2006

28. Dezember 2006
Spiegel-online - HEIMKINDER
"Kein Tag, an dem ich nicht mit Angst ins Bett ging und mit Angst aufstand"

28.12.06
Allgemeiner Behindertenverband in Mecklenburg-Vorpommern - Heimschicksale im Petitionsausschuss des Bundestages

19.12.2006
Der Tagesspiegel - Heimkinder - Helft, jetzt

19.12.2006
Der Tagesspiegel - Parlament soll Unrecht an Heimkindern anerkennen

15. 12. 2006
Evangelischer Pressedienst epd Sozial - "Beschwerden wurden mit Prügel erledigt"

15.12.2006
Hamburger Abendblatt - Ein Trauma, das man sein Leben lang behält

14. 12. 2006
rbb Fernsehen -Stilbruch

13.12.2006
Der Tagesspiegel - Das Trauma vom frühen Leid im Heim

13.12.2006
Aachener Nachrichten – Artikel von Bettina Markmeyer:
"Unsere Beschwerden wurden durch Prügel erledigt"

12. 12. 2006
Hamburger Abendblatt - Heimkinder wollen als Opfer gelten

12.12.2006
Heidenheimer Zeitung - SWP - Ehemalige Heimkinder reden in Berlin über ihr Schicksal - Die Zeit des Schweigens ist vorbei

11.12.2006
inforadio rbb - Interview - Ein unrühmliches Kapitel deutscher Sozialgeschichte

11.12.2006
Kobinet - Ehemalige Heimkinder vor dem Petitionsausschuss

10.12.2006
Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe AGJ - Anhörung ehemaliger Heimkinder im Bundestag

9.12.2006
Neue Ruhr Zeitung - Schicksal: Heimkind. Roswitha Weber erzählt von den Schrecken ihrer Kindheit in den 50-er Jahren.

13. November 2006
Spiegel-online - MISSHANDELTE HEIMKINDER

26. Oktober 2006
Westfälische Nachrichten (Warendorf) - Prügel und Ohrfeigen

21. Oktober 2006
Westfälische Nachrichten (Warendorf) - Lachen und Weinen strengstens verboten

15.10.2006
Der Tagesspiegel - Ungeheuer behütet

05.10.2006
Neue Westfälische - Drängen auf Sühne

27.09.2006
KNA -  Katholische Nachrichtenagentur GmbH - Caritas-Diskussion um Missstände in Heimen

26. September 2006
Caritasverband für die Diözese Münster e.V. - Presseinformationen

04.09.06
Die Berliner Literaturkritik - Kirchlicher Fürsorgeknast – Rohrstockrepublik Deutschland

03.08.06
Kölner Stadt-Anzeiger - Die verdrängte Gewalt

August 2006
DER BOTE - Berichte aus der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses

27.07.2006
Erziehungswissenschaftliche Revue EWR 5 (2006),Wolfgang Trede Rezension - Peter Wensierski - Schläge im Namen des Herrn

26. Juli 2006
Die Weltwoche Ausgabe 07/06 | Kultur - Geschichte
Unter der Knechtschaft Jesu Christi

21. Juni 2006
jungle-world - Tanzen verboten, Schlagen erlaubt

12. 06. 2006
Radio Vatikan - Deutschland: Schläge im Namen des Herrn?

10.06.2006
systemagazin - Rezension - Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn.

10.06.2006
Wiesbadener Tagblatt - Die ehemaligen Heimkinder leiden noch heute

09. Juni 2006
Pressemitteilungen LWV-Hessen - „Gemeinsam aus der Geschichte lernen“

9. 06. 2006
Mittelbayerische Zeitung - Schlagende Nonnen ließen auf Holzscheiten beten

Juni 2006
DER RING – Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel - „Die Wahrheit darf niemand in Frage stellen“

31.05.2006
Wiesbadener Tagblatt - Heimerziehung im Blick

29. Mai 2006
Pressemitteilungen Diakonie Paderborn-Höxter - Eine gemeinsame Sprache finden

19.05.2006
Presseinformation - Ev. Kinder- und Jugendhilfe St. Johannisstift GmbH

16.05.2006
Frankfurter Allgemeine Zeitung - Nichts für Zartbesaitete

13.05.2006
Telepolis - In den Mühlen der Fürsorge

05.05.2006
Pressemitteilung Diakonie Freistatt

27. April 2006
news.ch - Kanada entschädigt seine Ureinwohner

25. 04. 2006
SR-internatiomal-Radio Schweden ”Gestohlene Kindheit” klagt vor Gericht

19. 04. 2006
Spiegel-online - HEIMKINDER-SCHICKSALE - 20 Euro für 15 Jahre Leid

18.04.06
Westdeutsche Zeitung - Bettnässer erwartet die Hölle-

10.04.2006
Junge Welt Die Tageszeitung - Schwarze Pädagogik

07.04.2006
Heidenheimer Zeitung - Die dunkle Seite der Barmherzigkeit -

06.04.2006
Wiesbadener Tagblatt - LWV bedauert Gewalt an Heimkindern -

06.04.2006
Kobinet - LWV - Entschuldigung bei ehemaligen Heimkindern für erlittene Gewalt.

31.03.2006
Hessische/Niedersächsische Allgemeine - „Damals fehlte die Kontrolle"

30. 03. 2006
Wiesbadener Kurier - Prügel waren an der Tagesordnung -

25.03.06
Täglicher Anzeiger Holzminden -Wenn Du nicht brav bist, kommst Du ins Heim-

23. März 2006
Grenzland Nachrichten - Erneute Vorwürfe -

23. März 2006
Grenzland Nachrichten - Liebe, Wärme und Geborgenheit

20.3.2006
NDR-Fernsehen - 22.30 Uhr - Kulturjournal
"Schläge im Namen des Herrn"

19.03.2006
Sonntagsblatt- Bayern - Ausgabe: 12

14.03.2006
Deutschlandradio Kultur - Sadistische Lust -

11.März 2006
Taz - Die tageszeitung -taz Magazin Nr. 7919 - Wie die Zucht, so die Frucht -

08.03.2006
Pressemitteilung Die Grünen Kreisverband Schwalm Eder

7. März 2006
Die Welt - Ehemalige Heimkinder fordern Wiedergutmachung

7. März 2006
Frankfurter Rundschau - „Wir wollen nichts beschönigen“

6. März 2006
Katholische Nachrichten Agentur - Ehemalige Heimkinder stellen Forderungen an Bischöfe

03.03.2006
Kobinet - Unrecht an Heimkindern soll Thema werden.

28. 02. 2006
Neuss-Grevenbroicher Zeitung - Heimkinder klagen an -

27. Februar 2006
Evangelische Akademie Bad Boll -Stellungnahme

24. Februar 2006
Die Welt - Unbarmherzige Schwestern -

14.02.2006
Evangelische Kirche im Rheinland - Heimerziehung

14. Februar 2006
Spiegel-online - HEIMKINDER-SCHICKSALE - "Es tut mir leid"

13.02.06
Kölnische Rundschau - Bei Wasser und Brot in die „Klabause“ -

11. Februar 2006
SPIEGEL ONLINE - URL: http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,400215,00.html
HEIMKINDER-SCHICKSALE
"Wie geprügelte Hunde"

09.02.2006
DIE ZEIT - Das Leid der frühen Jahre

07. Februar 2006
Frontal 21- ZDF - Beitrag: Prügel im Namen Gottes –


2006

Spiegel-online 28. Dezember 2006 - HEIMKINDER
"Kein Tag, an dem ich nicht mit Angst ins Bett ging und mit Angst aufstand"
Von Peter Wensierski

Viele Heimkinder wurden in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen bis in die frühen siebziger Jahre misshandelt und psychisch unter Druck gesetzt. Erstmals beschäftigte sich nun der Bundestag mit ihrem Schicksal - eine moralische Rehabilitierung der Opfer scheint in greifbare Nähe gerückt.
Berlin - "Ich kann hier nur sagen, der Worte sind genug gewechselt, lasst uns endlich Taten sehen!" Mit dieser Aufforderung beendete der sechzigjährige Wolfgang Focke dieser Tage seinen Vortrag vor den "sehr verehrten Damen und Herren des Deutschen Bundestages" und fügte hinzu: "Ich hoffe nur, dass es so bald geschieht, dass ich es noch erleben werde."
Wie so viele Kinder der Wirtschaftswunderjahre Westdeutschlands, die meist aus nichtigen Gründen hinter den Mauern der Erziehungsanstalten in den fünfziger und sechziger Jahren verschwanden, so ist es auch ihm ergangen. Er wurde "arbeitsmäßig ausgenommen, seelisch und moralisch für's ganze Leben kaputt gemacht".
Fast drei Stunden lang hörte sich Mitte Dezember der Petitionsausschuss des Bundestags die Lebensgeschichten ehemaliger Heimkinder an, die zwischen 1945 und 1975 in kirchlichen und staatlichen Fürsorgeanstalten Schläge, Demütigungen, Missbrauch, Schwerarbeit erdulden mussten. "Kein Tag, an dem ich nicht mit Angst ins Bett ging und mit Angst aufstand", berichtete Wolfgang Rosenkötter, der als Jugendlicher in Freistatt im Teufelsmoor frühmorgens mit Holzschuhen zum Torfstechen ausrücken musste.
Er weiß bis heute eigentlich nicht so genau, warum er mit 15 überhaupt ins Heim gekommen ist. "Ich kam nach einigen Zwischenstationen nach Freistatt im Teufelsmoor, einer Einrichtung der Bethelschen Anstalten, der in den anderen Heimen immer wieder angedrohten Endstation. Wenn ich geglaubt hatte, viel schlimmer als in vorherigen Heimen könne es dort nicht sein, hatte ich mich sehr getäuscht. Es folgte ein Jahr unsäglicher körperlicher und seelischer Qualen, Erniedrigungen, Schläge und Folterungen." Dietmar Krone, 52, hat ein lebenslanges Handicap vom Heimaufenthalt zurückbehalten: "Meine linke Schulter wurde zertreten, nur weil mir zwei Teller im Speisesaal aus der Hand fielen." Krone berichtet auch von sexuellem Missbrauch und willkürlicher Psychiatrisierung.

An die Erziehung durch Arbeit, ganz im Geiste der Arbeitserziehung im Dritten Reich erinnert sich Wolfgang Focke noch gut: "Anfang der sechziger Jahre: Im Sommer acht Stunden Schuften in der Landwirtschaft. Im Herbst im Steinbruch mit primitiven Mitteln, mit dem zehn Kilo schweren Hammer von Hand Steine schlagen, dann mit der Brechstange und Eisenkeilen. Wir mussten große Felsbrocken aus der Wand brechen, andere Jugendliche mussten sie zu Schotter verarbeiten."
In dem von katholischen Nonnen, den "Barmherzigen Schwestern", betriebenen Vincenz-Heim in Dortmund stand eine 16-Jährige zehn Tage nach der Entbindung im Bügelsaal, die Brüste hochgebunden, damit sie nicht mehr stillen konnte. "Des Sonntags durfte ich meine eigene Tochter nur für eine Stunde sehen", gab Marion L. den Abgeordneten zu Protokoll.
Petitionsausschuss hörte sich Schicksale an
"Der Verlauf der Anhörung war für uns durchaus zufriedenstellend", zieht der Sprecher des Vereins ehemaliger Heimkinder, Michael-Peter Schiltsky, Bilanz. Im neuen Jahr soll noch eine weitere Anhörung mit Experten stattfinden, bevor die Ergebnisse der Bundesregierung vorgelegt werden.
Die Obleute der einzelnen Fraktionen gaben zu verstehen, dass sie die Notwendigkeit einer gemeinsamen Vorgehensweise aller Fraktionen sehen. Sie streben an, eine Fraktionen übergreifende Entscheidung des Petitionsausschusses zu finden, um der Problematik ehemaliger Heimkinder und den Forderungen der dazu vorliegenden Petitionen gerecht zu werden. Die Vortragenden, die für die verschiedenen Typen von Heimen in staatlicher, kirchlicher und privater Trägerschaft gesprochen hatten, konnten den Saal in der Hoffnung verlassen, dass nun auch von staatlicher Seite gesehen wird, dass eine Aufarbeitung der Problematik ehemaliger Heimkinder auch seitens des Deutschen Bundestages vorangetrieben werden muss.

Anerkennung der moralischen Schuld
Zu den Hauptforderungen der Betroffenen gehört, so Regina Eppert, die um 1962 ihre besten Jugendjahre im Dortmunder Vincenzheim verbringen musste, "die Anerkennung der moralischen Schuld des Staates an den Vorfällen in den Heimen, die sich aus der Einweisungspraxis der Jugendämter und die mangelnde Heimaufsicht ergibt. Dazu gehört eine Erklärung, dass die in den Heimen verlangte und geleistete Kinderarbeit Unrecht gewesen ist."
Geregelt werden muss die Finanzierung von Langzeittherapien der Traumata, an welchen viele der Betroffenen noch heute leiden, ein vergleichsweise kleineres Projekt wäre eine Ausstellung über die Lebenssituation ehemaliger Heimkinder in den Heimen der Zeit von 1945 bis 1975 im Bundestag, im Deutschen Historischen Museum oder als Wanderausstellung, die durch heutige Heime und Pädagogik-Fakultäten ziehen könnte. In Freistatt und im ehemaligen "Mädchenheim Fuldatal" bei Kassel sind sogar noch Heimgebäude fast im Originalzustand erhalten, wie sie Anfang der siebziger Jahre verlassen wurden. Sie eignen sich ganz besonders als Gedenk- und Ausstellungsorte. Daher fänden viele Betroffene auch eine Stiftung angemessen, in die Kirchen und Staat einzahlen, um die Aufarbeitung dieser Zeit sowie konkrete Hilfen für einzelne besondere Härtefälle zu ermöglichen.
Damit ist nun die Politik in der Verantwortung, dieses unrühmliche Kapitel deutscher Sozialgeschichte der Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Evangelische wie katholische Kirche haben dies schon seit Jahresanfang mehrfach signalisiert. Schiltsky: "Ein bemerkenswerter Schritt auf einem gewiss noch langen Weg ist getan und lässt uns mit Hoffnung weitergehen." Auch wenn der Heimalltag inzwischen völlig anders aussieht, warnt Schiltsky vor Rückschritten. Der Trend gehe dahin, Kinder wieder angepasster zu erziehen. Eine Konsequenz aus den Missständen aber müsse sein, sie stark zu machen, damit sie sich wehren können. Zur erfolgreichen Arbeit des Vereins gehören die Fragebögen, die an Betroffene verschickt werden. Bisher liegen etwa 230 Seiten kompakte Informationen über die Geschehnisse in den unterschiedlichsten Heimen in allen Teilen der Bundesrepublik vor. Die Auswertung wird noch dauern, dem Verein fehlen ehrenamtliche Helfer.

Erziehungsmethoden aus der Nazi-Zeit
Über die fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen an Kindern in den kirchlichen und staatlichen Heimen gibt es aber nicht nur die Berichte der Betroffenen, sondern auch Akten und Schriftverkehr. Sie dokumentieren prügelnde Erzieher, das Versagen der Aufsicht, eine unentrinnbare Rechtlosigkeit von wehrlosen Schutzbefohlenen. Es finden sich darin auch Ursachen im Geist dieser Zeit der jungen Bundesrepublik: ein autoritäres Erziehungsverständnis, Kontinuitäten zur Nazi-Diktatur, die materielle, persönliche, moralische Überforderung von Eltern, Erziehern oder Heimleitern, die auf der Schattenseite des aufstrebenden Wirtschaftswunderlandes lebten.

