten noch heute unter dem Erlebten, verschwiegen allerdings meist diesen Teil ihres Lebens aus Scham, selbst gegenüber Angehörigen.

Regina Eppert, die als Betroffene den Verein ehemaliger Heimkinder gründete, kritisierte, dass auch nach Jahrzehnten die Opfergeschichte nicht anerkannt worden sei. Obwohl sie manchmal jahrelang in den Einrichtungen arbeiten mussten, werde den ehemaligen Heimkindern diese Zeit nicht für ihre Rentenanwartschaft angerechnet.

Karlshöhe Ludwigsburg
Öffentlichkeitsreferat

Auf der Karlshöhe 3
71638 Ludwigsburg

Juni 2007

Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren
Die Kinderheimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts steht im Mittelpunkt einer Projektgruppe der Karlshöhe Ludwigsburg.
Das SWR-Fernsehen berichtete in der letzten Woche im Rahmen der Sendung "Landesschau unterwegs" davon. Filmautor Jochen Loebbert verbrachte für seine gründliche Recherche auch vier Tage auf der Karlshöhe und im landeskirchlichen Archiv.
Im 30-Minuten-Bericht spielte neben zwei weiteren Einrichtungen die Karlshöhe Ludwigsburg eine Rolle. So kommt Wolfgang Bahr zu Wort, der von 1958 bis 1967 hier lebte, nachdem seine Mutter nicht mehr in der Lage war, für ihn zu sorgen und der Vater, der dem NS-Regime widerstand, als Funktionär in der DDR verschwand.

Seine schweren Kinderjahre mündeten in ebenso belastende Erfahrungen während seiner Zeit im Karlshöher Kinderheim.
Die Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg ist bereits seit 2006 im Gespräch mit ehemaligen Kinderheimbewohner/innen, um dem Thema der Heimerziehung in jener Zeit Raum zu geben. Im Februar 2007 hat sich eine Projektgruppe gebildet, zu der sowohl ehemalige Mitarbeiter/innen als auch ehemalige Kinderheimbewohner/innen gehören.

Bis 2009 will die Gruppe jener Zeit nachgehen: Was waren die Ursachen für die belastenden Erfahrungen? Wie kam es dazu, dass Kinder schlecht behandelt wurden?
Warum waren Erzieher/innen oft überfordert und sind ausgerastet? Welche langwierigen Folgen hatte dies für das spätere Leben der Kinder? Welche Erziehungssysteme und Rahmenbedingungen standen im Hintergrund?

Im Bericht wird am Beispiel einer Jugendlichen deutlich, wie die Karlshöher Jugendhilfe heute arbeitet: Mit modernen pädagogischen Konzepten, mit fachlich ausgebildeten und christlich geprägten Mitarbeiter/innen, mit maßgeschneiderten Angeboten und mitten im Ort, verteilt im Landkreis Ludwigsburg und darüber hinaus. Gleichzeitig
jedoch immer wieder eingeengt und herausgefordert durch Geldkürzungen, kurzfristige Projektfinanzierungen, ständig wechselnde Vorgaben, wachsende Konkurrenz.

Zur Geschichte
Die Karlshöhe Ludwigsburg wurde 1876 von evangelischen Christen als „Brüder und Kinderanstalt“ gegründet. Die Kinder – das waren Jungen und Mädchen ohne Zuhause aus Ludwigsburg und der Umgebung. Die Brüder (später Diakone) – das waren die christlichen Pädagogen, die den Kindern das verloren gegangene Zuhause ersetzen sollten.

Vorbild für die Gründung war das von Johann Hinrich Wichern in Hamburg geschaffene „Rauhe Haus“. Nach dem Konzept des Theologen wurden vernachlässigte und verwaiste Kinder im Gegensatz zu den üblichen Standards in kleineren, familienähnlichen Gruppen untergebracht. „Brüder“, später „Diakone“ genannt, übernahmen ihre Betreuung und wurden dazu vor Ort pädagogisch und theologisch ausgebildet.

So wurde es dann auch auf der Karlshöhe praktiziert: Während Kinder zuvor
im Ludwigsburger Mathildenstift in riesigen Schlafsälen untergebracht waren,
konnten die Jungen und Mädchen in den neu gebauten Häusern auf der Karlshöhe in Gruppen von „nur“ noch 20 Kindern wohnen. Gleichzeitig stand mehr pädagogisches Personal zur Verfügung.

Dem Zeitgeist entsprechend waren Kinder wie auch Diakone über die nächsten
Jahrzehnte dazu verpflichtet, in der Hauswirtschaft, auf den Feldern und den technischen Diensten mitzuarbeiten.

Zur Projektgruppe
Die Projektgruppe zur Kinderheimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts trifft sich im Juni zum dritten Mal.
Seit vielen Jahren schon gibt es eine Ehemaligen-Gruppe von rund 10 Personen, die sich regelmäßig trifft und alle drei Jahre ein Ehemaligen-Treff organisiert, an dem rund 30 Personen teilnehmen.

Mitglieder
Neben drei ehemaligen Heimkindern (zwei Frauen, ein Mann) gehören zur Projektgruppe drei ehemalige Mitarbeiter dazu (zwei Heimleiter und eine Lehrerin aus jener Zeit) sowie der jetzige Leiter der Kinder- und Jugendhilfe (Diakon Hans Fischer), der Öffentlichkeitsreferent (Diakon Jörg Conzelmann) und der Theologische Leiter der Stiftung Karlshöhe Ludwigsburg (Pfarrer Frieder Grau).

Ziel
Ziel ist die Reflexion jener Zeit, die Dokumentation und die Suche nach Ansätzen für die Aufarbeitung.
Vorhaben
So soll ein Partner gefunden werden (Fachhochschule, Universität), der diesen Teil der Karlshöher Geschichte anhand einer Diplomarbeit oder einer Promotion untersucht.
Unter den ehemaligen Bewohner/innen soll in einer Umfrage geklärt werden, wie stark das Interesse an einer Beteiligung ist. Ende 2008 soll der o. a. Ehemaligen-Treff um einen Tag und interessierte Ehemalige erweitert werden, um den Ehemaligen untereinander die Möglichkeit zur Begegnung, zum Austausch und zur Reflexion zu geben.

Im ersten Halbjahr 2009 soll bei einem „Tag der öffentlichen Erinnerung“ (Arbeitstitel) die Dokumentation der Öffentlichkeit vorgestellt und evtl. eine Ausstellung des landeskirchlichen Archivs und des landeskirchlichen Museums eröffnet werden. (Seit April werden vom landeskirchlichen Archiv die Akten des Kinderheims aufgearbeitet und verzeichnet. Bereits im Jahr 2006 wurden die Akten der Karlshöher Diakone verzeichnet.)

Bisherige Veröffentlichungen
30-minütiger Fernsehbeitrag im Südwestrundfunk, Bericht in der Stuttgarter Zeitung
Koordination der Projektgruppe
Diakon Jörg Conzelmann (Urlaub bis 11. Juni 2007)
Tel. (07141) 965 115
conzelmann@karlshoehe.de

Forum für Kinder- und Jugendarbeit
18. Juni 2007

Kinder und Jugendliche haben Rechte
Texte u. a. von :
Professor Dr. Manfred Kappeler -
Text
Manuel Essberger
Dr. Eckhard Schiffer
Stefan Strauch
www.kirisk.de
Dr. Havva Engin
Michael-Peter Schiltsky -
Text

kobinet-nachrichten
09.06.2007

Schläge im Namen des Herrn

Düsseldorf (kobinet) Unter dem Titel "Schläge im Namen des Herrn" wird am 19. Juni an der Fachhochschule Düsseldorf ein verdrängtes Kapitel in der Heimerziehung der Bundesrepublik beleuchtet. Eingeladen wurde dazu Spiegel-Autor Peter Wensierski, dessen gleichnamiges Buch erst in den letzten Monaten öffentlich bekannt machte, wie die Heimkinder der 50er bis 70er Jahre unter teilweise massiven Misshandlungen und Diskriminierungen zu leiden hatten.

Erst Jahrzehnte später kommt nun heraus, wie flächendeckend und systematisch diese Missstände waren. Viele Betroffene haben Jahrzehnte über ihre Erlebnisse geschwiegen, beteiligte Einrichtungen sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weigern sich bis heute, sich ihrer Mitverantwortung zu stellen.

In Anwesenheit des Autors, zweier Betroffener sowie Prof. Dr. Manfred Kappeler soll nun dieses verdrängte Kapitel der Heimerziehung nicht zuletzt mit der Frage diskutiert werden, welche Konsequenzen sich für die heutige Kinder- und Jugendhilfe ableiten lassen.

Die Semesterabschlussveranstaltung wird organisiert vom Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf in Kooperation mit dem Forschungsschwerpunkt "Rechtsextremismus und Neonazismus". sch

Mehr auf www.schlaege.com

© Kooperation Behinderter im Internet e.V.
URL: http://www.kobinet-nachrichten.org


Schleswig-Holsteinische-Zeitung

30. Mai 2007 

"Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim"

Glückstadt / sh:z - Einweisungsgrund: Sittliche Verwahrlosung. So muss es in den Papieren der Behörden gestanden haben. "Ich hatte keine Straftat begangen", sagt Otto Behnck (55) mit Nachdruck. Eigentlich hatte er nur ein anderes Leben führen wollen als seine Eltern. Eingesperrt wurde er als 18-Jähriger trotzdem. Von Oktober 1970 bis Januar 1971 war Behnck im Landesfürsorgeheim in Glückstadt.

Was Otto Behnck dort erlebte, mussten viele Heimkinder der 50er und 60er Jahre erleiden. Noch bis in die frühen Siebziger wurde in vielen kirchlichen und staatlichen Heimen geschlagen, gedemütigt, missbraucht. Aus Schleswig-Holstein waren bisher noch keine Fälle bekannt. Jetzt aber gerät auch das ehemalige Landesfürsorgeheim in Glückstadt in die Kritik.

Otto Behnck will, dass darüber gesprochen wird. Leicht fällt es ihm nicht. Eigentlich wollte er mit 18 nur ein bisschen das Leben genießen. Er lässt sich die Haare lang wachsen, bricht die Ausbildung ab, jobbt, lebt in einer Wohngemeinschaft, verbringt einige Monate in Dänemark.
Die Eltern in Bargteheide (Kreis Stormarn) sind entsetzt und informieren das Kreisjugendamt in Bad Oldesloe. Er hat ihre Mahnungen noch in den Ohren. "Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim." Sie wollen, dass ihr Sohn "wieder in die Gesellschaft eingegliedert wird". Als Behnck eines Tages nach Hause kommt, um Papiere abzuholen, lassen die Eltern ihn von der Polizei abführen. "Die haben mich auf direktem Weg nach Glückstadt gefahren", sagt der Markthändler.

Harte Arbeit wartet dort auf ihn. Sechs Tage die Woche knüpft er Fischernetze. Geld gibt es dafür nicht. Kontakt zur Außenwelt auch nicht. Prügel dafür jede Menge. Otto Behnck: "Du merkst nur die ersten zwei, drei Schläge, danach hörst du es nur noch klatschen". Mit Zucht und Ordnung sollte aus Behnk und tausenden anderen Kindern in westdeutschen Heimen bessere Menschen gemacht werden. Erziehungsmethoden, die weder Widerspruch noch Ungehorsam dulden. Dreimal versucht Behnk auszubrechen. Einmal wird er zur Bestrafung in die Isolierzellen im Keller gesperrt. Otto Behnck will eine Entschuldigung vom Land. Er will, dass Akten offen gelegt und das Unrecht anerkannt wird, das ihm und vielen anderen damals widerfahren ist.

Auch in dem Buch des Spiegel-Autoren Peter Wensierski - "Schläge im Namen des Herrn" - gibt es eine Passage über das Landesfürsorgeheim in Glückstadt. Dort ist von einem Aufstand der Jugendlichen gegen die Heimbedingungen die Rede. Er soll von der Polizei mit Tränengasgranaten niedergeschlagen worden sein. "Es liegt der Verdacht nahe, dass das Landesfürsorgeheim zu den schlimmsten in Deutschland gehört hat", sagte Wensierski gegenüber unserer Zeitung. "Das Land Schleswig-Holstein trägt die Verantwortung dafür. Es muss dringend aufgeklärt werden, was dort passiert ist."

Verschiedene Quellen erwähnen Selbstmorde unter den "Zöglingen". Auch die damalige "Kreisrundschau" berichtet 1969 über die Zustände in Glückstadt. Gegenüber dem "Spiegel" bekundete das Sozialministerium Ende der 60er Jahre, die Lage in Glückstadt wäre "nicht ideal", aber "notwendig".

"Wir haben die anfangs geschlagen und was weiß ich was", sagt ein ehemaliger Erzieher, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der 80-Jährige, der von 1960 bis 1975 dort arbeitete, bestätigt, dass Gewalt als Erziehungsmethode angewendet wurde. "Das waren ja alles schwer erziehbare Jugendliche, die musste man unter Verschluss halten, das waren Kriminelle."

Akten gibt es nach Auskunft des Sozialministeriums über das ehemalige Landesfürsorgeheim keine mehr. Die Aufbewahrungsfrist sei abgelaufen. "Das Schicksal dieser Heimkinder ist aber ein ganz Besonderes. Es berührt mich noch heute", sagt Ministerin Gitta Trauernicht.     "Wenn diese Menschen mit einer heute in der politischen Verantwortung stehenden Person sprechen möchten, stehe ich zur Verfügung."

Tanja Nissen

"Schläge im Namen des Herrn"

"Wertvolle Mitglieder der Gesellschaft" sollten sie werden. Dafür wurden sie eingesperrt, schikaniert und zu Schwerstarbeit gezwungen. Die Heimkinder der bundesdeutschen Nachkriegsära erzählen auch heute nur ungern über ihre Kindheit, denn oft war sie qualvoll und mit sozialer Ächtung verbunden. Spiegel-Reporter Peter Wensierski hat in seinem Buch "Schläge im Namen des Herrn" die "verdrängte Geschichte" der Heimkinder ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Inzwischen hat sich auch der Bundestag damit beschäftigt. Die Grünen-Fraktion im Bundestag fordert die Errichtung einer Bundesstiftung, die Entschädigungen an ehemalige Heimkinder zahlen soll. (lno)

Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik. Deutsche Verlags-Anstalt, 19,90 Euro

Kontakt Otto Behnck: www.landesfuersorgeheim-glueckstadt.de, Tel: 04308/183747

PRESSEMITTEILUNG der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN

NR. 0470
25. April 2007


Gerechtigkeit für ehemalige Heimkinder

In Heimen der 50er und 60er Jahre herrschten teilweise katastrophale Zustände. Besonders in den sogenannten Fürsorgeheimen hat es systematische Misshandlungen von Kindern und Jugendliche gegeben. In vielen Heimen gab es
eine vollständige Reglementierung des Tagesablaufes und aller sozialen Kontakte, körperliche Züchtigung war eine gängige Erziehungsmethode.
Heimzöglinge wurden teilweise zu schweren Arbeiten herangezogen und der Zugang zu Bildung wurde ihnen verwehrt.