3000 Heime hat es gegeben, gut 80 Prozent davon waren konfessionell, über eine halbe Million Kinder sind dort durchgeschleust worden. Immer mehr Opfer melden sich beim "Verein ehemaliger Heimkinder" mit ungeheuren Geschichten. Nun gilt es als eine Frage des Anstands und der politischen Verantwortung, wenn Bundestag und Bundesregierung Wiedergutmachung in Form von Rentenanerkennung und Therapiehilfen leisten.
Aber das ist nicht alles. "Die Gesellschaft ist gut beraten," meint der Ansprechpartner des Vereins ehemaliger Heimkinder, Michael-Peter Schiltsky, "die alte Erziehungspraxis als Menschenrechtsverletzung zu ächten. Davon haben alle etwas, denn gewisse Probleme, gibt es immer, wenn Menschen ausgegrenzt und weggesperrt werden. Wir hatten damals selbst keine Lobby, keinen Anwalt. Aber wir können jetzt mit unseren Erfahrungen die Anwälte der Kinder, Jugendlichen und Alten von heute sein."

Allgemeiner Behindertenverband in Mecklenburg-Vorpommern 28.12.06
Heimschicksale im Petitionsausschuss des Bundestages

Fast drei Stunden lang hörte sich Mitte Dezember 2006 der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestags die Lebensgeschichten ehemaliger Heimkinder an, die zwischen 1945 und 1975 in kirchlichen und staatlichen Fürsorgeanstalten Schläge, Demütigungen, Missbrauch, Schwerarbeit erdulden mussten. "Kein Tag, an dem ich nicht mit Angst ins Bett ging und mit Angst aufstand", berichtete Wolfgang Rosenkötter, der als Jugendlicher in Freistatt im Teufelsmoor frühmorgens mit Holzschuhen zum Torfstechen ausrücken musste.
"Der Verlauf der Anhörung war für uns durchaus zufriedenstellend", zieht der Sprecher des Vereins ehemaliger Heimkinder, Michael-Peter Schiltsky, Bilanz. Im neuen Jahr soll noch eine weitere Anhörung mit Experten stattfinden, bevor die Ergebnisse der Bundesregierung vorgelegt werden.
Aber das ist nicht alles. "Die Gesellschaft ist gut beraten," meint der Ansprechpartner des Vereins ehemaliger Heimkinder, Michael-Peter Schiltsky, "die alte Erziehungspraxis als Menschenrechtsverletzung zu ächten. Davon haben alle etwas, denn gewisse Probleme, gibt es immer, wenn Menschen ausgegrenzt und weggesperrt werden. Wir hatten damals selbst keine Lobby, keinen Anwalt. Aber wir können jetzt mit unseren Erfahrungen die Anwälte der Kinder, Jugendlichen und Alten von heute sein."
Vielleicht kann uns Herr Schiltsky helfen, die Anstaltsmauern niederzureissen hinter denen noch immer Menschen weggesperrt sind und werden, denn die Demütigungen und Menschenrechtsverletzungen gehen bis heute weiter.
P. Braun, gelesen und zusammengestellt am 28.12.06

Der Tagesspiegel 19.12.2006
Heimkinder
Helft, jetzt
Von Tissy Bruns

Auch in katholischen Heimen für Kinder und Jugendliche hat es das gegeben: Demütigung, Misshandlung, drakonische Strafen. Der Satz ist kein Schuldbekenntnis aus Irland, er steht im aktuellen Caritas-Jahrbuch. Wie irische Kinder gelitten haben in kirchlichen Heimen, hat ein bewegender Film der deutschen Öffentlichkeit bekannt gemacht. Aber auch die Bundesrepublik trägt an einer Geschichte verborgenen Unrechts, an dem kirchliche und staatliche Einrichtungen beteiligt waren.

Das Schicksal der deutschen Heimkinder der 50er und 60er Jahre ist zweimal verdrängt worden. Das erste Mal, als sie, oft aus nichtigen Anlässen, einer erniedrigenden, prügelnden Fürsorge anvertraut wurden. Und noch einmal, nachdem unter dem Einfluss der 68er-Bewegung in den 70er Jahren die Heimerziehung umgekrempelt worden ist. Bessere Verhältnisse kehrten ein. Doch die oft lebenslangen Folgen der Jahre in Freistatt im Teufelsmoor, im Dortmunder Vincenz-Heim oder im hessischen Kalmenhof mussten die Betroffenen allein ertragen. Keine Bitte um Entschuldigung, keine materielle Wiedergutmachung, keine Ächtung dieser Praxis. Stattdessen Scham, Verdrängen, Vergessen.

Zweieinhalb lange, manchmal beklemmende Stunden hat sich der Petitionsausschuss des Bundestags vor einer Woche nun Lebensgeschichten der Frauen und Männer angehört, die sich hinter dem Satz aus dem Caritas-Jahrbuch verbergen: Kinderarbeit, Prügel, Isolation und willkürlicher Essensentzug, sexueller Missbrauch, sedierende Medikamentengabe, Hospitalisierung von Kleinkindern. Und erniedrigende Botschaften, die Kinder und Jugendliche zu einem wertlosen Nichts herabgewürdigt haben.

Es sind Geschichten, die man nicht glauben möchte, die Abwehrreflexe hervorrufen. Sind es Einzelfälle, Ausnahmen? Es stimmt, dass nicht in allen Heimen dieser Zeit solche Zustände geherrscht haben. Aber die Recherchen, die Peter Wensierski in seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ Anfang dieses Jahres zusammengetragen hat, die Arbeit des Vereins der ehemaligen Heimkinder, schließlich die offiziellen Akten der beteiligten Institutionen sprechen eine klare Sprache. Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Es geht nicht nur um die Folgen eines autoritären Zeitgeistes, der Prügel ganz normal fand.

Der Befund lautet: In kirchlichen und staatlichen Heimen ist es damals zu fortgesetzten Menschenrechtsverletzungen an Kindern gekommen. Es gab Akten und Schriftverkehr über prügelnde Erzieher, das Versagen der Aufsicht, eine unentrinnbare Rechtlosigkeit von wehrlosen Schutzbefohlenen. Es finden sich Ursachen im Geist dieser Zeit: ein autoritäres Erziehungsverständnis, Kontinuitäten zur Nazi-Diktatur, die materielle, persönliche, moralische Überforderung von Eltern, Erziehern oder Heimleitern, die auf der Schattenseite des aufstrebenden Wirtschaftswunderlandes lebten.

Rechtfertigen lässt sich damit aber nichts. Denn mit den besonderen Umständen jener Zeit ist die eigentliche Versuchung nicht untergegangen. Sie ist, im Gegenteil, zeitlos, die öffentliche Doppelmoral, die, wenn es die Umstände fordern oder nur ermöglichen, ihre Unzulänglichkeiten auf dem Rücken der Schwächsten austrägt. In DDR-Heimen sind Kinder misshandelt und gebrochen worden – in einem diktatorischen Regime. Dass aber nach einer Diktatur die latente Machtanmaßung über Schwächere nicht automatisch verschwindet, davon zeugen die ehemaligen Heimkinder der frühen Bundesrepublik.

Es ist eine Frage des Anstands, wenn Bundestag und Bundesregierung Wiedergutmachung in Form von Rentenanerkennung und Therapiehilfen leisten. Es ist eine Frage der Selbstachtung der demokratischen Gesellschaft, die alte Erziehungspraxis als Menschenrechtsverletzung zu ächten. Sie, die selbst keinen Anwalt hatten, sind mit dieser Forderung die Anwälte der Kinder, Jugendlichen und Alten von heute. Die Lebensgeschichten der Heimkinder erschüttern; ihr Plädoyer, dass sie sich nicht wiederholen dürfen, hat große Kraft.

Der Tagesspiegel 19.12.2006
Parlament soll Unrecht an Heimkindern anerkennen

Berlin - Der Bundestag soll in einer Entschließung das Unrecht der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren moralisch würdigen. „Das wäre ein erster Schritt, mit dem der Bundestag sein Bedauern über die damaligen Zustände ausdrücken könnte“, sagte der grüne Bundestagsabgeordnete Josef Winkler dem Tagesspiegel. Winkler gehört als Obmann dem Petitionsausschuss des Bundestags an, der in der vergangenen Woche die ehemaligen Heimkinder erstmals angehört hatte.
Andere Maßnahmen wie etwa die Anerkennung von Rentenzeiten könnten in weiteren Schritten folgen. „Es wäre ein wichtiger Anfang gemacht, wenn der Bundestag die Verantwortung der staatlichen Instanzen anerkennt“, sagte Winkler. Er habe den Eindruck gewonnen, dass „weit über die Einzelfallproblematik hinaus“ Unrecht geschehen sei.

In der frühen Bundesrepublik haben viele Heimkinder unter drakonischen Erziehungspraktiken gelitten; ihr Schicksal wurde lange verdrängt. Der hessische Landeswohlfahrtsverband sowie kirchliche Einrichtungen wie Caritas und Diakonie haben das Unrecht eingeräumt. Prälat Karl Jüsten, Bevollmächtigter der katholischen Kirche beim Bund, sagte dem Tagesspiegel: „An der Kirche soll es nicht liegen. Wir Kirchen arbeiten konstruktiv an der Aufarbeitung des Themas mit und sind mit den Anwälten der Betroffenen im Gespräch. Allerdings ist die Sach- und Rechtslage auch kompliziert.“

Der Petitionsausschuss wird Anfang nächsten Jahres eine weitere Anhörung mit Experten durchführen. tib/cas

Evangelischer Pressedienst epd Sozial 15. 12. 2006
"Beschwerden wurden mit Prügel erledigt"

Bundestag beschäftigt sich erstmals mit Schicksalen ehemaliger Heimkinder

Von Bettina Markmeyer

Berlin (epd). Der Petitionsausschuss des Bundestages hat sich am 11. Dezember in einer Anhörung über die Schicksale ehemaliger Heimkinder in den Nachkriegsjahrzehnten informiert. Gewalt, Demütigungen, Zwangsarbeit und sexuelle Misshandlungen waren keine Einzelfälle. Die Grünen fordern eine Entschuldigung des Parlaments. Die ehemaligen Heimkinder fordern ihre Anerkennung als Opfer von Menschenrechtsverletzungen.

Wäre Wolfgang F. nicht in den Nachkriegsheimen der jungen Bundesrepublik aufgewachsen, könnte er heute ein Handwerksmeister sein oder ein Finanzbeamter. Er könnte sich Anerkennung erworben haben und auskömmlich leben. Aber der freundliche, kleine Mann lebt von 286 Euro Rente, die ihm der Staat mit Sozialhilfe aufstockt und hat 18 Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht.
Wolfgang F. ist eines der ehemaligen Heimkinder, die dem Petitionsausschuss ihren Leidensweg in kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen der 1950er und 1960er Jahre geschildert haben. 184 Mal, sagt er, sei er ausgerissen. Er war in verschiedenen staatlichen Heimen in Nordrhein-Westfalen. Selbst in die Psychiatrie wurde er gesteckt, weil er immer wieder weglief: "Die Gitterstäbe dort waren dicker als die, die ich später im Knast gesehen habe."
Für seine Fluchten klaute er ein Fahrrad, dann ein Moped, weil sie ihn immer weiter weg von zu Hause unterbrachten. Unterwegs besorgte er sich was zu essen, "Geld hatten wir ja nicht". So fing seine kriminelle Karriere an. Später war er Strichjunge und noch später Zuhälter. Den Ausstieg aus dem kriminellen Milieu hat er allein geschafft. Das ist gut 20 Jahre her. "Der Staat hat uns in den Heimen zu Ver- brechern erzogen und dafür nachher bestraft", sagt Wolfgang F. heute.
Unbezahlte Arbeit soll bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden
Der Verein ehemaliger Heimkinder, dem er sich angeschlossen hat, hat im Bundestag eine Petition eingereicht. Darin fordern die früheren Zöglinge, dass sie als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden. Unbezahlte Arbeit, die ihnen abverlangt wurde, soll bei der Rentenberechnung berücksichtigt werden. Die menschenverachtenden Erziehungspraktiken müssten nachträglich geächtet werden, verlangen die Betroffenen.
Neun Männer und Frauen, unter ihnen Wolfgang F., haben den Abgeordneten den unbarmherzigen Heimalltag geschildert. Sie mussten als Kinder und Jugendliche ohne Bezahlung bis zu 16 Stunden am Tag arbeiten, in der Landwirtschaft, als Bäcker, Waschfrauen, Büglerinnen, Heizer, Putzfrauen. Sie wurden von Erziehern sexuell misshandelt. Prügel, Einzelhaft und Einlieferungen in die Psychiatrie gehörten zu den Disziplinierungsmitteln. Die Opfer leiden heute unter Angststörungen, Depressionen, Schmerzen.
"Uns beschweren?", sagt Wolfgang F., "das konnten wir damals nicht. Beschwerden wurden durch Prügel erledigt." Dass 1961 die staatliche Heimaufsicht eingerichtet wurde, sei den Kindern in den Anstalten nie zu Ohren gekommen. Wolfgang F. wurden für fünfeinhalb Jahre schwere Arbeit in der Landwirtschaft insgesamt 254 Mark zugebilligt, ein paar Pfennige pro Stunde, berichtet er - selbst dieses Geld habe er nie bekommen.
Die Jugendhilfe-Expertin und SPD-Abgeordnete Marlene Rupprecht, die sich für die Anhörung eingesetzt hatte, wertete sie als "sehr guten Start" zur Aufarbeitung des Unrechts. Der Petitionsausschuss habe zum ersten Mal überhaupt Betroffene angehört. Sie habe ihre Kollegen "nie so still erlebt", sagte Rupprecht und sehe "eine große Bereitschaft, Lösungen zu suchen". Es gehe nun um Einzelfragen, die Zeit bräuchten.
"Staatliche Stellen haben systematische Menschenrechtsverletzungen zugelassen"
Die Grünen wollen eine Entschuldigung des Bundestages für das Unrecht in der Heimerziehung in den Nachkriegsjahrzehnten erreichen. Der Innen-Experte der Fraktion, Josef Winkler, sagte epd sozial, wünschenswert sei eine fraktionsübergreifende Entschließung. Das Parlament müsse sich dazu bekennen, "dass staatliche Stellen systematische Menschenrechtsverletzungen zugelassen haben".
In einem zweiten Schritt müsse es um die Anerkennung der Forderungen der Opfer und finanzielle Entschädigungen gehen, erläuterte Winkler. Die staatliche Heimaufsicht habe völlig versagt.
Bei den Misshandlungen in staatlichen und kirchlichen Anstalten handele es sich "nicht um Einzelfälle, sondern um systematische Handlungen". Sie reichten von "Freiheitsberaubung über eine lange Liste von Delikten bis hin zu Folterhandlungen", so Winkler, der auch Mitglied des Petitionsausschusses ist.
Das Schicksal der früheren Heimkinder war zu Beginn des Jahres durch ein Buch des "Spiegel"-Autors Peter Wensierski mit dem Titel "Schläge im Namen des Herrn" bundesweit bekannt geworden. Viele Opfer haben Jahrzehnte über ihre traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Das Diakonische Werk und der Deutsche Caritasverband haben den Betroffenen eine Aufarbeitung des Unrechts in den kirchlichen Heimen zugesagt.