Das Erfahrene wiegt für die Betroffenen schwer. Das wurde bei einer Anhörung des Petitionsausschusses deutlich, in der ehemalige Heimkinder berichteten.
Viele leiden bis heute unter den Geschehnissen. Für sie bedeutet der Heimaufenthalt eine schwere Hypothek für ihr Leben. Einige von ihnen haben sich jetzt im Verein Heimkinder e.V. zusammengeschlossen, um eine Aufarbeitung ihrer Geschichte voran zu bringen.

Wir sind der Auffassung, dass die Aufarbeitung der beschriebenen Missstände eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft ist. Wir sehen Bund und Länder, sowie die kirchlichen und anderen Träger von Heimen in der Pflicht, ihren Beitrag zu leisten.

In unserem Eckpunktepapier schlagen wir folgende Maßnahmen vor:

? Die historische Aufarbeitung:

Erkenntnisse über die Situation in den Heimen müssen vertieft und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

? Die Rehabilitierung der Opfer:

Die Träger der Heime müssen sich ihrer Verantwortung stellen und sich entschuldigen. Wir setzen uns außerdem dafür ein, dass der deutsche Bundestag eine Entschließung verabschiedet, in der er das geschehene Unrecht anerkennt.

? Die Einrichtung einer Stiftung zur Entschädigung der Opfer:

Die Stiftung soll Entschädigung leisten und den Betroffenen eine
therapeutische Behandlung und Aufarbeitung ermöglichen. Finanziert werden soll die Stiftung von Bund, Ländern und den Trägern beziehungsweise ehemaligen Trägern der Heime.

Das Eckpunktepapier "Gerechtigkeit für Heimkinder" finden Sie unter:
http://www.gruene bundestag.de/cms/beschluesse/dokbin/180/180420.pdf

(c) Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN

Der Tagesspiegel
24.04.2007          

Grüne fordern Entschädigung für Heimkinder

Berlin - Die Grünen wollen ehemaligen Heimkindern Gerechtigkeit widerfahren lassen und fordern deshalb eine neue Bundesstiftung, die Entschädigungen zahlt und Hilfe leistet. „Mehr als eine halbe Million Menschen sind im Deutschland der 50er und 60er Jahre in solchen Einrichtungen unter gruseligen Bedingungen eingesperrt worden“, sagte Fraktionschefin Renate Künast dem Tagesspiegel: „Der Bundestag muss das Unrecht, das ihnen angetan wurde, anerkennen, ihre Geschichte muss aufgearbeitet und sie selbst müssen entschädigt werden.“ Ein Antrag der Grünen, den die Fraktion am Dienstag verabschieden will, sieht vor, dass Staat sowie Kirchen und Wohlfahrtverbände als Träger der Heime die Stiftung finanzieren.

Der Bundestag solle ausdrücklich feststellen, „dass Menschen bis in die Mitte der 70er Jahre durch Heimunterbringung systematisch Entwürdigung und Misshandlung unterworfen waren“, forderte die Grünen-Politikerin. „Mit ein paar Anhörungen des Bundestages geben wir uns da nicht zufrieden“, sagte Künast: „Viele der ehemaligen Heimkinder leiden noch heute unter massiven psychischen und körperlichen Misshandlungen und manchmal auch unter sexuellem Missbrauch.“ Zugleich appellierte sie an die Träger der Heime, „sich ihrer Verantwortung zu stellen und sich für das Unrecht zu entschuldigen“.

Nach Ansicht Künasts bildeten körperliche Züchtigung und Gewalt „eine der entscheidenden Grundlagen der Erziehung in den Heimen“. Es sei deshalb richtig, den inzwischen abgeschafften Fürsorgeheimen eine „Anstaltserziehung mit Gefängnischarakter“ zuzuschreiben. Die Erziehungsmethoden seien selbst nach den Maßstäben der 50er Jahre „brutal und menschenrechtswidrig“.

Die Stiftung „Ehemalige Heimkinder“ soll Entschädigungen leisten und finanzielle Ansprüche von traumatisierten Menschen erfüllen sowie Unterstützung wie etwa ärztliche oder therapeutische Hilfe bezahlen.hmt

Paritätischer Rundbrief - Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin
April 2007

Dietmar Krone im Interview

Dietmar Krone (53) war auf richterliche Anordnung von 1968 bis 1973 wegen „sittlicher Verwahrlosung“ im staatlichen Jugenderziehungsheim Viersen-Süchteln untergebracht und wurde dort schwer misshandelt. Als 20-Jähriger zog er nach Berlin. Seit einem Jahr engagiert er sich in der bundesweiten Initiative Verein ehemaliger Heimkinder e.V.

Herr Krone, vor einem guten Jahr erschien das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski. Darin beschreibt der „Spiegel“-Redakteur die katastrophalen Missstände in den kirchlichen und staatlichen Heimen im Wirtschaftswunderland Deutschland. Bitte schildern Sie kurz Ihre eigene Geschichte.
Dietmar Krone: Die familiären Verhältnisse bei uns zuhause waren eine Katastrophe und die Ehe meiner Eltern war die Hölle. Ich war kein Wunschkind und nachdem mein Vater gestorben war, fühlte sich meine Mutter bei ihren Männerbekanntschaften durch mich gestört. Als ich 14 war, holte mich die Polizei und führte mich in Handschellen ab. Nach drei Tagen kam ein Mann in meine Zelle und verkündete im Namen des Volkes: „Der minderjährige Dietmar Krone, geb. am 10.05.1954, wird auf Grund sittlicher Verwahrlosung, bis zur Vollendung seines 21. Lebensjahres, in eine geschlossene Erziehungsanstalt eingewiesen. Es ist Fürsorgeerziehung angeordnet.“
In Medienberichten ist die Rede von einer halben Million Kinder, die als Waisen oder „Schwererziehbare“ ähnliche Schicksale erlitten. Welche Erinnerungen haben Sie persönlich an das Heim in Süchteln?
Wieso man das überhaupt Heim nannte, habe ich nie verstanden, denn ein Gefühl von Geborgenheit oder Zuhausesein gab es dort nicht.
Wir mussten schwerste Kinderarbeit für einen Stundenlohn von 4 Pfennig leisten, an der sich der Heimträger bereichert hat. Unser Heim hat zum Beispiel Rasierapparate für „Braun“ montiert und für „Miele“ und „Rowenta“ gearbeitet. Rentenbeiträge wurden nicht eingezahlt, so dass mir heute fünf Jahre fehlen.
Das Schlimmste war aber die ständige Angst vor Prügeln und Vergewaltigungen. Heute ist belegt, dass in dieser Zeit nur vier Prozent der Erzieher eine pädagogische Ausbildung hatten. Ich erinnere mich an unsere Nachtwache, einen ehemaligen Seemann. Der suchte sich abends einen Jungen aus, gab ihm einen Pudding mit Valium und nahm ihn dann mit in sein Büro ...
Als ich einmal zwei Teller fallen ließ, wurde ich von einem betrunkenen Erzieher zusammengetreten. Dabei brach mein Schultergelenk und ich hatte Muskel- und Sehnenabrisse. Statt ärztlicher Behandlung bekam ich drei Tage Dunkelzelle. An den Folgen leide ich bis heute.
Wie konnte diese Erziehungspraxis so lange bestehen?
Es gab keinen Kontakt nach außen. Post wurde kontrolliert und wer floh und aufgegriffen wurde, wurde windelweich geprügelt und für zehn Tage in die Dunkelzelle gesperrt. Wenn Besuchergruppen zu uns ins Heim kamen, spielte man heile Welt. Dann wurden wir aus der Werkstatt geholt, tauschten unsere Arbeitskleidung gegen eigene Sachen, die Tische wurden eingedeckt und der Fernseher eingeschaltet. Sobald die Besucher weg waren, mussten wir die Zeit in der Werkstatt nacharbeiten.
Kinder, die wegen ihrer Traumatisierung nicht mehr ansprechbar waren, kamen in die geschlossene Psychiatrie. Wer von dort ins Heim zurückkam, war vogelfrei, weil er ja „aus der Klapse“ kam. Manche haben den Druck nicht ausgehalten und sich umgebracht. Nach der Entlassung wollte natürlich jeder die schrecklichen Erlebnisse so schnell wie möglich vergessen und was Neues anfangen.
Gibt es heute noch Chancen, dieses Unrecht zu ahnden?
Ich habe an den damaligen Heimträger geschrieben, den Landschaftsverband Rheinland. Der betreibt in Süchteln heute eine Einrichtung für geistig Behinderte. Meine Rentenansprüche kann ich nicht nachweisen, weil die Akten 1985 vernichtet wurden. Und von den damals verantwortlichen Erziehern lebt fast keiner mehr oder sie können sich an nichts erinnern. Es soll ja auch Heime gegeben haben, in denen Kinder nicht wie Gegenstände behandelt, gequält oder missbraucht wurden. Aber solche Misshandlungen waren eben auch keine Ausnahme.
Inzwischen sind die Berichte der damaligen Heimkinder so gut dokumentiert, dass die Heimträger das nicht mehr als Einzelschicksale oder Lügen abtun können. Es hat eben 30, 40 Jahre gebraucht, bis die Betroffenen ihre Scham überwunden haben und erzählen, wie es damals wirklich war.
Ihre Initiative hat sich mit einer Petition an den Deutschen Bundestag gewandt. Am 6. Dezember gab es dazu eine Anhörung. Was sind ihre Forderungen und wie geht es weiter?
Die Anhörung war für uns sehr vielversprechend und der Petitionsausschuss war sichtlich erschüttert von den Berichten. Die nächste Beratung soll am 16. Mai stattfinden. Möglicherweise wird ein Entschädigungsfonds gegründet, an dem sich zum Beispiel auch die Firmen beteiligen könnten, die damals von unserer Arbeit profitiert haben.
Ich bin seit einigen Jahren krebskrank und werde nicht mehr lange leben. Eine monatliche Rente wäre für mich eine große Unterstützung und steht mir ja auch irgendwie zu. Aber uns geht es nicht nur um finanzielle Wiedergutmachung, sondern wir wollen ein Wort der Entschuldigung hören. Das ist für die Verarbeitung wichtig, denn wir haben immer nur zu hören gekriegt: „Ein Heimzögling lügt. Ihr seid nichts wert.“ Unsere Forderungen sind, dass wir als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden und dass diese menschenverachtende Erziehungspraxis geächtet wird, damit so etwas Schreckliches nie wieder passieren kann.
Wie gehen ehemalige Heimkinder mit ihren Traumen um?
Wer so ein Heim hinter sich hatte, ist fürs Leben gezeichnet. Viele sind an ihrem Schicksal zerbrochen, auch weil sie überhaupt nicht auf das Erwachsensein vorbereitet wurden. Ich erinnere mich, dass ich Angst hatte, mit der U-Bahn oder dem Bus zu fahren, als ich nach Berlin kam. Das musste ich erst richtig lernen.
Außerdem haben viele, wie ich, keinen Schulabschluss machen können. Anfangs musste ich jede Beschäftigung annehmen, die sich mir bot. Wegen meiner Armverletzung aus dem Heim war das nur eingeschränkt möglich. Kein Arbeitgeber hätte einen Fürsorgezögling eingestellt. Deshalb habe ich den Leuten irgendwas erzählt von einer behüteten Kindheit und mich später selbstständig gemacht.
Für mich war die beste Therapie, alles aufzuschreiben. Drei Jahre lang habe ich an meinem Buch „Albtraum Erziehungsheim – Geschichte einer Jugend“ geschrieben, das in wenigen Wochen im Engelsdorfer Verlag erscheint. Ich werde zu Lesungen eingeladen und erzähle von der Zeit im Heim.
Wie reagieren ihre Zuhörer darauf?
Viele können nicht fassen, dass so etwas möglich war. Die Phantasie reicht nicht aus, um sich das vorzustellen. Das zeigen auch die Fragen, die dann gestellt werden, zum Beispiel, ob es keine Beschwerdestelle gab oder warum wir nicht einfach gegangen sind. Wir sind mit der Aufarbeitung ja noch ganz am Anfang.
Im Internet gibt es auch Foren von Betroffenen aus der ehemaligen DDR. Ihr Verein listet aber vor allem westdeutsche Einrichtungen auf. Welche Kontakte gibt es zu früheren DDR-Heimkindern?
Ich bin im Mai zu einer Lesung im Dokumentationszentrum Torgau eingeladen. Der Jugendwerkhof Torgau gehörte ja zu den berüchtigten Heimen in der DDR, die bis 1989 bestanden.
Die Praxis zeigt, dass es dort zwar ähnliche Strukturen gab. Aber sie dauerten 15 Jahre länger als in Westdeutschland und es war eben auch ein ganz anderer Staat mit anderen politischen Verhältnissen. Einige der ehemaligen DDR-Heimkinder sind aber bei uns im Verein organisiert.

Das Gespräch führte Martin Franke (c).

taz - die tageszeitung
11. 4. 2007

CDU gräbt Knute aus

Mit geschlossenen Heimen für straffällige Kinder und Pflichtkurse für ihre Eltern will Regierungschef Rüttgers die Kriminalität in NRW bekämpfen. Opposition spricht von "reinem Populismus"
VON NATALIE WIESMANN
Die Erziehungsmethoden des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten kommen nicht überall gut an. Jürgen Rüttgers (CDU) Forderung etwa, schwer erziehbare Kinder in geschlossenen Heimen unterzubringen, wird von der Opposition und ErziehungswissenschaftlerInnen als "populistisch" und als "Rollback in die 50er" verworfen.
Rüttgers hatte in einem Gastkommentar in der Bild am Sonntag angekündigt, härter gegen junge Straftäter vorgehen zu wollen: "So genannte Intensivtäter müssen zu spüren bekommen, dass wir ihr Verhalten nicht hinnehmen." Die Unterbringung in geschlossenen Heimen müsse auch für diejenigen gelten, die unter 14 Jahren, also nicht strafmündig sind.
Die Kölner Pädagogik-Professorin Elke Kleinau findet die Vorstellung von geschlossenen Einrichtungen unheimlich: "Das erinnert an die Heime der 60er und 70er, wo es viel Missbrauch und Misshandlung gab", sagt die Expertin für historische Pädagogik. Dies habe zur Heimrevolte geführt, die auch im Zusammenhang mit der Gründung der RAF gestanden hätte: "Ulrike Meinhof hat damals ihre Empörung über die Heimkinder niedergeschrieben", so Kleinau.
Auch die Forderung Rüttgers, für "Eltern mit gravierenden Erziehungsdefiziten" Pflichtkurse einzurichten, hält die Pädagogin für einen populistischen Schnellschuss: "Mit Zwang kann man Eltern nicht zum Erziehen bewegen", sagt Kleinau. Die Politik gebe immer schnelle Lösungen vor, die in der Pädagogik nicht angebracht seien. "Es laufen einige präventive Modelle, deren Wirkungen noch nicht erkennbar sind."
In Gelsenkirchen und Dormagen knüpfen zum Beispiel MitarbeiterInnen des Jugendamts durch einen "Begrüßungsbesuch" direkt nach der Geburt eines Kindes Kontakt zu den Eltern. In vielen Städten NRWs werden Erziehungsführerscheine angeboten oder Kurse, die sich "Starke Eltern, starke Kinder" nennen.
"Das ist aber alles freiwillig und das muss auch so bleiben", sagt Andrea Asch, jugendpolitische Sprecherin der Grünen im Landtag. Auch sie setzt auf Prävention: "Rüttgers soll die bestehenden Beratungsstellen für Erziehung besser ausstatten und nicht jedes Jahr den Haushalt dafür kürzen." Außerdem frage sie sich, wer eigentlich bestimmen soll, wer die schlechten und die guten Eltern sind. Auch SPD-Abgeordneter Thomas Kutschaty hält Rüttgers Idee für abwegig und unausgegoren: "Wie die Sanktionen aussehen könnten für Eltern, die sich der Pflicht verweigern, sagt der Ministerpräsident auch nicht."
All das müsste in einem Gesetzesentwurf stehen - den es aber noch nicht gibt. "Wir arbeiten bisher nicht an einem solchen Gesetz", heißt es aus dem zuständigen Jugend- und Familienministerium in Düsseldorf.
taz NRW Nr. 8247 vom 11.4.2007, Seite 1, 96 TAZ-Bericht NATALIE WIESMANN
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Kölner Stadt-Anzeiger
27.02.07