Hamburger Abendblatt 15.12.2006
Ein Trauma, das man sein Leben lang behält

Hunderttausende Kinder wurden nach dem Krieg in kirchlichen und staatlichen Heimen mißhandelt. Erst jetzt, viele Jahre später, wird die düstere Geschichte der deutschen Heimkinder aufgearbeitet.
Von Christian-A. Thiel
Hardy trat schuldbewußt ins Dienstzimmer , und ehe er sich's versah, schlug ihn der Erzieher mit solcher Wucht links und rechts ins Gesicht, daß er regelrecht taumelte und noch lange ein Dröhnen in den Ohren verspürte. (aus "Misshandelte Zukunft")
14 Jahre hat Harry Graeber in staatlichen Heimen verbracht. In dieser Zeit wurde er von seiner Familie und den üblichen sozialen Gepflogenheiten entfremdet. Graeber, der heute als selbständiger Betreuer für kranke und behinderte Menschen arbeitet, hat seine Erfahrungen und die seiner Geschwister in Heimen wie Pfeifferhütteund Lichtenau, wie Beiserhausund Buchenbühlaufgeschrieben ("Misshandelte Zukunft"). Graeber kämpft dafür, daß sich Kirchen und staatliche Organisationen ihrer Verantwortung stellen.
JOURNAL: Wann ist Ihnen klargeworden, daß Ihre Jugend ganz anders verlief als die vieler gleichaltriger junger Menschen?
HARRY GRAEBER: Das wurde mir erst im Rahmen einer Therapie klar. Ich hatte Probleme, mich im Leben zurechtzufinden, war orientierungslos. Wir hatten in den Heimen einen sehr eng abgesteckten Rahmen, und wer den überschritt, wurde bestraft. Man durfte kein Geld besitzen, kein Radio, keine Armbanduhr. Plötzlich, mit 21, ich schon mit 18, wurde man in die freie Wildbahn gejagt - und war darauf überhaupt nicht vorbereitet. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis ich gemerkt habe, daß ich den Makel, den ich in mir trage, aufarbeiten muß, um überleben zu können.
JOURNAL: Sie haben es geschafft. Andere sind weniger gut mit ihrem Schicksal fertiggeworden.
GRAEBER: Auf jeden Fall. Ich habe von Suizidfällen gehört, manche wurden straffällig. Viele haben nie die Kurve gekriegt. Gerade heute habe ich mit einer Frau, die auch lange im Heim war, über ihre Lebensgeschichte gesprochen. Sie erzählte mir, daß sie ihr Erbrochenes hatte essen müssen. So etwas war wohl ganz normal.
JOURNAL: Wann wurde die Geschichte der Heime zum Thema?
GRAEBER: Mit den 68er-Studentenunruhen. Zumindest wurde in dieser Zeit eine Reform begonnen, wenn auch nur zögerlich. Zum Gesprächsthema wurden wir Heimkinder durch die späteren Terroristen Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, die damals eine "Heimkampagne" gestartet haben und die Bewohner zur Gegenwehr aufrufen wollten. Aber die Heime wiesen jede Kritik zurück.
JOURNAL: Wie funktionieren die Heime heute?
GRAEBER: Es hat sich schon sehr viel Positives getan. Wir hatten damals eine Gruppenstärke von 28 Jungen, das ist jetzt auf kleine Gruppen reduziert worden. Man darf sich auch mal im Schlafraum aufhalten und zurückziehen. Wir wurden noch in einem Aufenthaltsraum zusammengepfercht, das war eine explosive Mischung, lauter Halbstarke zusammen.
JOURNAL: Wie stand es mit der Qualifikation des Personals?
GRAEBER: Als ich damals ins Heim kam, waren unsere Erzieher meist ungelernte Leute, die man von der Straße geholt hat, Arbeitslose. Es gab da zum Beispiel einen ehemaligen Marinesoldaten, der mit uns sehr militärisch umging.
JOURNAL: Welches Weltbild, welche pädagogische Idee stand hinter dieser Behandlung der Jugendlichen?
GRAEBER: Das war noch sehr stark von den Vorstellungen der Hitler-Jugend geprägt: Härte, keinen Schmerz zeigen, keine Gefühle.

rbb Fernsehen -Stilbruch 14. 12. 2006
Buch: "Schläge im Namen des Herrn"

Der Autor Peter Wensierski schildert in seinem Buch "Schläge im Namen des Herrn" das Leid ehemaliger Heimkinder kirchlicher und staatlicher Heime. Nun hat er die Anhörung der Betroffenen vor dem Petitionsausschuss des Bundestags organisiert...
Eingesperrt, gedemütigt, gequält. Kinder wurden misshandelt. In Deutschland, in den 50er und 60er Jahren. Wie Marlies E. wurden hunderttausende Kinder ins "Heim" gesteckt. Viele verließen die Anstalten oft erst nach Jahren – als gebrochene Menschen. Aus Scham schwiegen sie, bis heute.

Marlies E. - ehemaliges Heimkind:
"Ich habe die ganzen 43 Jahre auch nicht mit meinen Kindern drüber gesprochen. Mit keinem, auch mit Geschwistern nicht."
Marlies war 17 und schwanger. Das war damals Grund genug für die Heimeinweisung; auch Heidelore wurde jahrelang "weggesperrt", einfach so.

Heidelore R. - ehemaliges Heimkind:
"Ich war ein Kind von 12 Jahren. Es gab keinen Grund – außer dass meine Mutter tot war."

Ihre Heimzeit ist ein lebenslanges Trauma. Neun dieser "Zöglinge" haben nun über die Verbrechen von damals geredet. Vor dem Petitionsausschuss im Bundestag. Ein historischer Tag. Sie erhoffen eine Entschuldigung, vielleicht sogar eine Wiedergutmachung. Denn deutsche Behörden, die Landesjugendämter, haben sie ins Heim eingewiesen. Dass ihre Erlebnisse überhaupt Gehör finden, verdanken sie einem Buch. Kindheitserinnerungen aus Deutschland:

Dietmar Krone - ehemaliges Heimkind:
"Mir fielen beim Abräumen im Speisesaal zwei Teller runter. Daraufhin bekam ich von dem Erzieher einen Schlag in den Magen, ich stürzte zu Boden. Dann trat er auf meine Schulter ein. Der Arm ist gebrochen, es war ein Muskel- und Sehnenabriss vom Knochen. Ich habe höllischste Schmerzen gehabt. Ich habe geschrien, das tut unglaublich weh. Da wurde aber kein Arzt gerufen, sondern ich wurde, weil ich mich so bemerkbar machte, in den Dunkelraum gesperrt. Dort blieb ich drei Tage und drei Nächte drin."

Dunkelraum. Besinnungszimmer – solche Zellen gab es quasi in allen Heimen. Hier wurden Menschenrechte mit Füßen getreten.

Peter Wensierski - Autor:
"Die Politik hat bisher nichts vom Schicksal der Heimkinder wissen wollen. Keine Partei hat sich bisher für die Heimkinder stark gemacht, obwohl es die politischen Parteien waren, die auch in den 50er, 60er Jahren zugesehen haben, wie diese Kinder hinter den Mauern der Erziehungsheime verschwanden und dort gedemütigt, erniedrigt und wo sie eingesperrt wurden. Wo sie für ihr Leben lang geschädigt worden sind."

3.000 Heime gab es damals; die meisten davon unter katholischer Leitung. "Bete und arbeite" predigten die Schwestern; die Peitsche war allgegenwärtig.
Beklemmend eindringlich schildert der Film "Die unbarmherzigen Schwestern" den Heimalltag in Irland. Als der Film 2003 in Deutschland lief, erkannten viele ihr eigenes Schicksal wieder. Arbeit bis zur Erschöpfung und sadistische Strafen für geringste "Vergehen". Barmherzigkeit kannten die Nonnen nicht, erzählt Marlies. Selbst während der Geburt ihrer Tochter wurde sie von Nonnen schikaniert.

Marlies E.:
"Ich lag da, vor Schmerzen gekrümmt, und die Schwester schimpfte wieder, weil alles 'vollbesudelt' war. Und dann musste ein Mädchen einen Eimer Wasser holen und einen Wischer, und dann musste ich das wegmachen."

Als sie ihre Tochter Jahre später aus dem Heim holen durfte, ist ihr Kind aufgrund fehlender medizinischer Hilfe schwer behindert – für's ganze Leben. Marlies E. hat bis heute keine Entschuldigung gehört. Nicht einmal die Arbeitsjahre aus der Heimzeit werden für die Renten anerkannt. An eine Entschädigung – wie sie auch Zwangsarbeiter erhalten haben - will die "Caritas" als Trägerin vieler Heime nicht denken.

Claudia Beck - Pressesprecherin Caritas:
"Der für uns gravierende Unterschied ist, dass Heime schon immer Kinder und Jugendlichen in schwierigen Situationen helfen wollten, und wenn es jetzt in einer bestimmten Zeit zu Situationen und zu Wirkungen gekommen ist, die man nicht wünschen kann – also die ganz ganz schlimm sind – dann muss man überlegen, wie man im Einzelfall helfen kann. Also das, was ich vorher versucht habe, deutlich zu machen. Ein Entschädigungsfonds ist aus unserer Sicht nicht der richtige Weg."

Eine Milliarde Euro zahlten Staat und Kirche in Irland in den Entschädigungsfonds für die Opfer der Heimerziehung. Ob es in Deutschland jemals soweit kommen wird, ist offen. Die Anhörung vor dem Petitionsausschuss ist ein erster Schritt. Noch wollen sich die Abgeordneten nicht äußern, was sie den gequälten Kindern anbieten können.

Dietmar Krone:
"Man kann sich für Geld keine neue Seele kaufen. Eine Entschuldigung würde für die Verarbeitung sehr gut sein. Wenn man hören würde: Es ist halt schief gelaufen. Es tut uns Leid! Und wir möchten uns ENTSCHULDIGEN!"

Krank, arm, traumatisiert: So blickt Dietmar Krone auf die Trümmer seines Lebens. Wie ihm ergeht es Hunderttausenden! Ein Skandal.

Ein Beitrag von Petra Dorrmann

Der Tagesspiegel 13.12.2006 - Das Trauma vom frühen Leid im Heim

Berlin - Einweisungsgrund: überforderter Vater. Oder frühe Schwangerschaft. Oder sittliche Verwahrlosung, die sich an langen Haaren und Lernschwierigkeiten zeigte. Zweieinhalb Stunden hat sich der Petitionsausschuss des Bundestags am Montag Lebensgeschichten ehemaliger Heimkinder angehört, die in den 50er und 60er Jahren in kirchlichen und staatlichen Fürsorgeanstalten Schläge, Demütigungen, Missbrauch, Schwerarbeit erdulden mussten. „Kein Tag, an dem ich nicht mit Angst ins Bett ging und mit Angst aufstand“, sagt Wolfgang Rosenkötter, der als Halbwüchsiger in Freistatt im Teufelsmoor frühmorgens mit Holzschuhen zum Torfstechen ausrücken musste. Dietmar Krone ist schwerbehindert: „Meine linke Schulter wurde zertreten, weil mir zwei Teller aus der Hand fielen.“ Er erzählt von sexuellem Missbrauch und willkürlicher Psychiatrisierung. Im katholischen Vincenz-Heim, Dortmund, stand eine 16-Jährige zehn Tage nach der Entbindung im Bügelsaal, die Brüste hochgebunden, damit sie nicht mehr stillen konnte. „Des Sonntags durfte ich meine Tochter für eine Stunde sehen“, erzählt sie den Abgeordneten. Vorgestellt hat sie sich als M. E.: Bis heute suchen viele Betroffene Schutz in der Anonymität.

Der Petitionsausschuss hört Geschichten eines lange verdrängten Unrechts. Zu Beginn dieses Jahres hat das Buch „Schläge im Namen des Herrn“ des Journalisten Peter Wensierski auf das Schicksal dieser Kinder aufmerksam gemacht. Der Verein der ehemaligen Heimkinder formierte sich und richtete eine Petition an den Bundestag. Sie fordert die Anerkennung der erlittenen Menschenrechtsverletzungen, die Ächtung der damaligen Erziehungspraxis, Wiedergutmachung in Form von Rentenanerkennungszeiten und Finanzierung von Therapien.

Michael-Peter Schiltsky, Geschäftsführer des Vereins, betont, dass nicht in allen Heimen solche Praktiken üblich waren. Alle vom Verein vorgetragenen Fälle aber seien belegt. Der Hamburger Rechtsanwalt Gerrit Wilmans spricht von einer Opfergruppe von bis zu 500 000 Betroffenen. Die kirchlichen Träger Caritas und Diakonie haben inzwischen eingeräumt, dass vielen Kindern Unrecht geschehen sei, und eine Aufarbeitung zugesagt. Der hessische Landeswohlfahrtsverband, Träger zahlreicher Einrichtungen, hat um Entschuldigung gebeten.

Die Erfüllung der Petitionsforderungen sei nun „der zweite und dritte Schritt“, sagt Rosenkötter nach der Anhörung. Er habe nicht mit so viel „Empathie und Verständnis“ gerechnet; die Obleute aller Fraktionen wollten dafür Sorge tragen, dass weitere Schritte eingeleitet werden. An der Anhörung haben auch Vertreter der Ministerien für Justiz, Inneres, Familie und Gesundheit teilgenommen.

Bis heute fehle für die damalige Erziehungspraxis das Unrechtsbewusstsein, sagt Schiltsky. Das Argument, Schläge entsprächen nun einmal dem damaligen Zeitgeist, sei „eine erbärmliche Verharmlosung“. Er sei rechtlos aufgewachsen. Es handle sich um Menschenrechtsverletzungen, die anerkannt werden müssten, auch um künftige zu verhindern, fordert Schiltsky. Tissy Bruns

Aachener Nachrichten – 13.12.2006 – Artikel von Bettina Markmeyer:
"Unsere Beschwerden wurden durch Prügel erledigt"

Petitionsausschuss des Bundestages beschäftigt sich mit dem Schicksal
von Kindern aus kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen
Berlin. Wäre Wolfgang F. nicht in den Nachkriegsheimen der jungen
Bundesrepublik aufgewachsen, könnte er heute ein Handwerksmeister sein
oder ein Finanzbeamter. Er könnte sich Anerkennung erworben haben und
auskömmlich leben. Aber der freundliche, kleine Mann lebt von 286 Euro
Rente, die ihm der Staat mit Sozialhilfe aufstockt und hat 18 Jahre seines
Lebens in Gefängnissen verbracht.

Wolfgang F. ist eines der ehemaligen Heimkinder, die dem Petitionsausschuss des Bundestags jetzt ihren Leidensweg in den kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen der 1950er und 1960er Jahre geschildert haben. 184 Mal, sagt er, sei er ausgerissen. Er war Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre in verschiedenen staatlichen Heimen in Nordrhein-Westfalen. Selbst in die Psychiatrie wurde er gesteckt, weil er nicht aufgab und immer wieder weglief:“ Die Gitterstäbe da waren dicker als die, die ich später im Knast gesehen habe.

Um den Weg nach Hause zu schaffen, klaute er ein Fahrrad, dann ein Moped, weil sie ihn immer weiter weg von zu Hause unterbrachten. Unterwegs besorgte er sich was zu essen, „Geld hatten wir ja nicht“. So fing seine kriminelle Karriere an. Später war er Strichjunge und noch später Zuhälter. Den Ausstieg aus dem kriminellen Milieu hat er allein geschafft. Das ist gut 20 Jahre her. “Der Staat hat uns in den Heimen zu Verbrechern erzogen und dafür nachher bestraft“, sagt Wolfgang F. heute.

„Der Staat hat uns in den Heimen zu Verbrechern erzogen.“
Wolfgang F., lange Jahre in Kinderheimen untergebracht
Der Verein ehemaliger Heimkinder, dem er sich angeschlossen hat, hat im
Bundestag eine Petition eingereicht. Darin fordern die früheren Zöglinge, dass sie als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden. Unbezahlte Arbeit, die ihnen abverlangt wurde, soll bei der Rentenberechnung
berücksichtigt werden. Die Kinderarbeit in den Heimen sei Unrecht gewesen, die menschenverachtenden Erziehungspraktiken müssten nachträglich geächtet werden, verlangen die Betroffenen. Neun Männer und Frauen, unter
ihnen Wolfgang F., haben den Bundestagsabgeordneten den unbarmherzigen
Heimalltag geschildert. Sie mussten als Kinder und Jugendliche ohne
Bezahlung bis zu 16 Stunden am Tag arbeiten, in der Landwirtschaft, als
Bäcker, Waschfrauen, Büglerinnen, Heizer, Putzfrauen. Sie wurden von
Erziehern sexuell Misshandelt, Prügel, brutale Strafen, Einzelhaft und
Einlieferungen in die Psychiatrie gehörten zu den Disziplinierungsmitteln. Sie leiden heute unter Angststörungen, Depressionen, Schmerzen.

„Beschweren?“, sagt Wolfgang F., Das konnten wir damals nicht. „Unsere
Beschwerden wurden durch Prügel erledigt.“ Dass 1961 die staatliche
Heimaufsicht eingerichtet wurde, sei den Kindern in den Anstalten nie zu Ohren gekommen. Stellen, an die sie sich hätten wenden können, gab es nicht. Ihm wurden für fünfeinhalb Jahre schwere Arbeit in der Landwirtschaft insgesamt 254 Mark zugebilligt, ein paar Pfennige pro Stunde, berichtet Wolfgang F.- selbst dieses Geld habe er nie bekommen. Die Öffentlichkeit war ausgeschlossen, als die ehemaligen Heimkinder vor den Abgeordneten im Petitionsausschuss ihre Berichte vorlasen. Wolfgang Rosenkötter, Vorstandsmitglied des Vereins, berichtete anschließend, die Abgeordneten hätten viel Verständnis und eine große Empathie gezeigt. Der Geschäftsführer des Vereins Michael-Peter Schiltsky, erklärte, ihm sei aus allen Fraktionen signalisiert worden, dass die ehemaligen Heimkinder bei ihren Forderungen unterstützt würden.

Die Jugendhilfe-Expertin und SPD-Abgeordnete Marlene Rupprecht, die sich für die Anhörung eingesetzt hatte, wertete sie gestern auf Nachfrage als „sehr guten Start“ zur Aufarbeitung des Unrechts. Der Petitionsausschuss habe zum ersten Mal überhaupt Betroffene angehört. Sie habe ihre Kollegen „noch nie so still erlebt“, sagte Rupprecht und sehe „eine große Bereitschaft, Lösungen zu suchen“. Es gehe von Menschenrechtsverletzungen bis zur Rentenforderungen nun um Einzelfragen, die koordiniert werden müssen und Zeit bräuchten.

„Ich habe meine Kollegen noch nie so still erlebt.“
Marlene Rupprecht, SPD-Mitglied des Petitionsausschusses
Das Schicksal der früheren Heimkinder war zu Beginn des Jahres durch ein
Buch des „Spiegel“-Autors Peter Wensierski mit dem Titel „Schläge im Namen des Herrn“ bundesweit bekannt geworden. Viele Opfer haben Jahrzehnte über ihre traumatischen Erlebnisse geschwiegen. Das Diakonische Werk und der Deutsche Caritasverband haben den Betroffenen eine Aufarbeitung des Unrechts in den kirchlichen Heimen zugesagt (epd)

Hamburger Abendblatt 12. 12. 2006
Heimkinder wollen als Opfer gelten
BERLIN -
Neun ehemalige Heimkinder aus kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen haben vor dem Bundestags-Petitionsausschuss über ihre Erfahrungen gesprochen. Der "Verein ehemaliger Heimkinder" fordert in einer Petition unter anderem die Anerkennung betroffener Heimkinder als Opfer von Menschenrechtsverletzungen, die Klärung von Rentenanwartschaften aufgrund unbezahlter Arbeit sowie die Finanzierung von Langzeittherapien. Zwischen 1950 und 1970 wurden Hunderttausende Kinder und Jugendliche in rund 3000 Heimen erzogen. Rund 80 Prozent der Heime waren kirchliche Erziehungsanstalten. Nach Angaben des Deutschen Caritasverbandes haben sich nach Medienberichten über die Misshandlung ehemaliger Heimkinder rund 40 Betroffene beim Verband gemeldet. Caritas-Sprecherin Claudia Beck sagte, die Einrichtungen und Dienststellen der Caritas seinen angewiesen, Bescheinigungen über mögliche Rentenansprüche auszustellen. sap, KNA

Heidenheimer Zeitung + Bietigheimer Zeitung - SWP - 12.12.2006
ERZIEHUNG / Ehemalige Heimkinder reden in Berlin über ihr Schicksal
Die Zeit des Schweigens ist vorbei
Nicht nur als Arbeitskräfte missbraucht - Hoffnung auf Anerkennen der Spätfolgen

Aus Scham haben ehemalige Heimkinder lange geschwiegen. Nun bringen sie die Zustände in staatlichen und kirchlichen Kinderheimen in den 50er und 60er Jahren ans Licht. Unter den Folgen leiden einstige Zöglinge noch heute.
Gestern suchten sie das Gespräch mit der Politik. "Strenge hat noch keinem geschadet." Einen Satz wie diesen können Menschen, die in den 50er und 60er Jahren in kirchlichen und staatlichen Fürsorgeheimen waren, wohl nicht mehr hören. Strenge, Zucht und Drill mussten sie dort im Übermaß erdulden. Die wenigsten von ihnen hatten sich tatsächlich etwas zu schulden kommen lassen - sieht man davon ab, dass im ein oder anderen Fall der Rock eines Mädchens zu kurz, die Antwort auf einen Kommentar Erwachsener zu frech, das Verhalten zu aufmüpfig war. Es genügten kleine Anlässe, um in die Fänge staatlicher und kirchlicher Fürsorge zu geraten. "Alleinerziehenden Müttern musste immer gegenwärtig sein, dass das Jugendamt ein Auge auf sie hatte. Behördliche Willkür und Macht-Missbrauch waren an der Tagesordnung", schreibt Michael-Peter Schiltsky vom Verein ehemaliger Heimkinder. Die Spießigkeit der damaligen Zeit war beispiellos, die Ungeduld mit dem unbequemen Nachwuchs wohl auch. Schließlich mussten sich Väter und Mütter ihren Anteil am Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland hart verdienen. Überforderten Eltern und Behörden erschienen die 3000 Heime meist in kirchlicher Trägerschaft als idealer Ort zur innerlichen Kurskorrektur rebellischer Sprößlinge. Doch: "Die wirkliche Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen begann nicht selten erst im Heim", sagen Betroffene von einst heute. Kinder und Jugendliche waren vor allem als unentgeltliche Arbeitskraft auf Feldern, im Moor oder in den Wäschereien der Heime gern gesehen. Investitionen in die Bildung der Zöglinge wurden vernachlässigt, bei Mädchen ganz besonders. "Wir wurden weder für das Leben, noch zum Leben erzogen, sondern gingen mit dem Gefühl in die Welt, am besten wäre es, Du wärest tot, Du bist doch sowieso zu nichts nutze", schreibt Schiltsky. Diese Botschaft wurde oft mit größter Brutalität vermittelt. Prügel mit Lederriemen und Schläuchen gehörten in vielen Heimen zum Alltag, die Demütigung von Bettnässern und Essensentzug ebenso. Vom Zwang, Erbrochenes aufessen zu müssen, berichten ehemalige Heiminsassen. Auch die "Besinnungszimmer" haben sich ihnen eingeprägt. Dort wurden Kinder tagelang bei Dunkelheit eingesperrt. Verantwortlich dafür waren so genannte Erzieher: Ordensleute und Geistliche ohne jegliche pädagogische Ausbildung, sadistische Angestellte, im Extremfall auch nachweislich ehemalige Nazischergen, die ihre verquere Weltsicht und Frustration an den Kindern auslebten. "Mächtig viele Einzelfälle" Es waren "Einzelfälle, die sich allerdings mächtig häuften", sagt Theo Breul vom Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfen (BVkE). Von 500 000 Betroffenen in Deutschland geht der Verein ehemaliger Heimkinder aus. Ihnen hat diese Form der "Erziehung" sehr geschadet. Viele ehemalige Heimkinder sind traumatisiert - und zwar noch heute. Kleinigkeiten wie eine Gürtelschnalle oder der Geruch einer faulen Kartoffel, die an Misshandlungen oder Karzertage erinnern, können Albträume auslösen, Menschenansammlungen zu Panikattacken führen, Berührungen können als unerträglich empfunden werden, weil sexueller Missbrauch kein Einzelfall war. Nur wenige Betroffene konnten als Erwachsene mit ihrem Partner oder Freunden über die Jugendzeit sprechen. Sie litten zu sehr unter dem Makel, ein Heimkind gewesen zu sein. Auch die Scham über Erlittenes erstickte für Jahre jedes laute Aufbegehren. Ebenso die Politik, die sich blind und taub gegenüber den Zuständen in den Erziehungsanstalten stellte. "Die zuständigen kirchlichen und staatlichen Aufsichtsbehörden hätten die Einhaltung der Grundrechte in den Heimen gewährleisten müssen", betonen Betroffene. Doch sie versagten. Die Opfer haben das Unrecht nicht vergessen. Auch weil sie unter den Folgen noch zu leiden haben. · Wegen der erzwungenen unbezahlten Arbeit im jungen Erwachsenenalter fehlen den 50- bis 60 Jährigen heute Rentenbeitragsjahre. · Wegen der unzulänglichen Schulbildung blieben Heimkindern qualifizierte und damit auch besser bezahlte Arbeitsplätze verwehrt, mit entsprechenden Folgen für die Altersversorgung. · Wegen der gesundheitlichen und psychischen Spätfolgen mussten viele Betroffene frühzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Nun drohen sie zu verarmen. Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Gestern haben Vertreter des Vereins ehemaliger Heimkinder dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages erstmals ihr Leid geschildert. Die Betroffenen kämpfen heute um ihre Anerkennung als Opfer von Menschenrechtsverletzungen, sie fordern die Anerkennung ihrer Arbeitszeit bei der Rentenberechnung und gegebenenfalls eine Nachzahlung der nicht geleisteten Sozialversicherungsbeiträge durch die Heimträger, ebenso die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses unrühmlichen Kapitels deutscher Sozialgeschichte. Und sie hoffen auf eine Entschuldigung. Ein Anfang ist gemacht. Das Diakonische Werk und die Caritas blocken das Thema nicht mehr ab und boten Betroffenen Unterstützung bei der Suche nach Dokumenten über die Jahre unter kirchlicher Fürsorge an. Ein klares Schuldbekenntnis ist das noch nicht. Irland beispielsweise ist da schon weiter. Dort wurde den rund 15 000 Opfern kirchlicher Erziehungsheime bereits eine Entschädigung gezahlt.
ELISABETH ZOLL

inforadio rbb 11.12.2006 - Interview
Ein unrühmliches Kapitel deutscher Sozialgeschichte
 
Sie wurden geschlagen, erniedrigt und eingesperrt. Unter oft unvorstellbaren Bedingungen wuchsen in den 50er und 60er Jahren Hundertausende Kinder und Jugendliche in kirchlichen Heimen auf, Heimen mit so schönen Namen wie: "Zum Guten Hirten", "St. Hedwig" oder "Marienheim". Doch christlich ging es in diesen Einrichtungen nicht immer zu: "Wir waren Zwangsarbeiter", sagen die Kinder von damals heute. Ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte.

Die ehemaligen Heimkinder sind nun zwischen 40 und 65 Jahre alt, und heute gibt es zum ersten Mal eine Anhörung zu diesem Problem vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. 

Michael-Peter Schiltsky, Verein ehemaliger Heimkinder. Er selbst war eines dieser Heimkinder.

Das Interview im Wortlaut:

Sabine Porn: Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit?

Michael-Peter Schiltsky: Sehr sehr verschiedene. Das geht von täglicher Arbeit über Schläge, die es gegeben hat bis hin zu sexuellem Missbrauch.

Porn: Haben Sie damals überhaupt darüber sprechen können, oder ist das in Ihrem Herzen verschlossen gewesen?

Schiltsky: Es ist letztendlich so, wenn man in so einem Heim ist - im Heim besteht folgende Situation: Alle anderen sind gleich Betroffene, das heißt, man stellt zwar fest, dass es nicht besonders toll ist, da wo man gerade ist, aber da es allen anderen genauso geht, empfindet man in dem Moment nicht unbedingt den Verlust, den man eigentlich erleidet. Das kommt dann später, das kommt dann, wenn man in eine andere Lebenssituation hineingerät.

Porn: Das heißt mit anderen Worten, damals haben Sie die Situation "fast als normal" empfunden?

Schiltsky: Nein, das nicht. Sondern es war so, dass man natürlich keinen Gefallen daran gefunden hat, wenn man regelrecht verprügelt worden ist - ich differenziere jetzt zwischen jemand kriegt eine Ohrfeige oder jemand wird verprügelt - das heißt, es wird ein Gegenstand genommen, und auf einem herumgekloppt. Es ist natürlich so, dass man etwas erlebt, dass man nicht als schön empfindet, aber man weiß eigentlich nicht, dass es schöner geht.

Porn: Nun hat es sehr lange gedauert...

Schiltsky: Wegen Hilflosigkeit auch.

Porn: Ja, wegen Hilflosigkeit. Nun hat es sehr lange gedauert - heute erst gibt es eine Anhörung im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Warum hat es so lange gedauert, bis dieses Thema öffentlich wurde?

Schiltsky: Man muss klar sehen, es hat eigentlich so lange nicht gedauert. Es ist nur so, dass die Reaktionen erst jetzt kommen. Es gibt bereits Berichte von ehemaligen Betroffenen, wenn Sie nehmen das Buch von Peter Brosch: "Fürsorge-Erziehung, Heimterror und Gegenwehr", das ist 1971 erschienen. Dann gab es 1980 einen Film, den Michaele Scherenberg für den Hessischen Rundfunk gemacht hat, in dem ein ehemaliges Heimkind sich zu der Problematik geäußert und zu der daraus resultierenden Gewalt gegen seine Familie, die sich dann daraus ergeben hat, die er dann selber praktiziert hat. Das heißt, es gab schon in der Vergangenheit Berichte und Versuche der Aufarbeitung. Aber es gab damals keine Reaktionen.

Porn: Sie sagen, Veröffentlichungen gab es, aber es hat keine Reaktionen gegeben in den 70-er, in den 80-er Jahren. Warum nicht?

Schiltsky: Die Zeit war noch nicht reif. Es waren nur einzelne, die sich da geäußert haben. Es ist in der Wissenschaft zum Teil wahrgenommen worden, sehr wohl. Aber es hat keinen Weg nach draußen gefunden, weil vielleicht einfach auch von den Betroffenen noch zu wenig Reaktionen in der Richtung kamen.

Porn: Was sind denn die wichtigsten Forderungen, die Sie heute bei der Anhörung formulieren werden?

Schiltsky: Da geht es vorrangig um die Forderung der Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen; denn was damals geschehen ist, das waren Menschenrechtsverletzungen. Das Grundgesetz hat für alle Menschen, die in Deutschland gelebt haben, gegolten, also auch für Kinder. Folglich war die Unversehrtheit an Leib und Seele ein festgeschriebenes Gut, das jedem Menschen zusteht. Dann geht es um die Regelung berechtigter Forderungen, die sich aus dieser vorangegangenen Forderung ergeben. Dann geht es darum, dass eine Ächtung der Menschen verachtenden Erziehungspraxis in den Heimen dargestellt wird. Dann geht es um die Gewährleistung der Finanzierung von Therapien für Langzeit-Traumatisierte. Es geht darum, dass eine Anerkennung der moralischen Schuld auch des Staates gegeben wird, denn es geht hier darum, dass der Staat seine Heimaufsicht nicht wahrgenommen hat.