Reise in die schmerzliche Vergangenheit
VON CORINNA SCHULZ

Der Fall ist exemplarisch für ein dunkles Kapitel der Nachkriegsgeschichte.

Köln - Hans Klostermann zieht sich tief in den grauen Beifahrersitz zurück. Mit Tempo 230 rast der dunkelblaue Pkw über die Autobahn. Der 64-Jährige blickt starr nach vorne und fühlt den Knoten in seiner Magengrube. Mit jedem Kilometer rückt seine Vergangenheit näher - der Ort, an dem die Bilder entstanden, die ihn seit mehr als 40 Jahren verfolgen. Immer wieder hat er sich gefragt, wie es sein wird, noch einmal zurückzukehren - in die Diakonie Bad Kreuznach. Georg Scheffler, Pressesprecher der evangelischen Einrichtung, hält auf dem Hof und öffnet Hans Klostermann die Wagentür. Jetzt ist er dort, wo er nie wieder hin wollte.
Mehr als 13 Jahre hat der gebürtige Kölner in dem Heim in Rheinland-Pfalz verbracht. Einen Tag nach seinem achten Geburtstag im August 1950 wird der kleine Hansi, wie ihn alle nennen, in Kreuznach eingeliefert. Er leidet an Knochen-Tuberkulose, sein Rückgrat ist verkrümmt. Die evangelische Anstalt gilt damals als medizinisch führend auf dem Gebiet. Hansis Mutter lebt allein mit seinen vier Geschwistern in Köln-Mülheim. Der Vater hat die Familie nach dem Krieg verlassen, die junge Frau fühlt sich mit dem schwerkranken Sohn überfordert.
Die Heilung geht nur langsam voran, aber je besser die offenen Stellen am Rücken verheilen und Hansi am Heimalltag teilnimmt, umso mehr wird das Leben in der Anstalt für ihn zum Albtraum. Hinter den dicken Backsteinmauern führen die Diakonissen ein drakonisches Regiment. Prügel gibt es schon bei der kleinsten Verfehlung. „mit allem, was gerade greifbar war“, sagt Hans Klostermann - Holzlatten, Metallstangen, Schlüsselbunde und Stöcke. Wer sich in die Suppe, in der oft dicke Speckschwarten mit Haaren schwammen, erbricht, wird von den Ordensschwestern gezwungen, auch das Erbrochene zu essen.
„Gott liebt alle seine Geschöpfe“, predigen die Schwestern, nur Hans Klostermann und die anderen Kinder schien er irgendwie vergessen zu haben. „Wie kann man voll Inbrunst Barmherzigkeit und Nächstenliebe lehren und dann so zuschlagen?“ Oft sperrten die Nonnen ihn tagelang in ein dunkles Kellerloch. „Ich habe dann auf der kalten Kellertreppe gekauert, denn der einzige Lichtstrahl kam unter der Tür durch. Und weil ich eines der wenigen Kinder war, das nie Besuch bekam, weil meine Mutter kein Geld hatte, konnte ich auch niemandem von den Misshandlungen erzählen.“ Die vielen Briefe, die er nach Hause schreibt und in denen er seine Mutter bittet, ihn da rauszuholen, schickt die Heimleitung nie ab.
Die vielen Briefe der Mutter
Etwas zögerlich geht Hans Klostermann an diesem trüben Wintertag über den Vorplatz der über 100 Jahre alten Gebäude, in denen heute körperlich und geistig behinderte Menschen betreut werden. Das massive schwarze Tor, das in seiner Erinnerung immer verschlossen war, gibt es nicht mehr. Von der hohen Mauer mit den Glasscherben, steht nur noch ein Stück. Alles wirkt heller und offener als in seiner Erinnerung. Pfarrer Dietrich Humrich, Vorstand der Kreuznacher Diakonie und Rainer Jung, Leiter der Pädagogischen Abteilung, begrüßen das ehemalige Heimkind, das sie eingeladen haben. „Wir wollen offen mit unserer Vergangenheit umgehen und in dem für uns möglichen Maß Verantwortung übernehmen“, sagt Pressesprecher Scheffler. Das ist in Deutschland immer noch die Ausnahme. Fast alle Betreiber der damals rund 3000 kirchlichen und staatlichen Institutionen, in denen es nach dem Krieg bis weit in die 70er Jahre zu systematischen Misshandlungen kam, verschließen sich einer Aufarbeitung und weigern sich, ihre Archive zu öffnen.
Georg Scheffler übergibt Hans Klostermann zwei blaue Schnellhefter, eine Kopie seiner kompletten Akte. Er findet seine Zeugnisse, ärztliche Gutachten und die vielen Briefe, die seine Mutter ihm schrieb und die die Heimleitung damals zurückgehalten hat. Sie will wissen, ob er „schlimmes Heimweh habe“ und „schon viele Freunde gefunden habe“, „er über Weihnachten vielleicht nach Hause kommen möchte“ und vor allem, warum er nie schreibt. Es sind liebevolle Briefe und Hans Klostermann spürt die Tränen in sich hochsteigen. Bis zu ihrem Tod vor gut einem Jahr hat er seine Mutter für ihre Hartherzigkeit verurteilt und ihr nicht verzeihen können. Nie haben sie über die Zeit im Heim gesprochen. Das Thema war tabu.
Pfarrer Humrich zeigt Hans Klostermann das Lehrlingshaus, wo er eine Ausbildung zum Maler und Lackierer gemacht hat und Haus Bethesda, wo er sich zusammen mit rund 20 weiteren Kindern den Schlafsaal teilte. Heute hängen bunte Zeichnungen an den hellgelben Wänden. „Nachdem die Schwester hier abends das Licht ausgemacht hatte, versteckte sie sich im Dunklen. Wenn dann einer kicherte, gab es gleich einen Schlag ins Gesicht.“ Er erzählt den Mitgliedern der Heimleitung von den Schlägen, dem Sadismus vieler Diakonissen und dem Kellerloch. Immer wieder stockt er. Er spricht über die Ängste und Panikattacken, die ihn bis heute verfolgen. Er hat bisher mit niemandem darüber gesprochen. Deshalb fällt es ihm jetzt schwer, die richtigen Worte zu finden.
Vorstandschef Humrich spricht schließlich das aus, worauf Hans Klostermann so viele Jahre gewartet hat: dass ihnen das Geschehene sehr leidtut. Sie hätten selber lange nichts von der brutalen Erziehungspraxis in ihrer Institution gewusst.
Es ist keine offizielle Entschuldigung, aber zumindest ein Ausdruck des ehrlichen Bedauerns. „Ich glaube, dass ich jetzt ein Stück weit besser mit der Vergangenheit abschließen kann. Auch wenn ich sicherlich nie ganz abschließen werde.“

Der Tagesspiegel
6.02.2007

„Es handelt sich nicht um Einzelfälle“  

Petitionsausschuss des Bundestages: Heimkinder der 50er und 60er Jahre leiden noch heute

Der Petitionsausschuss hat im Dezember ehemalige Heimkinder der 50er und 60er Jahre angehört, die Entschädigung für Schläge, Misshandlungen oder Kinderarbeit fordern. Wie sprechen Erwachsene als Opfer über solche Erfahrungen?