Kobinet 11.12.2006
Ehemalige Heimkinder vor dem Petitionsausschuss

Berlin (kobinet) Vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages haben heute ehemalige Heimkinder die Ächtung der menschenverachtenden Erziehungspraxis in Heimen während der Zeit von 1945 bis 1975 verlangt. Ihre Anhörung ist das erste Resultat der im Auftrag des Vorstandes des Vereins ehemaliger Heimkinder eingereichten Petition an den Bundestag. Darin wird die Anerkennung betroffener ehemaliger Heimkinder als Opfer von Menschenrechtsverletzungen und die Regelung berechtigter Ansprüche gefordert, die sich daraus ergeben.

Es geht zum Beispiel um die Klärung der Frage fehlender Rentenanwartschaften, die sich aus erzwungener unbezahlter Arbeit ergeben, für die keine Sozialversicherungsbeiträge entrichtet wurden. Ungeklärt ist bis jetzt auch die Finanzierung von Langzeittherapien der Traumata, an denen viele der Betroffenen noch heute leiden.

Bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses unrühmlichen Kapitels in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik sollten auch die ehemaligen Heimkinder in der DDR berücksichtigt werden. Aus der Erfahrung der Vergangenheit wird eine unabhängigen Heimaufsicht für alle heute existierenden Heimformen (auch der Altenpflegeeinrichtungen) gefordert, um zu gewährleisten, dass vergleichbares Unrecht in Deutschland in Gegenwart und Zukunft nicht mehr geschehen kann.

In seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch "Schläge im Namen des Herrn" berichtete Spiegel-Redakteur Peter Wensierski über die "verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik". In den frühen Jahren der Bundesrepublik und bis in die Siebziger hinein war die große Mehrheit der Erziehungsheime in konfessioneller Hand. Um als "verwahrlost" oder "gefallen" zu gelten und in eine solche Institution zu geraten, reichte es in jenen Jahren oft, Kind einer allein erziehenden Mutter zu sein. Ohrfeigen waren in den Heimen nicht selten noch eine milde Form der Bestrafung.

Die "schwarze Pädagogik" der unbarmherzigen Brüder und Schwestern sah auch schon mal vor, dass Kinder ihr Erbrochenes aufessen, auf scharfen Kanten knien oder harte Arbeit verrichten mussten. Heimkinder, so ein Betroffener im RBB-Inforadio heute, sind regelrecht verprügelt und manchmal auch sexuell missbraucht worden. sch

Leserbriefe zu diesem Artikel:
G. Stefan Beuerle schrieb am 16.12.2006, 19:22 :
Heimkinder vor dem Petitionsausschuss
Ausweislich meiner "Heimakte" wurde ich 1960 in einer kath. Besserungsanstalt (dies war neben dem Namen Fürsorge, in der Bevölkerung das verbreitetere Wort für Heim), von kath. Ordensbrüdern (Canisianer) zusammengeschlagen, weil ich nach Meinung der Jungen "über Religion nicht gut und richtig" (original Aktenzitat) gesprochen habe. Es heißt dazu ebenfalls wörtlich in der Akte:"Er erhielt einige Backpfeifen und gab dann nach." Was hier so verharmlos Backpfeifen genannt wird, war in Wirklichkeit eine Kanonade von Handkantenschlägen, die Mund-, Nasen- Ohrenbluten und Benommenheit auslösten.
Anschließend wurde ich noch über mehr als eine Woche bei Wasser und Brot in einem muffigen, dunklen Kellerverlies "isoliert". Hämisch wird dazu in der Akte angemerkt: "Die Jungen freuten sich sehr über seine Niederlage." Was war wirklich geschehen? Ich hatte ganz schlicht im Angesicht des Abendessens den Unterschied von koscher und treif erklärt. So ähnlich, wie das Innere der Besserungsanstalt, stelle ich mir die ewige Verdammnis,von der die Katholiken reden vor. Eine Entschuldigung für nachweisbare Diffamierungen, Entwürdigungen und erlittene körperliche Gewalt, hat es natürlich bis heute vom Episkopat und der heutigen Leitung des Hauses, in dem ich gequät wurde nie gegeben.

Arbeitsgemeinschaft für Kinder und Jugendhilfe AGJ 10.12.2006
Anhörung ehemaliger Heimkinder im Bundestag

Tausende Kinder und Jugendliche durchlitten in den 50er und 60er Jahren die Schrecken staatlicher und kirchlicher Heimerziehung. Nun hat ein Aufarbeitungsprozess begonnen, dem sich neben Fachverbänden auch die Politik und die Kirchen annehmen. Am 11.12.2006 findet eine Anhörung vor dem Bundestag statt, in der Details des Missbrauchs zur Sprache kommen sollen.
Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren in Deutschland: ein dunkles Kapitel. In dieser Zeit wuchsen Kinder und Jugendliche in staatlichen und kirchlichen Heimen unter oft menschenunwürdigen Bedingungen auf. In den sechziger Jahren gab es allein in Westdeutschland rund 3000 Heime mit mehr als 200.000 Plätzen, davon etwa 80 Prozent in konfessioneller Hand. Gut die Hälfte der Kinder war zwei bis vier Jahre lang in solchen Heimen, andere verbrachten ihre ganze Kindheit und Jugend in den oft hermetisch abgeschlossenen Häusern. Erst wenn sie das 21. Lebensjahr vollendet hatten und volljährig waren, wurden sie in die Gesellschaft entlassen. Heute leben vermutlich noch mindestens eine halbe, wahrscheinlich aber mehr als eine Million ehemaliger Heimkinder aus dieser Zeit in Deutschland. Sie sind zwischen 40 und 65 Jahre alt.

Die damalige Erziehungspraxis in den Kinder- und Jugendheimen war geprägt durch autoritäre und repressive Formen. Kinder und Jugendliche waren dort alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Erst die „Heimkampagnen“ 1969 lösten tief greifende Reformen der Heimerziehung aus. Öffentlichkeitswirksame Anprangerungen der die Insassen wenig respektierenden Anstaltserziehung, „Sit-Ins“ und Druck auf die Jugendbehörden bildeten damals den entscheidenden Impuls für die Demokratisierung und Öffnung der Heime. Doch viele der damaligen Kinder und Jugendlichen leiden noch heute unter dem in den Heimen Erlebten.

Interne Anhörung vor dem Bundestag:
Die politische und juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in deutschen Erziehungsheimen der Nachkriegszeit soll nun mit einer Anhörung ehemaliger Heimkinder im Bundestag am 11. Dezember 2006 beginnen. Darauf haben sich alle Parteien im Petitionsausschuss geeinigt.

Schwerpunkte des Aufarbeitungsprozesses:
Wichtige zu klärende Aspekte im Rahmen des Aufarbeitungsprozesses sind die Frage der Aufbewahrungsfrist für Akten, deren Freigabe und damit zusammenhängende Dokumentationspflichten und datenschutzrechtliche Regelungen. Die Einsicht in die eigene von der Einrichtung geführte Akte ist ein wichtiger Teil der persönlichen Aufarbeitung. Regelungsbedarf gibt es zudem mit Blick auf die Anerkennung der Arbeitsleistung der ehemaligen Heimkinder, die in den Erziehungsheimen trotz staatlicher Aufsicht vielfach als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, kaum entlohnt und in der Regel erst nach 1972 als sozialversicherungspflichtig behandelt wurden. Vertreten durch Rechtsanwalt Michael Witti, bekannt durch seinen erfolgreichen Kampf für NS-Zwangsarbeiter und Spezialist für Schadensersatz und Schmerzensgeld, haben einige ehemalige Heimkinder Wiedergutmachung für Arbeit und Misshandlungen eingeklagt.

An der nun begonnenen kritischen Auseinandersetzung mit der Heimerziehung in den Nachkriegsjahrzehenten beteiligen sich neben den Kirchen und der Politik auch Fachverbände der Kinder- und Jugendhilfe.
Am 9. Juni 2006 fand die bundesweite Tagung „Gemeinsam aus der Geschichte lernen – die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkampagne und die Heimreform“ statt, die vom Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV), der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGFH) und dem SPIEGEL-Buchverlag veranstaltet wurde. Im Mittelpunkt der Tagung standen die Fragen, wie die Aufarbeitung der 50er und 60er Jahre weitergeführt werden kann und wie die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung auch aufgrund der historischen Erfahrungen betrieben wurde. Die Tagungsdokumentation kann zum Preis von 8 ¤ beim Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) bestellt werden.

Der LWV Hessen hat als erster Landschaftsverband einstimmig eine Resolution verabschiedet, mit der er anerkennt, dass bis in die siebziger Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die „aus heutiger Sicht erschütternd“ ist. In der Erklärung, die von allen fünf Partei-Fraktionen der Verbandsversammlung getragen wurde, spricht er „sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in den Heimen aus und entschuldigt sich bei allen dort untergebrachten Kindern und Jugendlichen. Auch andere Landschaftsverbände in Deutschland planen solche Entschuldigungen, verbunden mit konkreten Schritten der Aufarbeitung.

Neue Ruhr Zeitung 9.12.2006
Schicksal: Heimkind. Roswitha Weber erzählt von den Schrecken ihrer Kindheit in den 50-er Jahren.

AACHEN/ESSEN. Das Schweigen ist gebrochen. "Es ist wie ein Befreiungschlag. Endlich wird über unser Schicksal gesprochen", sagt Roswitha Weber. Vier Jahrzehnte verdrängte die 61-Jährige die Erlebnisse ihrer Jugend, die Erinnerungen an ihre Kindheit im Heim. Bis sie einen Fernsehbericht über den "Verein ehemaliger Heimkinder" sah. "Ich fasste meinen Mut zusammen, rief dort an und brachte kaum ein Wort raus. Ich musste nur heulen", sagt die Leverkusenerin. Doch dann fing sie an zu reden: "Das tat gut. Ich hatte alles so lange in mir verborgen."
Ein typisches Verhalten, weiß Michael-Peter Schiltsky, Vereinsvorsitzender. "Viele Betroffene haben nie in ihrem persönlichen Umfeld, nie mit ihren Freunden und Partnern über ihre Erlebnisse gesprochen." Aus Angst, dass sie Abstand nehmen könnten. Aus Scham, Fragen wie, "Heimkind? Was haste denn angestellt?", beantworten zu müssen. Und wenn Schiltsky von Betroffenen spricht, dann meint er Tausende, "die in den 50er und 60er Jahren zwangsweise in ein Heim eingewiesen worden sind. Meist uneheliche Kinder oder Kinder von Alleinerziehenden, die unter der staatlichen Vormundschaft standen".
"Du bist nichts und du wirst auch nichts"
Unterstützt wird der Verein mittlerweile von Staranwalt Michael Witti, der sich durch seinen Einsatz für die NS-Zwangsarbeiter einen Namen machte und die Einrichtung eines Entschädigungsfonds erreichte. In einer Petition an den Bundestag fordert der Verein, dass die Betroffenen als Opfer von Menschenrechtsverletzungen anerkannt und ihre oft über Jahre geleisteten unbezahlten Arbeitseinsätze auf die Rentenansprüche angerechnet werden. Am Montag ist das Thema endlich in Berlin - eine Anhörung vor dem Petitionsausschuss des Bundestages angesetzt. Ein erster Schritt, in den auch Roswitha Weber einige Hoffnungen setzt.
Mit zwei Jahren ist sie als Tochter einer Analphabetin in ein Lippstädter, später in ein Dortmunder Heim gekommen. Von klein auf hieß es für sie: "Bloß nicht aus der Reihe tanzen. Gemeinsam aufstehen, gemeinsam baden, gemeinsam essen, gemeinsam schlafen, im Saal mit 20 Eisenbetten." Freundschaften zu schließen, "war fast unmöglich. Wir mussten ruhig sein. Manchmal unterhielten wir uns hinterm Rücken der Schwestern in Zeichensprache", sagt Roswitha Weber, die erst als Teenager erfuhr, dass sie fünf Geschwister hat, die mit ihr im selben Heim aufwuchsen. Warum man ihr das nicht früher sagte? "Ich weiß es nicht".
Und sie weiß auch nicht, warum sie als Fünfjährige mit den Beinen am Tischbein angebunden wurde, wenn sie beim Essen nicht still sitzen wollte. Oder warum sie gedemütigt wurde. Noch genau erinnert sie sich an jenen Tag, als sie zum Namenstag einer Nonne ein Gedicht aufsagen sollte. "Ich war acht und vergaß den Text. Da schrie die Nonne: ,Du hast hier nichts verloren, du bist nichts und du wirst nichts´".
"In eine fremde Welt rausgeschmissen"

Mit 14 lernte Roswitha Weber erstmals ein Leben außerhalb der Heimmauern kennen. "Ich wurde in eine fremde Welt rausgeschmissen" - auf den Bauernhof. "Dort musste ich malochen, im Stall und auf dem Feld. Essen gab´s am Katzentisch abseits der Familie." Aber: "Ich lernte ein Stück Freiheit kennen, durfte alleine Wasser kochen oder baden, wann ich wollte. Das war eine völlig neue Erfahrung für mich". Nach zwei Jahren musste Roswitha Weber zurück ins Heim nach Dortmund.
Eine Lehre durfte sie nicht machen. Stattdessen musste sie bügeln. "Stundenlang. Das waren Auftragsarbeiten für Firmen von außen, wie ich viel später rausbekam. Geld habe ich dafür nie bekommen", sagt sie. Mit 20 lernte sie auf einem Gartenfest, auf das sie heimlich ging, ihren ersten Mann kennen. Mit knapp 21 flüchtete sie in die Ehe, die nicht lange hielt. Auch eine zweite Ehe scheiterte Jahre später. "Vielleicht war ich nicht fähig, in einer Beziehung zu leben. Ich habe es ja nie gelernt", sagt die Mutter dreier Kinder selbstzweifelnd.
Heute redet sie viel mit Betroffenen, die sie über den Verein kennen gelernt hat. "Das hilft. In Grunde haben wir ja alle das Gleiche erlebt. Prügel, Demütigung, Missbrauch. Die Schwestern und die Betreuer hatten doch freie Hand. Die kontrollierte doch keiner," sagt sie.
Noch heute sind es oft Kleinigkeiten, die sie an die Heimvergangenheit erinnern. Faule Kartoffel zum Beispiel. Dann sieht sie ihn wieder, den dunklen, großen Keller, in dem sie eingesperrt stundenlang Kartoffel schälen musste. (NRZ)
ROSALI KURTZBACH

Spiegel-online 13. November 2006
MISSHANDELTE HEIMKINDER

Opfer bekommen Anhörung im Bundestag
Von Peter Wensierski
Hunderttausende Kinder und Jugendliche wurden zwischen 1945 und 1975 in Heimen unter kirchlicher Obhut gequält und misshandelt. Nun haben die Opfer eine Anhörung vor dem Bundestag erreicht. Dort sollen Details des Missbrauchs zur Sprache kommen.
Hamburg - Die politische und juristische Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen in deutschen Erziehungsheimen der Nachkriegszeit soll nun mit einer Anhörung ehemaliger Heimkinder im Bundestag am 11. Dezember beginnen. Darauf haben sich alle Parteien im Petitionsausschuss nach monatelangem Ringen geeinigt. Zwischen 1945 und 1975 wurden Hunderttausende Kinder und Jugendliche oft aus nichtigen Gründen vom Staat in rund 3000 Heime Westdeutschlands eingewiesen und meist von kirchlichem Personal beaufsichtigt.

"Viele Betroffene leiden noch heute unter den Folgen der Geschehnisse in den Heimen", beklagt der dazu eingeladene Sprecher des Vereins ehemaliger Heimkinder, Michael-Peter Schiltsky: "Sie mussten folterähnliche Bestrafungen hinnehmen, harte, industrielle Arbeit ohne Bezahlung und ohne Rentenansprüche ableisten, sie bekamen ungefragt Psychopharmaka, viele wurden über Jahre sexuell missbraucht." All dies soll nun in der mehrstündigen Anhörung in Berlin zur Sprache kommen. In einer weiteren Runde sollen dann Pädagogik-Experten angehört werden, bevor es zu einer Beschlussempfehlung an die Bundesregierung kommt.

Die Interessen ehemaliger Heimkinder vertreten der Hamburger Rechtsanwalt Gerrit Wilmans und der Münchner Michael Witti. "Wir möchten eine politisch-gesellschaftliche Lösung aushandeln", fordert Witti. In anderen Ländern - wie Australien und Irland - in denen die Zustände in den Erziehungsheimen vergleichbar mit Deutschland waren, hätten Kirche und Staat ihre Schuld anerkannt. Als positives Signal sieht Witti, "dass Caritas und Diakonie inzwischen für das Unrecht an Heimkindern in Deutschland sensibilisiert sind" und dass "es jetzt erste Besprechungen mit den Anwälten der katholischen Kirchen gegeben hat, die fortgesetzt werden sollen".

Westfälische Nachrichten (Warendorf) 26. Oktober 2006
Prügel und Ohrfeigen
-ab- Warendorf. Nie hätten wir es gewagt, danach zu fragen. Jetzt durften wir unsere Mutter endlich wiedersehen. Betroffene Stille lag am Dienstagabend über der Werkstatt der Buchhandlung Nanas, als Regina Eppert ein Kapitel aus ihrer Autobiografie Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime las. Zusammen mit Spiegel-Redakteur Peter Wensierski, der mit seinem Buch Schläge im Namen des Herrn Anfang des Jahres den Blick der Öffentlichkeit auf das sensible Thema gelenkt hatte, gewährte die Warendorferin den rund 50 Zuhörern Einblicke in die erschütternden Zustände in den Heimen der Nachkriegszeit.
Als Regina Eppert erzählt, was sie 1952 als Siebenjährige gemeinsam mit ihrer Schwester in einem Heim der Hedwigschwestern in Brandenburg durchgemacht hat, nicken einige Zuhörer verständnisvoll. Sie haben ähnliche Demütigungen und Ängste erlebt, wenn auch in anderen Heimen. Die Erfahrungsberichte, die mich täglich per Post, Email oder Telefon erreichen, gleichen sich, stellt Wensierski fest. Ob Ost- oder Westdeutschland, ob katholische, evangelische oder staatliche Heime: Die Methoden, die Strafen, die seelischen und körperlichen Folgen wiederholten sich in den Geschichten ehemaliger Heimkinder.
Zwischen einer halben und einer Millionen junger Menschen litten in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den 3000 kirchlichen und staatlichen Heimen in Deutschland unter einer repressiven Pädagogik, die vor physischer und psychischer Gewalt nicht zurückschreckte, berichtet der Journalist. Prügel und Ohrfeigen waren für viele Erzieher das Mittel der Wahl, um den Mädchen und Jungen Grenzen aufzuzeigen. Grenzen bestehend aus Ge- und Verboten, die keinen Raum zur Persönlichkeitsentfaltung ließen. Lachen und Weinen waren untersagt. Oberste Erziehungsziele waren Disziplin und Gehorsam.
Mit seiner Veröffentlichung der Geschichte von Gisela Nurthen, die wie Regina Eppert einen Teil ihrer Jugend im Dortmunder Vincenzheim zugebracht hatte, im Magazin Der Spiegel brachte der Journalist 2003 einen Stein ins Rollen. Zaghafte Versuche zur Aufarbeitung, die Trägerinstitutionen, ehemalige Heimkinder und Erzieher an einen Tisch bringen, finden seitdem statt. Immer mehr Betroffene trauen sich nach über 30 Jahren Verdrängung und Scham, endlich offen über ihre Vergangenheit zu sprechen. Die zahlreichen Zuschriften von Betroffenen veranlassten Wensierski weiter zu recherchieren und exemplarische Schicksale, Fakten und Hintergründe in Buchform herauszubringen. Er war es auch, der die 63-jährige Warendorferin Regina Eppert ermutigte, ihre Erinnerungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen unter ihrem Mädchennamen Regina Page, damit die Mädchen von damals mich wiedererkennen.
Die Lesung führte im Publikum zu regen Diskussionen und Empörung über die Missstände. Unter den Teilnehmern waren Betroffene, die aus ihrer eigenen Vergangenheit berichteten. Das Interesse an der Autorenlesung sei sehr groß gewesen, freut sich Nanas-Inhaberin Marita Rybak-Dolge über das positive Echo. Aus Platzgründen musste sie schließlich viele Interessenten auf die Bücher der beiden Autoren vertrösten.|Infos unter www.vehev.org und www.schlaege.com
Donnerstag, 26. Oktober 2006  |  Quelle: Westfälische Nachrichten (Warendorf)

Westfälische Nachrichten (Warendorf) - 21. Oktober 2006  
Lachen und Weinen strengstens verboten

-ab- Warendorf. Sie durften nicht sprechen und nicht lachen. Sie kamen sich vor wie Schwerverbrecher. Noch heute spricht Regina Eppert von ihrer Vergangenheit oft in der dritten Personso als wolle sie dadurch Distanz gewinnen zu dem erschütternden Schicksal, das sie in der Nachkriegszeit mit vielen Kindern und Jugendlichen teilte. Mehr als 500000 junge Menschen wurden in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Erziehungsheime eingewiesen. Abgeschirmt hinter hohen Mauern litten die Heranwachsenden oft unter einer autoritären Erziehung, die von Gewaltanwendung und Erniedrigung geprägt war. Das ist das schlimmste Verbrechen der Nachkriegszeit!Nach jahrzehntelangem Schweigen hat Regina Eppert, die heute in Warendorf lebt, schließlich den Mut gefunden, über ihre Erinnerungen zu sprechen.
Wir waren die Verlierer im damaligen Wirtschaftswunderland, stellt die heute 63-Jährige fest. Die Verantwortlichen in den etwa 3000 staatlichen und kirchlichen Heimen in Deutschland hatten selten eine pädagogische Ausbildung. Um den Gehorsam der Kinder zu erzielen, waren für die Erzieher körperliche und psychische Gewalt in vielen Fällen das Mittel der Wahl.
Lachen war verboten. Weinen war verboten. Fragen war verboten, beschreibt Eppert die Zustände im katholischen Kinderheim Biesenthal in Brandenburg, in das sie und Schwester Elke im Alter von sieben und acht Jahren eingewiesen wurden. Die Mutter der Mädchen hatte ständig laut ihre Lieblingssendung im verbotenen Westsender Rias gehört und ihre Meinung offen geäußert. Sie musste sich einer psychiatrischen Behandlung unterziehen.
Wir durften nach dem Nachtgebet die Toilette nicht mehr benutzen. Wenn es dann Nachts passierte, mussten wir am nächsten Morgen mit dem nassen Laken über dem Kopf durch den Schlafraum laufen, bis das Laken trocken war, erinnert sich Regina Eppert an die strenge, aus heutiger Sicht untragbare Erziehung durch die Hedwigschwestern. Neben Stille und Gebet prägte die Arbeit den Alltag der Heimkinder: Kartoffeln schälen, Federn zupfen. Die Schule stand hintenan und auf Reginas Zeugnis war schließlich zu lesen: Es fehlte am häuslichen Fleiß.
Zweieinhalb Jahre später durften Elke und Regina wieder zurück zur Mutter. Die Mutter hörte weiter den Rias nur nicht mehr so laut und flüchtete Mitte der Fünfziger mit den beiden Töchtern nach Westberlin. Nach Durchlaufen mehrerer Flüchtlingslager hofften die Drei, in Altena endlich wie eine normale Familie leben zu können. Doch die Mädchen blieben Außenseiter. Sie ließen sich von der Mutter nicht den Umgang mit den Söhnen der turbulenten Nachbarsfamilie verbieten, trugen Jeans und hörten Elvis Presley. Ein Lebenswandel, der im biederen Wirtschaftswunderland nicht gern gesehen war.
Als Regina mit 16 zum zweiten Mal schwanger warihr erstes Kind war ein Jahr zuvor im Säuglingsalter gestorbengeriet sie trotz der geplanten Hochzeit mit dem Vater des Kindes ins Visier des Jugendamtes. Wegen drohender Verwahrlosung wurde sie wenige Monate nach der Entbindung gemeinsam mit ihrer Neugeborenen in das Dortmunder Vincenzheim für schwererziehbare Mädchen eingewiesen. Dass sie keine Möglichkeit hatte, sich vor der Zwangseinweisung in einer Anhörung zu äußern, wirft sie dem Staat noch heute vor: Wir waren doch anständige Mädchen.
Wenige Wochen später sah Regina auf dem Flur plötzlich ihre jüngere Schwester Elke. Sie konnten sich nur stille Blicke zuwerfen, denn es herrschte absolutes Schweigegebot auf dem Weg zum Gebet. Wie in einem von Ver- und Geboten bestimmten Gefängnis empfand das junge Mädchen ihr Leben im Vincenzheim. Für sie wiederholte sich all das, was sie als Siebenjährige in Biesenthal erlebt hatte. Abwechslung gab es kaum. Nur einmal wurde ein Film gezeigt: George Orwells 1984, die Geschichte eines totalitären Überwachungsstaatesin Regina Epperts Augen eine bittere Ironie.
Nach drei Monaten wurde Regina vorerst entlassen. Im September heiratete sie den Vater ihrer kleinen Christine. Doch das junge Glück währte nicht lang, ein halbes Jahr später erfolgte die erneute Zwangseinweisung ins Vincenzheim. Obwohl Regina dort bereits nach kurzer Zeit als Kinderschwester arbeitete, durfte sie ihre eigene Tochter offiziell nur am Sonntag drei Stunden sehen. Manchmal schlich sie heimlich zu der Kleinen, während ihre Freundin Lissy an der Tür Schmiere stand. Ein Kind braucht doch seine Mutter!
Regina Eppert konnte sich damals nicht wehren, weder gegen die Zwangseinweisung, noch gegen die Trennung von ihrer Tochter. Wir wurden gefügig gemacht und viele von uns gehen noch heute den Weg des geringsten Widerstandes, erzählt sie. Wie viele ehemalige Heiminsassen litt sie ein Leben lang unter dieser Vergangenheit. Sie schämte sich, ihren Freunden davon zu erzählen. Erst jetzt, vierzig Jahre später, sprudeln die Worte aus ihr heraus.
Sie will nicht mehr verdrängen. Statt dessen setzt sie sich heute als stellvertretende Vorsitzende des 2004 gegründeten Vereins ehemaliger Heimkinder (VeH) für Aufklärung ein. Zur Zeit hat der Verein rund 100 Mitglieder, aber wir müssen mehr werden, um stark zu sein!Stark sein gegen die Verdrängung und das Leugnen des Unrechts, das bis in die siebziger Jahre hinein in deutschen Heimen passiert ist.
Regina Eppert und ihre Schwester haben die damalige Oberin des Vincenzheims getroffen. Als wir ihr gegenüber standen, habe ich mich klein gefühlt, wie damals. Ich dachte wieder: Die hat Macht über mich, berichtet Eppert. Warum habt ihr euch nicht gewehrt? Davon habe ich gar nichts gewusst, sagt die ehemalige Heimleiterin, als sie von den Erlebnissen ihrer Schützlinge erfährt. Eppert möchte verzeihen, aber bei der Aufarbeitung der Vergangenheit sei sie auch auf das Entgegenkommen der damaligen Täter angewiesen, so die 63-Jährige.
Ich will keinen Hass versprühen, erklärt sie. Aber ich will erreichen, dass sich die Verantwortlichen mit uns an einen Tisch setzen! Wenn die Geschehnisse abgestritten werden, ist das für Eppert wie ein Schlag ins Gesicht, eine erneute Demütigung. Die kirchlichen und staatlichen Träger beginnen langsam und vereinzelt, sich mit diesem düsteren Teil ihrer Geschichte auseinander zu setzen. Ehemalige Erzieher aus Freistadt haben sich mit Betroffenen zusammengesetzt. Heutige Heimträger wie der Landschaftsverband Westfalen-Lippe arbeiten mit dem VeH zusammen, um aufzuklären und um zu verhindern, dass sich diese Ereignisse in heutigen Heimen wiederholen.
In den Blickpunkt der Öffentlichkeit geriet das Schicksal der Heimkinder, als Spiegel-Autor Peter Wensierski in diesem Jahr das Thema in seinem Buch Schläge im Namen des HerrnDie verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik aufarbeitete. Stellvertretend für alle Heimkinder hat auch Regina Eppert unter ihrem Mädchennamen Regina Page die eigenen Erinnerungen unter dem Titel Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend veröffentlicht. Von ihren Lesern hört sie immer wieder, wie erschüttert diese über die turbulente Lebensgeschichte der Warendorferin sind. Am 24. Oktober lesen und diskutieren Peter Wensierski und Regina Eppert in der Buchhandlung Nanas, Lüninger Straße 10.
Direktbestellung von Ein Albtraum meiner Kindheit und Jugend unter Regina-Eppert@web.de.
Samstag, 21. Oktober 2006  |  Quelle: Westfälische Nachrichten (Warendorf)

Der Tagesspiegel 15.10.2006 - Ungeheuer behütet

Zur Arbeit gezwungen, scharf bewacht und bestraft, so ging es vielen Heimkindern der Nachkriegszeit. Nun könnte es eine Anhörung im Bundestag geben – zwei Männer erinnern sich an eine Jugend, die keine war

Von Deike Diening

Das dunkelste Kapitel im Leben von Wolfgang Rosenkötter liegt gut 44 Jahre oder 183 Kilometer von seiner Wohnung in Hamburg entfernt, man kann jederzeit hinfahren, aber er hat das erst einmal getan in den Jahrzehnten. Doch Rosenkötter will der Sache jetzt ins Auge sehen. „Die Gegend um Diepholz ist Schweinegegend“, sagt er und faltet sich mit seiner Nadelstreifenhose ins Auto. Der Geruch von Gülle hänge überm Land. Er lächelt. „Man weiß es, wenn man da ist.“

Als im Februar 2006 das Buch „Schläge im Namen des Herrn“, geschrieben vom Autor Peter Wensierski, erschien, kehrte für Hunderte Menschen in der Bundesrepublik eine Erinnerung zurück an die Kinder- und Jugendheime der 50er und 60er Jahre. Ehemalige Heimkinder erinnerten sich plötzlich wieder, wie sie, oft aus dürftigen Gründen, in Heime eingewiesen wurden. Es waren böse Erinnerungen. Sie bewiesen, dass Kindesmisshandlung nicht erst ein Thema des 21. Jahrhunderts ist, und beim Lesen des Buches kam einigen zum ersten Mal die Idee, dass sie vielleicht gar nicht selbst die Schuld trugen an den Verformungen ihres Lebens. Dass es vielleicht doch keinen Grund gab, sich ein Leben lang zu schämen.

Seitdem finden die Heimkinder ihre Sprache wieder. 3000 Heime hat es gegeben, gut 80 Prozent davon waren konfessionell, über eine halbe Million Kinder waren dort. Natürlich sind nicht alle Opfer, die genauen Zahlen kennt keiner, doch immer mehr melden sich beim 2004 gegründeten „Verein ehemaliger Heimkinder“ mit ungeheuren Geschichten.