Was die Betroffenen dort vorgetragen haben, treibt alle im Ausschuss bis heute um. Ich kann mich nicht erinnern, dass über zwei Stunden so aufmerksam und intensiv zugehört wurde. Menschen, die mittlerweile 50 oder 60 Jahre alt sind, haben beschrieben, wie sie als Kinder in Heimen Traumata erlitten haben, die bis heute ihr Leben bestimmen. Wie schwer viele an diesen Kindheitserlebnissen tragen, zeigt sich an Beziehungsstörungen, an körperlichen Schäden und daran, dass manche bis heute selbst in der eigenen Familie über ihre Kindheit nicht sprechen können.

Handelt es sich nach ihrem Eindruck um Einzelfälle oder um ein allgemeines Unrecht in der Heimerziehung dieser Zeit?

Wir haben Einzelfälle angehört, aber längst nicht alle, die im Verein der Heimkinder sind. Schon diese Zahl lässt den Schluss zu, dass es nicht nur um einige Kinder in wenigen Heimen geht. Damals gab es eine ganz andere Konzeption von pädagogischer Arbeit in Heimen, als wir sie heute zum Glück haben. Aber allein der Einsatz von körperlicher Gewalt ging weit auch über das hinaus, was in den 50er Jahren akzeptiert wurde. Es handelt sich nicht um Einzelfälle.

Damals war es gängige Auffassung, dass eine Ohrfeige noch keinem Kind geschadet habe. Ist die Situation in den Heimen nicht einfach dem damaligen Zeitgeist zuzuschreiben?

Nein, das sehe ich anders. Wenn Kinder in sogenannten Besinnungszimmern oder Klabausen mehrere Tage streng isoliert werden, dann würden wir das heute als Folter betrachten. Aber selbst unter den damaligen Maßstäben musste es mehr als kritisch bewertet werden. Es hat so etwas ja auch nicht in allen Heimen gegeben. Der Verein der Heimkinder hat nachgewiesen: Großen Gruppen ist Unrecht wiederfahren, in mehreren Bundesländern, in Heimen kirchlicher oder staatlicher Trägerschaft. Es geht nicht um gelegentliche Entgleisungen überforderter Erzieher oder Heimleiter. Und deshalb müssen wir uns den Forderungen der Betroffenen grundsätzlich zuwenden. 

Die Heimkinder verlangen die Anerkennung des erlittenen Unrechts und eine materielle Entschädigung wie z. B. nachträgliche Anerkennung von Rentenansprüchen. Was wird der Petitionsausschuss vorschlagen?

Es sind Schritte auf verschiedenen Eben nötig. Zuallererst muss sichergestellt werden, dass alle Unterlagen und Akten zugänglich gemacht werden. Wir müssen besser wissen, wie viele Menschen welches Unrecht erlitten haben. Neben der Klärung der individuellen materiellen Entschädigungsansprüche brauchen wir ein strukturiertes Gespräch darüber, wie wir mit Unrecht, Schuldanerkennung und dokumentierter Aufarbeitung umgehen. Ich schlage eine Heimkinderkonferenz vor, die Betroffene, kirchliche und staatliche Träger an einen Tisch bringt und in einem abgesteckten Zeitrahmen diese Fragen klärt. Nach meinem Eindruck ist für die ehemaligen Heimkinder sehr wichtig, dass die Gesellschaft offiziell anerkennt: Euch ist Unrecht geschehen. Die Verantwortlichen bitten um Entschuldigung. 

Das Interview führte Tissy Bruns.

Gabriele

Lösekrug-Möller, Bundestagsabgeordnete aus Hameln-Pyrmont, ist SPD-Sprecherin im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages

Junge Welt-Die Tageszeitung
04.01.2007

Dokumentiert.

Ehemalige Heimkinder im Petitionsausschuß des Bundestages

Schilderungen von Opfern der BRD-Heim-»Erziehung« während einer Anhörung zum Thema im Petitionsausschuß des Bundestages am 11. Dezember 2006, an der auch Vertreter der Ministerien für Justiz, Inneres, Familie und Gesundheit teilgenommen haben.

Dietmar Krone, geboren 1954 in Remscheid, von März 1968 bis August 1973 im Erziehungsheim Süchteln:
»Einweisungsgrund: Sittliche Verwahrlosung. Die sittliche Verwahrlosung begründete man damit, daß ich schulterlange Haare trug, die sogenannte Negermusik hörte und in der Schule Lernschwierigkeiten hatte. In der Schule fehlte ich öfter, da ich auf Grund körperlicher Mißhandlungen öfter im Krankenhaus war. Mutter war alleinprügelnd, da mein Vater früh verstarb. (…)
Dort angekommen, wurde ich der Gruppe von meinem zukünftigen Gruppenleiter als Geisteskranker vorgestellt. In einem Kellerraum mußte ich mich vor anderen völlig entkleiden. Mein Kopfhaar, wurde mir brutal entfernt. Ich wurde mit einem Wasserschlauch abgespritzt und dann mit einem Desinfektionspulver überworfen. (…) Im Sommer mußte ich bei den Bauern auf den Feldern sehr hart arbeiten. Von 7.30 bis 18 Uhr Kartoffeln auflesen oder Obst und Gemüse ernten. Der Heimträger bekam von den Bauern drei D-Mark pro Kind und Stunde, wir Kinder wurden mit vier Pfennig pro Stunde entlohnt. Bereits bei den kleinsten Verstößen gegen die Heimordnung, wie z.B. mit jemandem bei der Arbeit zu sprechen, folgten harte Strafen. (…)

Mein linkes Schultergelenk wurde zertreten, weil mir zwei Teller aus der Hand fielen und zerbrachen. Meine Schulter hätte sofort operativ behandelt werden müssen. Es gab im Heim keinen Arzt, statt dessen sperrte man mich drei Tage und Nächte in die Dunkelzelle, wo ich auf Grund von Knochenbrüchen, Muskel- und Sehnenabrissen an den Knochen höllische Schmerzen aushalten mußte. Ich schrie vor Schmerzen, aber niemand brachte mir schmerzstillende Medikamente. Trotz starker Schmerzen mußte ich am vierten Tag wieder arbeiten. (…) Schulunterricht gab es im Heim nicht. Ich habe nicht einmal einen Volksschulabschluß. (…) Ich bin seit vielen Jahren berentet und habe einen Schwerbehindertengrad von 70 Prozent.«