In der kommenden Woche soll der Petitionsausschuss entscheiden, ob es eine Anhörung im Bundestag zu diesem Thema geben wird. Wenn alles gut geht, findet die bis Ende November statt. Dann kann sich auch die Politik ein Bild davon machen, was in Nachkriegsdeutschland in den Jugendheimen geschah: Menschenrechtsverletzungen, Freiheitsentzug, Ausbeutung. Schließlich war der Staat in Gestalt der Jugendbeauftragten, der beschlussfreudigen Ämter und fehlenden Kontrollen auch beteiligt. Ist das Thema einmal auf der politischen Ebene, könnte es um Rentenansprüche und Entschädigungen gehen. „Sie müssen es sich schon allein deshalb anhören, damit so was nie wieder passieren kann“, findet Rosenkötter. Denn rufen nicht längst wieder mehr Politiker, Erzieher, Eltern nach „Disziplin“ und „Ordnung“?

Wolfgang Rosenkötter, 62, hat seiner Frau erst nach beinahe 20 Jahren Ehe erzählt, dass auch er ein „Heimkind“ ist. „Vorher“, sagt er und blickt auf den Stau vor der Windschutzscheibe, „war es einfach weg.“ Verdrängt.

Er lebt von Hartz IV und nun seit einem Jahr von seiner Frau getrennt und fragt sich in seiner sanften Art, ob sein Leben ein anderes gewesen wäre, ohne diese Jahre in den Heimen. Ob sie vielleicht noch zusammen wären, wenn er früher gewusst hätte, woher diese Grundunruhe kam. Er konnte ja nicht einmal still sitzen, wenn die Familie sich zum Essen traf. Rosenkötter, der Pfleger wurde, das Abitur nachmachte, Sozialwissenschaften studierte, bei der AOK arbeitete und seinen Sohn auf die Waldorfschule schickte, kennt die Gründe immer noch nicht, weshalb er mit 15 Jahren eingewiesen wurde. „Meine Eltern waren getrennt“, sagt er. Er war vor allem beim Vater und der Großmutter in Bielefeld. Aber der Vater, dessen Krawatte stets saß, „fühlte sich überfordert“ von dem Sohn, der sich in Bücher flüchtete und auch mal Kinogeld stahl. Der Rechtsanwalt beantragte „freiwillige Erziehungshilfe“.

Aus dem ersten Heim lief Rosenkötter weg, aus dem zweiten auch. Dann kam Freistatt. Freistatt liegt südlich von Bremen und besteht noch heute nur aus der gleichnamigen Einrichtung. „Freistatt galt als Endstation“, sagt Wolfgang Rosenkötter. Es war einsam gelegen im Moor und damals ein Arbeitslager zum Torfstechen und -pressen, Flucht kaum möglich. Aber im Unterschied zu echten Straftätern kannten die Jugendlichen ihr Urteil nicht. Wie lange sollten sie hier bleiben? Ein Jahr, zwei, für immer?

„Man gibt sich sehr schnell auf“, hatte Dietmar Krone ein paar Tage zuvor in seiner stillen Berliner Wohnung gesagt und, bevor er mit seiner Geschichte begann, einen starken Kaffee gekocht. Nur ein paar Tage seien es, „dann hofft man nur noch, dass es vorbei ist mit der Prügel“. Sie konnten ja nicht ahnen, dass es ihr ganzes Leben nicht vorbei sein würde. Krone ist wie Rosenkötter im „Verein ehemaliger Heimkinder“, 20 Euro Jahresbeitrag, zwölf für Hartz-IV-Empfänger. Davon gibt es viele.

Ihm sind die Grundsätze der Nachkriegserziehung im Wortsinn eingebläut worden. Die beiden Kirchen haben die Misshandlungen mittlerweile zugeben müssen. Die katholische Caritas bedauert „Traumatisierungen“, die evangelische Kinder- und Jugendhilfe erkennt an, „dass schwerste seelische und körperliche Schäden“ die Folge waren. Aber es gibt andere, die sagen sinngemäß, in den Heimen hätten nicht sie, die Kirchenleute, aus eigener Motivation geprügelt, da habe auch der „Zeitgeist“ geprügelt.

Hier und hier und hier – Krone zeigt die Narben am Kinn, seine Handgelenke sind versteift, wo sie ihn am Bett justiert hatten, zwei seiner Wirbel sind nach einem Tritt in den Rücken zusammengewachsen. 30 Jahre, sagt Krone, brauche man, bis man über ein Trauma reden kann.

„Ich war ein Verkehrsunfall“, sagt der Sohn heute. „Du hast mir die Figur versaut“, sagte seine Mutter damals und verbannte ihn auf den Dachboden. Es gibt von ihm kein einziges Kinderfoto, aber schwerer wog, dass es nie genug zu essen gab. Die Mutter hat ihm einmal Nase und Rippen gebrochen. Aber wenn er in den Küchenresten hinter dem Altenheim stöberte, war ihr das peinlich vor den Nachbarn.

Krone lernte irgendwann einen Mann der Freikirche kennen, „da habe ich wohl Mitleid erweckt“. Der hat mit ihm gebetet, und Dietmar Krone bekam zu essen. Sie wurden Freunde. Richard lebte in Wuppertal, und zu ihm fuhr Dietmar Krone manchmal, und manchmal übernachtete er auch dort. Seine Mutter rief die Polizei: Mein Sohn ist in den Händen eines Sexualverbrechers. An einem Januarmorgen, fünf Uhr früh, trat der Staat die Tür ein und verhaftete die beiden in Unterhose und Strümpfen.

Richard kam ins Gefängnis, für Dietmar galt: Fürsorge bis Vollendung des 21. Lebensjahres, im Namen des Volkes, Abtransport in Handschellen. Man stellt ihn 1968 im Jugenderziehungsheim Viersen-Süchteln den anderen vor: Dies ist Dietmar, „professioneller Stricher“. Von da an war er fünf Jahre in der Defensive.

Bis 1973 blieb er im Heim. Er hat 20 Meter Flur mit einer Zahnbürste geputzt. Er stand jeden Morgen um sechs beim Frühappell, er trug Holzbretter mit Riemen an den Füßen. Er verbrachte Tage auf der Pritsche im „Besinnungszimmer“, in das nur ein Glasbaustein Licht ließ. Aber hauptsächlich hat er gearbeitet: Elektroteile zusammengebaut, vier Pfennig die Stunde, sieben Mark 20 im Monat. Draußen war Wirtschaftswunder.

Nachdem sein einziger Freund im Heim Selbstmord begangen hatte, nachdem er nach Tagen in der Besinnungszelle mit dem Messer auf einen Erzieher losgegangen war, steckte man ihn in die Psychiatrie, schnallte ihn ans Bett und stellte ihn mit Medikamenten ruhig. Einmal hat ihn ein mitleidiger Pfleger umarmt, ein verstörendes Erlebnis.

Später erfand er für Freunde eine Kindheit mit Garten und Klavierunterricht. Die Fürsorge seiner Mutter, sagte er dann, sei ihm echt auf die Nerven gegangen. 1974 entdeckte er auf einem Flohmarkt eine charmante kleine Uhr in einem grünen Würfel. Weil sie nicht lief, brachte er sie zu einem Uhrmacher. Der sagte: wegwerfen. Aber Krone öffnete vorsichtig ihr Gehäuse und entdeckte, dass er nur eine winzige Feder wieder einhängen musste. Es war möglich, die Uhr nach einer sorgfältigen Prüfung des Innenlebens wieder in den Takt zu bringen. Das war ein Schlüsselerlebnis. Hier war Feinheit nach all der Rohheit. Er wusste jetzt, was er tun wollte. Er widmete sich der Feinmechanik der Uhren, bis sie wieder im Takt der Welt schlugen.

Krone wurde Antikhändler, Autodidakt und Experte für viktorianischen Schmuck. Er hat zwei Jahre lang Ware gesammelt, bevor er den Antikhandel in Charlottenburg aufgemacht hat. Er steht in den Gelben Seiten. Das ist der Beweis, auch für ihn selbst. Wer in den Gelben Seiten steht, ist nicht asozial. Der Landschaftsverband Rheinland meldet auf Anfrage, seine Akten seien vernichtet. Rechtlich ist das nicht anfechtbar.

Dietmar Krone hat gemerkt, er kann niemandem mehr bedingungslos vertrauen. Er hat sich eine stille Insel geschaffen mit hohen Deichen. Aber am Morgen, ganz früh, schreckt er immer noch auf und will aufspringen. Er hat ein schlechtes Gewissen und muss sich dann gut zureden, dass er liegen bleiben darf. Nur manchmal wundert sich einer, dass sein Kühlschrank immer so voll ist. „Hey, Didi, hast du mal schwere Zeiten erlebt?“ Jetzt nimmt er die Höchstdosis Morphium gegen den Krebs. Er hat nicht mehr viel Zeit.

Wolfgang Rosenkötter hat noch viel Zeit, „in meiner Familie werden sie alt“. Die ersten drei Monate in Freistatt bekamen sie zur Arbeit Holzbotten mit steifen Sohlen, in denen man nicht laufen, also auch nicht weglaufen konnte. Wollten sie rauchen, mussten sie warten, bis die Aufpasser „Feuer frei!“ riefen. „Dan-ke“ mussten die Jungs dann vernehmlich rufen. Den ganzen Tag bedankten sich in Freistatt die Ausgebeuteten laut und deutlich bei ihren Ausbeutern.

„Es war komisch, sich die ganze Zeit für alles bedanken zu müssen“, sagt Rosenkötter. „Sein“ Haus, das Haus „Moorhort“, steht noch, das einzige alte Gebäude auf dem Gelände, heute ist es ein Lager. Freistatt ist immer noch eine diakonische Einrichtung, für Alkoholiker, Alte und Jugendliche. Aber niemand sticht mehr Torf. Und wenn wie jetzt ein ergrautes Kind von damals zu Besuch kommt, holen die Freistätter ihre Schlüssel raus und sehen, wie die alten Männer sich abstützen müssen, weil sie vor ihrem inneren Auge sehen, was nicht mehr zu sehen ist.

Rosenkötter steht da in seinem Nadelstreifenanzug, dessen Streifen sich großzügig um den Körper runden, und sieht den Aufenthaltsraum, in der Mitte den Billardtisch. Und dann steht der Hausvater in der Tür, alter SS-Mann, nun Diakon. Er ist dicklich wie immer, trägt Stiefel wie immer und läuft mit der Peitsche herum. Er hat seine Uniform an, die ist vom Krieg übrig. Im Entengang sollen die Jungen um den Tisch watscheln, wer nicht mehr kann und umfällt, lernt die Peitsche näher kennen.

Rosenkötter geht nach oben, durchs Treppenhaus, trappel, trappel, hier waren wir immer in Eile, nach oben, wo die Schlafsäle sind, 40 in einem Raum. „Gute Nacht, Jungs!“ – „Dan-ke!“ Die Legislative, Judikative und Exekutive, auch Erzieher genannt, schläft hinter einem Beobachtungsfenster zum Schlafsaal. Seltsamerweise ist das ein wählerisches Fenster. Es versagt den Dienst, wenn es zum Schutz der Schwachen gebraucht werden könnte. Und so bleibt es still auf der anderen Seite, wenn im Schlafsaal nachts die Rangkämpfe beginnen. „Das System war einfach“, sagt Rosenkötter: „Die Erzieher mussten den Stärksten ausfindig machen und dessen Willen brechen.“ Dann sind die anderen auch gefolgt.

Immer in Kolonne und zugleich allein gingen sie sonntags in die Kirche und werktags ins Moor. Sie pumpten die Lore hinaus, und es war nicht nur so, dass die Drakoner von der Diakonie Gott auf ihrer Seite hatten, sondern selbst das Moor. Wenn man flüchten wollte, sperrte es sein wässriges Maul auf und drohte, einen zu verschlucken. Rosenkötter erzählt das alles friedlich. „Für Wut war gar kein Platz“, sagt er. „Da war nur Angst.“

Freistatt ist eine der offeneren Anstalten. Sie geben zu, dass hier im Namen der Kirche unsägliche Dinge geschehen sind. Die Ehemaligen dürfen in Freistatt ihre alten Akten sehen, und die Heimleitung stellt Bescheinigungen aus, auf denen steht, dass die damalige Arbeit nach heutigen Maßstäben sozialversicherungspflichtig gewesen wäre. Allerdings müsse man auch beachten, dass auch die Erzieher – nur Diakone, keine ausgebildeten Pädagogen – überfordert waren, sagt ein Erzieher von heute.

Marlene Rupprecht, Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, erhofft sich von einer Anhörung, dass man aus der Zeit lernen kann für die Grauzonen, die es auch heute noch in der geschlossenen Unterbringung gibt. Und die Heimkinder? Wollen Genugtuung. Eine Entschuldigung. Manche auch eine Entschädigung. Das Prozessrecht in Deutschland erlaubt keine Sammelklagen. Jeder müsste einzeln klagen, viele von ihnen haben kein Geld, und weil Prozesskostenhilfe nur bei Aussicht auf Erfolg bewilligt wird, hat sich Michael Witti bereit erklärt, den Erfolg zu schätzen. Witti ist Experte für Entschädigungen. Er hat schon die Interessen ehemaliger NS-Zwangsarbeiter aus den USA vertreten. Am 21. Oktober wird er dem Verein Auskunft geben.

Dann hinaus auf die Landstraße. An der Ecke steht ein Mann, raucht und guckt den Autos hinterher. Menschen am Steuer ihres Lebens. Da ist Rosenkötter wieder 40 Jahre zurückgeworfen. Das, ruft er, war früher auch schon immer so. Dort stand immer jemand an dieser Ecke, der rauchte und bewegungslos in die Welt guckte. Auf der einzigen Straße, die von Freistatt wegführte.

Neue Westfälische 05.10.2006
Drängen auf Sühne

Zwangseingewiesene Heimkinder wollen den Staat in die Pflicht nehmen
VON ANJA HUSTERT

Bielefeld. Lange haben sie geschwiegen. Doch in den vergangenen Monaten und Jahren redeten sich immer mehr Menschen ihren Kummer von der Seele: "Ja, wir waren im Heim. Eingewiesen in den 50er und 60er Jahren in meist kirchliche Institutionen unter fadenscheinigem Vorwand. Statt christlicher Nächstenliebe haben wir dort Schläge, Demütigungen und Missbrauch erfahren."

Die ehemaligen Heimkinder haben nun den Staranwalt Michael Witti gebeten, ihre Interessen zu vertreten. Bekannt wurde der Münchener Witti, Jahrgang 1957, vor allem durch seinen Einsatz für die NS-Zwangsarbeiter. Nach zähen Verhandlungen wurde schließlich im Sommer 2000 die Einrichtung eines Entschädigungsfonds erreicht. Ein Fall, der vielen ehemaligen Heimkindern Hoffnung macht.


"Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich wurde zwangseingewiesen, zur Zwangsarbeit verurteilt ohne Sozialversicherung und Entgelt", sagt Wolfgang Focke (66) aus Horn-Bad Meinberg. Nachdem seine Mutter geschieden worden war verbrachte er die ersten Lebensjahre im Paulinen-Heim in Detmold, anschließend unter anderem in der evangelischen Jugendhilfe in Schweicheln.

Am Fließband habe er arbeiten müssen für einen Autozulieferer, auch in der Fleischindustrie, erzählt er. Die Briefe von Focke an die Nachfolger der früheren Einrichtungen werden zwar freundlich beantwortet, jedoch nicht in seinem Sinne. Die meisten Unterlagen seien vernichtet. Und der Fall nach 30 Jahren sowieso verjährt. Ohnmächtig steht der Lipper vor den Institutionen. Fockes einzige Hoffnung ist noch sein Schreiben an den Petitionsausschuss des Bundestages vom August - Heimaufenthalt als Verletzung der Menschenwürde.