Eleonore Fleth:
»Meine Schwester war gerade 14 Jahre alt und ich 15. Am 19. Februar 1965 wurden wir in die Bodelschwingh?schen Anstalten Bethel in das evangelische Mädchen- und Frauenheim Ummeln gebracht (…). Bis zum 6.3.1969, also mehr als vier Jahre, wurden wir in dem Heim, das ein geschlossenes Haus für schwererziehbare Mädchen war, festgehalten. (…) Doch meine Schwester und ich waren nie straffällig, noch haben wir sonst irgend etwas getan, was eine Unterbringung hätte rechtfertigen können. (…) Täglich mußte ich zwölf Stunden in der Großküche arbeiten, sieben Tage die Woche. (…) In der gesamten Zeit des Heimaufenthalts hatten wir nur einmal Besuch von unserer Mutter.
(…) Meine jüngste Schwester hat eine starke Persönlichkeitsstörung und drei mißglückte Suizidversuche hinter sich. (…) Seit dreißig Jahren leide ich an massiven Schlafstörungen und an Fibromyalgie, ich habe qualvolle Schmerzen im ganzen Körper. (…) Ich leide an Ängsten, vor allem wenn es dunkel wird. In geschlossenen Räumen gerate ich in Panik. Körperliche Nähe kann ich nur schwer ertragen. (…)«

Wolfgang Rosenkötter, von 1961 bis 1964 untergebracht in verschiedenen kirchlichen »Erziehungsanstalten«, unter anderem in Zweigstellen der von der evangelischen Diakonie betriebenen von Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, zuletzt in Freistatt bei Diepholz, wo 14- bis 21jährige männliche Jugendliche sommers und winters Torf stechen und pressen mußten – für vier D-Mark im Monat:
»(…). Ich kam nach Freistatt im Teufelsmoor, (…) der in den anderen Heimen immer wieder angedrohten Endstation. (…) Es folgte ein Jahr unsäglicher körperlicher und seelischer Qualen, Erniedrigungen, Schläge und Folterungen. Kein Tag, an dem ich nicht mit Angst ins Bett ging und mit Angst aufstand. (…) Trotz der Abgeschiedenheit gelang es mir nach drei Monaten, von dort mit blutigen Füßen und wund geschlagenem Rücken nach Hause zu fliehen. Mein Vater und das Jugendamt glaubten meine Schilderungen nicht, es war doch eine christliche Anstalt, dort kam so etwas nicht vor. Also wurde ich zurückgebracht, mit verheerenden Folgen für mich selbst und meine Kameraden.(…)«

Junge Welt-Die Tageszeitung
04.01.2007

Diagnose: Verwahrlost

Verbrechen an Kindern in kirchlichen und staatlichen »Erziehungsanstalten« der BRD werden aufgearbeitet. Opferverband geht von rund 500000 Leidtragenden aus
Von Jana Frielinghaus

Von Medien und Politik wird derzeit gern suggeriert, noch nie seien so viele Eltern wie heute mit der Erziehung ihres Nachwuchses überfordert gewesen wie heute. Daß einem nicht unerheblichen Teil der Menschheit schon immer Geduld und Verständnis für kindliches Verhalten fehlte, wird dabei geflissentlich übersehen. In den goldenen Jahren des Wirtschaftswunders gab es nicht weniger mißhandelte und vernachlässigte Mädchen und Jungen als heute. Als Schuldige galten jedoch in der Regel nicht die Erziehungsberechtigten, sondern die Kinder selbst, die vielfach trotz längst bekannter reformpädagogischer Ansätze noch immer als von Natur aus defizitär bis »böse« angesehen wurden. Kirchliche und staatliche Träger von »Erziehungsanstalten« unterstützten Eltern eifrig dabei, sich lästig gewordener Brut zu entledigen. Oft wurden Kinder ohne Vorwarnung und ohne Angabe von Gründen abgeholt. In vielen Heimen wurde ihnen vor allem eins beigebracht: Daß sie eigentlich nichts wert seien. Zu hören bekamen sie dergleichen mehrheitlich von »barmherzigen« Schwestern und ebensolchen Brüdern, denn 80 Prozent der Heime waren nach Angaben von Spiegel-Autor Peter Wensierski in konfessioneller Hand. »Nebenbei« wurden die Zöglinge in großem Stil als billige Arbeitskräfte ausgebeutet.
Erste Schuldbekenntnisse
Mit der Veröffentlichung seines Buches »Schläge im Namen des Herrn« (siehe dazu jW vom 10.4.2006) löste Wensierski eine öffentliche Debatte zum Thema Heimerziehung aus, in deren Verlauf von hohen Kirchenvertretern erstmals so etwas wie ein öffentliches Schuldeingeständnis zu hören war. Zuvor waren Übergriffe bestenfalls als Ausnahme und Resultat von Arbeitsüberlastung und Überforderung der Erzieher dargestellt worden. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, will nun »heilsame und entlastende Entschuldigungen« auf den Weg bringen. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, befürwortet die »Aufarbeitung der Geschehnisse, die in einigen Heimen schon begonnen hat, um wenigstens heute den Opfern gerecht zu werden zu versuchen«.
Irland als Vorbild
Anfang 2006 haben sich Betroffene zusammengetan und den Verein ehemaliger Heimkinder gegründet. Er richtete im Frühjahr eine Petition an den Deutschen Bundestag, in der die Ächtung der damaligen Erziehungspraxis ebenso gefordert wird wie eine materielle Wiedergutmachung für rund eine halbe Million Leidtragende, unter anderem in Form von Rentenanerkennungszeiten. Das Beispiel Irlands hat sie dazu ermutigt: Die Dubliner Regierung richtete 2004 eine staatliche Untersuchungskommission zu den Menschenrechtsverletzungen in Heimen ein, mißhandelte frühere Insassen werden vom Staat mit insgesamt einer Milliarde Euro entschädigt.
Plädoyer für Kinderrechte
Die in der Petition geforderte öffentliche Anhörung im zuständigen Bundestagsausschuß hat am 11. Dezember stattgefunden. Michael-Peter Schilt?sky, Geschäftsführer des Opfervereins, betonte, nicht in allen Anstalten seien Quälereien und Bildungverweigerung üblich gewesen. Aber auch er war von seiner Mutter mit noch nicht zehn Jahren endgültig abgeschoben worden, der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits todkrank und starb ein halbes Jahr später. Die ersten fünf Heimjahre waren für ihn geprägt von Gewalt und sexuellem Mißbrauch.

Ob es in der BRD zu mehr als einem symbolischen Schuldeingeständnis des Staates kommt, ist fraglich. Denn selbst aus dem Justizministerium haben die Betroffenen zu hören bekommen, Gewalt in der Erziehung habe nun einmal dem damaligen Zeitgeist entsprochen. Für Michael-Peter Schiltsky sind solche Äußerungen eine »unverschämte Verharmlosung«. Vor dem Petitionsausschuß verwies er unter anderem darauf, daß das Grundgesetz seit 1949 gilt: »Ich habe darin keine Stelle finden können, in der festgestellt wird, daß Kinder keine Menschen sind, also die Menschenrechte für sie keine Gültigkeit hätten.« Nicht die Kinder, die in den Heimen seelisch und physisch mißhandelt und diskriminiert wurden, seien verwahrlost gewesen, sondern die Gesellschaft, die dies zugelassen hat, so Schiltskys Resümee.

Petition der Opfer

Entschädigung gefordert

Die seit Anfang 2006 im Verein ehemaliger Heimkinder organisierten Opfer kirchlicher und staatlicher »Fürsorge« in der BRD haben eine Petition an den Deutschen Bundestag gerichtet und fordern:
– Die Anerkennung betroffener ehemaliger Heimkinder als Opfer von Menschenrechtsverletzungen,

– die Regelung berechtigter Forderungen, die sich daraus ergeben,

– die Ächtung der menschenverachtenden Erziehungspraxis in Heimen während der Zeit von 1945 bis 1975,

die Klärung der Frage fehlender Rentenanwartschaften bezüglich erzwungener unbezahlter Arbeit, für die keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden,

– die Erklärung, daß die in den Heimen verlangte und geleistete Kinderarbeit Unrecht gewesen ist,

– die Gewährleistung der Finanzierung von Langzeittherapien der Traumata, an welchen viele der Betroffenen noch heute leiden,

– die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses unrühmlichen Kapitels in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik,

die Berücksichtigung auch der ehemaligen Heimkinder in der ehemaligen DDR bei der Klärung all dieser Fragestellungen,

– eine öffentliche Anhörung betroffener ehemaliger Heimkinder vor dem Deutschen Bundestag,

– eine Ausstellung über die Lebenssituation ehemaliger Heimkinder in den Heimen der Zeit von 1945 bis 1975 unter Berücksichtigung ihrer Lebenssituation nach dem Heimaufenthalt,

die Anerkennung der moralischen Schuld des Staates an den Vorfällen in den Heimen während der besagten Zeit, die sich aus der Einweisungspraxis der Jugendämter und der mangelnden Heimaufsicht ergibt,

– die Schaffung einer unabhängigen Heimaufsicht für alle heute existierenden Heimformen (auch der Altenpflegeeinrichtungen), um zu gewährleisten, daß vergleichbares Unrecht, wie wir es erfahren mußten, in Deutschland in Gegenwart und Zukunft nicht mehr geschehen kann.

Liberation
2 janvier 2007

Des instituts religieux allemands sur la sellette

Des enfants placés après la guerre exigent une enquête pour mauvais traitements.
Par Nathalie VERSIEUX
QUOTIDIEN : mardi 2 janvier 2007
Berlin de notre correspondante

Gisela Nurthen n'a su que plus tard pourquoi elle fut confiée, un matin de février 1961, aux mains des bonnes soeurs du foyer Saint-Vincent de Dortmund. Elle a alors tout juste 15 ans et menait jusque-là une vie plutôt libre entre sa mère et sa soeur aînée. Dès lors, «elle fait connaissance avec l'enfer» et n'en sortira qu'à 21 ans, à sa majorité. Mauvais traitements, humiliations et vexations sont le quotidien des pensionnaires de ce foyer pour «jeunes filles en perdition». Vitres grillagées, portes verrouillées, accès aux toilettes contrôlé, courrier filtré, visites interdites... : les seules distractions sont la messe du dimanche, les soirées télévisées à l'occasion des voeux du pape et les chants religieux autorisés pendant les heures de couture.
Reconnaissance. Aujourd'hui, Gisela fait partie d'une association d'anciens pensionnaires qui militent pour obtenir reconnaissance et dédommagement. Le mois dernier, l'association a rencontré un groupe de députés du Bundestag. Leur objectif : la formation d'une commission d'enquête parlementaire. Ils estiment que l'Etat a manqué à ses devoirs et n'a jamais contrôlé la valeur «pédagogique» du travail des institutions religieuses. «La priorité de ces institutions était la transmission de valeurs morales et religieuses à travers l'apprentissage de la discipline, de l'ordre, du travail et de la propreté», résume Peter Wensierski, dans un ouvrage consacré au sujet (1). Quelque 3 000 foyers, à 80 % tenus par l'Eglise, ont accueilli en Allemagne de l'Ouest entre 500 000 et un million de jeunes et d'enfants, de l'après-guerre à la fin des années 60. «Dans ces foyers, on traitait les enfants comme de la marchandise, et les méthodes appliquées remontaient au XIXe siècle», s'insurge Michael Peter Schiltsky, lui-même ancien pensionnaire et président de l'association.
Comme Gisela Nurthen ou Michael Peter Schiltsky, des centaines de milliers d'enfants et d'adolescents allemands ont vu leur vie ruinée. Le taux de non-diplômés, de chômeurs, de bénéficiaires de l'aide sociale, de suicidés, de divorcés et d'alcoolisme est chez les anciens pensionnaires nettement supérieur à la moyenne. La plupart furent placés dans ces institutions par l'Etat ou par des parents débordés. Dans le cas de Gisela, sa mère «célibataire» fut jugée inapte à l'élever. L'équivalent de la Ddass entend parler par le voisinage d'une «lettre d'amour» qu'elle aurait envoyé à 12 ans à un petit voisin... Dans l'Allemagne prude des années 50, il n'en fallait pas tant pour juger l'enfance «menacée». Michael Peter Schiltsky fut laissé aux soins de l'Eglise par sa mère, alors que son père est sur le point de mourir.
«Prisonniers».  «Les jeunes des années 50 ont grandi dans des conditions particulièrement difficiles, rappelle Peter Wensierski. Plus de un million et demi d'enfants avaient perdu leur père pendant la guerre. Quatorze millions avaient fui l'armée soviétique. Beaucoup de familles étaient détruites, beauc

de confier leur dossier aux anciens pensionnaires qui en font la demande. Certains ne savent toujours pas vraiment pourquoi ils ont un jour été arrachés à leur famille.

Hessische/Niedersächsische Allgemeine HNA
02.01.2007

Es tut noch immer weh

Wie ehemalige Heimkinder litten - Petitionsausschuss des Bundestages will helfen

Von Andreas Berger
Kassel / berlin. Ihr kommen die Tränen, als sie ihre alte Akte anschaut. "Stirn: mittelhoch. Nase: klein. Gesichtsfarbe: blass. Statur: vollschlank." Darüber klemmt ein Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigt sie als 17-Jährige, die dunklen Haare fast schulterlang, bekleidet mit einer schwarzen Bluse mit weißen Punkten und einem karierten Rock. Der Versuch zu lächeln, scheint ihr im Halse stecken geblieben zu sein.
Name: Renate Schmidt. Alter heute: 57. Die Frau aus Kassel ist ein ehemaliges Heimkind. Und die zweieinhalb Jahre im Erziehungsheim Breitenau in Guxhagen, die Unbarmherzigkeit der Aufseherinnen, die erniedrigenden Erlebnisse dort stechen noch immer in ihre Seele.
Viele, die zwischen 1945 und 1975 in solche Erziehungsheime gesteckt wurden, dort gelitten haben, können noch heute nicht darüber sprechen, sagt Renate Schmidt. Sie aber kann. Und sie sprach: vor Kurzem vor dem Petitionsausschuss des Bundestages, vor etwa 30 Politikern aller Parteien. Sie und acht weitere ehemalige Heiminsassen, Mitglieder im Verein ehemaliger Heimkinder, erzählten dort ihre Geschichten. Und sie stellten Forderungen, stellvertretend für alle Ehemaligen in Deutschland: dass sie als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden, dass sie auch finanziell entschädigt werden (siehe Artikel links oben).
Bevor die Kasselänerin ihre Geschichte vor dem Petitionsausschuss erzählte, hatte sie vor Aufregung Bauchschmerzen. Endlich hörte ihr jemand zu, war einer ihrer Gedanken. Jemand, der ihr und den anderen vielleicht helfen kann, dafür zu kämpfen, das Geschehene nach all den Jahren als Unrecht anzuerkennen, es somit etwas erträglicher zu machen.
Die Öffentlichkeit wurde während der Sitzung des Petitionsausschusses ausgeschlossen. Keine Presse, keine Anwälte der Ehemaligen, keine anderen Zuhörer. So sah niemand außer den neun Gästen und den Vertretern der Parteien, dass eine Politikerin weinend den Raum verließ, weil sie die Schilderungen nicht mehr ertrug. Und in der folgenden Fragerunde meldete sich nur einer der Politiker. Er habe sich auf das Thema vorbereitet. Doch nun fehlten ihm die Worte.
Sieht sie die Chance, dass die Forderungen des Vereins umgesetzt werden? Zumindest sei die Hoffnung darauf gestiegen, sagt Renate Schmidt. Die Ausschussmitglieder hätten zugesagt, sich dafür einzusetzen. Und dafür, dass die neun noch einmal die Chance bekommen, ihre Geschichte zu erzählen: öffentlich, im Bundestag. "Wir vertrauen darauf."