"Ja, es sind lange zurückliegende Fälle", sagt der Hamburger Rechtsanwalt Gerrit Wilmans. Gemeinsam mit der Kanzlei Witti nehme man die Interessen der ehemaligen Heimkinder wahr. "Wir möchten eine politisch-gesellschaftliche Lösung aushandeln", so Wilmans. In anderen Ländern - wie Australien und Irland -, in denen die Zustände in den christlichen Erziehungsheimen vergleichbar mit denen in Deutschland waren, hätten Kirche und Staat ihre Schuld anerkannt.

Unabhängig vom juristisch beschrittenen Weg hat sich der Verein ehemaliger Heimkinder, dessen erste Treffen in Paderborn stattfanden, an den Petitionsausschuss des Bundestages gewandt. "Im Oktober soll eine Anhörung stattfinden", so Vereinsvorstand Michael-Peter Schilsky. In der Petition des Vereins vom 20. März wird an die Abgeordneten appelliert, dass die Betroffenen als Opfer eines unrühmlichen Kapitels deutscher Heimerziehungsgeschichte anerkannt werden. Dass ihre Akten nicht länger vernichtet werden, so dass sie ihre verloren gegangene Biografie aufarbeiten können und dass ihre unbezahlten Arbeitseinsätze im Versicherungsverlauf berücksichtigt werden.

Die Witti-Kollegen Vehlow & Wilmans werden bei der Anhörung anwesend sein. "Der Staat kann nicht aus der Verantwortung entlassen werden", so Wilmans. Die staatliche Heimaufsicht sei sehr nachlässig gewesen, ebenso die Vormundschaftsrichter. Oft habe schon die Denunzierung durch Nachbarn gereicht, um Jugendliche in ein Erziehungsheim zu bringen.

Auch wenn vielen Mitgliedern des Vereins ehemaliger Heimkinder die Mühlen der Bürokratie viel zu langsam mahlen, ist Schilsky optimistisch, dass die Schicksale nicht länger verschwiegen und abgetan werden.

Immer häufiger finden ehemalige Heimkinder den Mut, ihre Geschichte aufzuschreiben. So auch Regina Eppert aus Warendorf, die ihre Erinnerungen unter dem Mädchennamen Regina Page aufgeschrieben hat: "Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend. Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime." Trotz der schrecklichen Erlebnisse liest sich das Buch nicht schwermütig. Es ist die Geschichte eines Flüchtlingskindes, der Vater starb bald nach dem Krieg, bei dem "wohlmeinende Nachbarn" die Mutter anschwärzten, so dass ihre beiden Töchter in Heimen betreut werden sollten.

"Stellvertretend für viele Heimkinder will ich von meinem Schicksal berichten. Eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit geschah. Und sie darf nie vergessen werden", schreibt Eppert im Vorwort des Buches.

Regina Page: Der Albtraum meiner Kindheit und Jugend. Zwangseinweisung in deutsche Erziehungsheime, Engelsdorfer Verlag, ISBN 978-3-86703-61-8 (Erhältlich unter: regina-eppert@web.de)

KNA -  Katholische Nachrichtenagentur GmbH, 27.09.2006
Caritas-Diskussion um Missstände in Heimen

"Gebt uns unsere Würde wieder" Von KNA-Redakteur Johannes Schönwälder

Münster. "Von 12 Uhr bis 13 Uhr Essen, anschließend Bestrafung. Schläge mit der flachen Hand, mit der Faust, mit dem Rohrstock. Oder Schweigen, mit dem Zeigefinger vor dem Mund - stundenlang." Äußerlich ganz ruhig erzählt Michael-Peter Schiltsky auf der Veranstaltung "Heimalltag in den 50er Jahren" der Caritas im Bistum Münster aus seiner Kindheit.
Doch die Jahre von 1957 bis 1962 in einem Diakonie-Waisenheim in Westuffeln wirken bis heute in ihm nach. Er berichtet davon, dass Kindern Erbrochenes wieder zum Essen vorgesetzt worden sei, dass Bettnässer Spießrutenlaufen mussten und anderes mehr. "Strafe gehörte zum Tag wie Essen, Schlafen, Spielen."
Betroffene haben sich organisiert
Viel ist in den vergangenen Monaten in den Medien, unter anderem im "Spiegel" und im WDR, über die Opfer dieser Art Heimerziehung berichtet worden. Vorgekommen sein sollen die Misshandlungen sowohl in Einrichtungen des Staates wie auch der katholischen und evangelischen Kirche.
Nach langem Schweigen mehren sich nun die Berichte der Betroffenen. Sie haben sich organisiert, beispielsweise im Aachener Verein ehemaliger Heimkinder, in dessen Anlaufstelle der heute als Bildhauer tätige Schiltsky engagiert ist. Sie fordern unter anderem die Anerkennung des Unrechts durch die rechtlichen Nachfolger der Heimträger von damals sowie eine Entschädigung. Auch sollen die Heime ihre eigene Geschichte aufarbeiten und dokumentieren. Manches sei bisher geschehen, aber noch zu wenig, so Schiltsky.
Caritas unterstützt wissenschaftliche Aufarbeitung
An der Aufklärung und Aufarbeitung will auch die Caritas mitwirken. "Mit Veranstaltungen wie dieser wollen wir uns bewusst nach außen hin äußern und nicht schweigen", sagt der münstersche Diözesan-Caritasdirektor Hans-Josef Kessmann. Natürlich sei die Auseinandersetzung mit eigenen Fehlern schmerzhaft. Dennoch müsse der Diskurs weitergehen.
Die Caritas unterstütze vor allem auch die wissenschaftliche Aufarbeitung. Die Nachfolgeinstitutionen der Heimträger von damals stünden vor der Schwierigkeit, sich mit zwei Wahrheiten auseinandersetzen zu müssen, so Kessmann. Neben die beschämenden Berichte der Opfer trete die subjektive Sicht der damaligen Mitarbeiter, die geglaubt hätten, das Richtige zu tun.
Kontrollinstanz für die Heime
"Was wir nicht leisten können, ist die rechtliche Aufarbeitung der Geschehnisse", so Kessmann. Dafür aber sollten Informationsveranstaltungen den Blick auf das richten, was heute getan werden könne. Als wichtiges Ziel nennt Schiltsky die Schaffung einer übergeordneten Kontrollinstanz für die Heime. Daneben müsse die Berufsausbildung für Heimpädagogen im Blick bleiben und deren Einsatz verbessert werden.
"Eine Ursache für Misshandlungen damals war sicher auch die totale Überforderung der Erzieher", so der Künstler. Gruppen von 50 Kindern seien zu seiner Zeit gerade mal von zwei freiwilligen Diakonen geführt worden. Nicht anders habe es in den Heimen bei Ordensschwestern und -brüdern ausgesehen.
"Heimerzieher ist ein schwerer Beruf"
Heute gebe es ausreichend viele Pädagogen, und die seien auch gut ausgebildet. Viele von ihnen gelangten aber schon nach kürzester Zeit in Einrichtungen mit Problemfällen, in denen sie aufgerieben würden. "Heimerzieher ist ein extrem schwerer Beruf, der unterbezahlt ist und in der Gesellschaft wenig geachtet wird", resümiert Schiltsky.
Als wichtigste Forderung an diesem Abend aber kommt es immer wieder aus dem Publikum: "Gebt uns unsere Würde wieder." Die Verantwortlichen müssten anerkennen, dass den Betroffenen Unrecht widerfahren sei. Rechtlos seien sie gewesen, berichtet ein etwa 60-Jähriger mit tränenerstickter Stimme. Ihr Wille sei gebrochen und ihre Menschenwürde missachtet worden. Das Wort Folter fällt.
Andere haben nur Gutes erlebt
Und eine Frau in den 50ern sucht nach Worten, als sie von sexuellen Übergriffen berichten will, die laut ihren Aussagen an der Tagesordnung waren. Aber auch diejenigen äußern sich, die das alles gar nicht glauben können. Die selbst in kirchlichen Heimen groß geworden sind und nur Gutes erlebt haben.
Für die Opfer sei das alles vielleicht lange her, aber es komme noch heute immer wieder hoch, erläutert Schiltsky die Traumata der Betroffenen. "Stellen Sie sich vor, Sie brechen während eines Vorstellungsgesprächs in Schweiß und Tränen aus, weil Ihr Gegenüber eine ähnliche Hose trägt wie damals Ihr Erzieher."
Diesen Menschen könnten die Rechtsnachfolger der Heimbetreiber von damals helfen. Wenn kirchliche Psychologen und Therapeuten sich um langzeittraumatisierte ehemalige Heimkinder kümmerten, wäre das ein Schritt zur Versöhnung und zur Wiedererlangung ihrer Würde.
 

Caritasverband für die Diözese Münster e.V. - Presseinformationen - 26. September 2006

Caritas stellt sich Diskussion um Misshandlungen in Kinderheimen
 
Körperlich und seelisch Gewalt angetan/Heimalltag heute völlig verschieden - aber bedenkliche Tendenz zu Rückschritten
Münster (cpm). Eine Ahnung über Missstände in Erziehungs- und Waisenheimen muss es in den 50er und 60er Jahren gegeben haben. “Wenn du nicht artig bist, kommst du ins Heim”, war ein Standardspruch in der Erziehung damals. Und keine leere Drohung, wie Michael-Peter Schiltsky aus eigener Betroffenheit am Montagabend in Münster durch die Schilderung eines typischen Tagesablaufes drastisch aufzeigte. In der Veranstaltungsreihe ”Caritas am Ring” stellte sich die Caritas in der Diözese Münster der Diskussion um die Zustände in den Einrichtungen damals.
Für Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann soll dies ein Beitrag sein, ein unseliges Kapitel der Heimerziehung aufzuarbeiten. Besonders wichtig sei dabei, Lehren für die Arbeit heute abzuleiten. Auch wenn der Heimalltag inzwischen völlig anders aussieht, warnt Schiltsky vor Rückschritten. Der Trend gehe dahin, Kinder wieder angepasster zu erziehen. Eine Konsequenz aus den Missständen aber müsse sein, sie stark zu machen, damit sie sich wehren können.
“Es beschämt uns und wird von uns bedauert, dass Heimkinder auch in Einrichtungen der Caritas und auch in der Diözese Münster Leid erfahren haben”, erklärte Kessmann eingangs. Er plädierte für einen offenen Dialog, um der Komplexität des Themas gerecht zu werden. Als Konsequenz müsse das Handeln heute ständig kritisch in Frage gestellt werden und die Rechte der Kinder in den Vordergrund gestellt werden. Im Sinne des Jahresthemas 2007 der Caritas gelte es, sich “stark zu machen für starke Kinder”.
Erst seit wenigen Jahren ist das Schweigen über den damaligen Heimalltag gebrochen. Michael-Peter Schiltsky berichtete von Willkür und Gewalt, wenig Förderung und vielen Arbeitseinsätzen. Nicht in allen, aber in vielen Heimen, egal ob kirchlich oder kommunal, seien “Kindern vorsätzlich schwere körperliche und seelische Schäden zugefügt worden”. Bestätigt wurden seine Schilderungen von einigen ehemaligen Heimbewohnern in der Diskussion, ebenso gab es allerdings auch ein Gegenbeispiel einer glücklichen Jugend im Heim.
Schiltsky warnte vor pauschalen Vorwürfen, selbst wenn dies bei persönlicher Betroffenheit schwer falle. Denn Gewalt sei auch den Mitarbeitern angetan worden. Häufig ohne Ausbildung und ohne die heute übliche und notwendige Begleitung seien sie mit 25 Kindern in einer Gruppe, mit denen sie praktisch Tag und Nacht allein zusammen lebten, überfordert gewesen.
Gleichwohl forderte er insbesondere von den Kirchen, die Misshandlungen in deutlichen Worten anzuerkennen. Sie hätten nicht den Auftrag zu diesem Handeln gegeben, aber es auch nicht verhindert. Von den Heimen wünschte er sich Unterstützung bei der Aufarbeitung der Geschichte durch die Fachleute dort. Viele Betroffene seien “krank an ihren Erinnerungen”. Besonders hohe Raten bei Selbstmord, Sterbefällen in jungen Jahren und Kriminalität bei ehemaligen Heimkindern zeigten die lebenslangen Folgen der Misshandlungen auf.
Als sehr bedenklich empfindet Schiltsky Tendenzen zu Rückschritten, die ihm als Ansprechpartner des Vereins ehemaliger Heimkinder aktuell bekannt geworden seien. Es gebe die Neigung, Kinder wieder schneller aus den Familien herauszunehmen und sie statt in pädagogisch gut qualifizierte Heime in Pflegefamilien ohne fachliche Ausbildung zu geben. Man denke, das sei die billigere Lösung, tatsächlich aber sei es in Zukunft die teuerste.
Auch die veränderten Rahmenbedingungen der Heimerziehung bedrohten die erreichten Fortschritte. Diözesancaritasdirektor Kessmann bedauerte den Entfall des Anerkennungsjahres in der Ausbildung und mögliche Einschränkungen der Unabhängigkeit der Heimaufsicht. Der Diözesancaritasverband fördere als Gegenmaßnahme das Beschwerdemanagement in den Heimen : “Jugendliche und Eltern, die sich an uns wenden, müssen Gehör finden”. Für ehemals betroffene Heimkinder stünden im Verband Ansprechpartner zur Verfügung. Die Caritas wolle sich weiter um Aufklärung bemühen. Kessmann sagte Unterstützung zu, wenn zum Beispiel Akteneinsicht gewünscht werde.
Gerade die schrittweise Einführung neuer Mitarbeiter hält Michael-Peter Schiltsky für entscheidend wichtig, um Überforderungen zu vermeiden. Heute würden die Kinder nicht in den Heimen misshandelt, sondern sie würden dort Schutz finden, weil sie misshandelt worden seien. Der Umgang mit ihnen sei deshalb nicht einfach. Sie zu betreuen erfordere sehr viel Liebe und sei “ein harter, in der Regel unterbezahlter Beruf”.
 

Die Berliner Literaturkritik, 04.09.06
Kirchlicher Fürsorgeknast – Rohrstockrepublik Deutschland
Ein Buch über Menschenrechtsverletzungen in westdeutschen Heimen
Von VICTORIA GROß - © Die Berliner Literaturkritik, 04.09.06

Der SPIEGEL-Autor Peter Wensierski legt die erste umfassende Darstellung der bis in die Siebziger Jahre herrschenden Zustände deutscher, vor allem katholisch geführter Kinderheime jetzt in der zweiten Auflage vor. Mit Hilfe exemplarischer Erlebnisberichte schildert er die bis heute wirkenden Traumata der damaligen Heimkinder, zu deren Generation auch er gehört.
Der Autor verfolgt das recht ambitionierte Ziel, den ehemaligen Heimkindern zu helfen, ihre Menschenwürde zurück zu gewinnen. Aus der Perspektive der Kinder liefert er eine Innenansicht öffentlicher Erziehung in den Fünfziger und Sechziger Jahren, die er in einzelne Kapitel unterteilt. Peter Wensierski bietet für hunderttausende Heimkinder ein Forum, über ihre Misshandlungen, ihre Zwangsarbeit in den Anstalten, die von einem gesellschaftlichen „Kartell“ aus Institutionen und katholischer Kirche geführt wurden, zu berichten. Mehr als die Hälfte aller Heime in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit hatte einen katholischen Träger.
„Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim!“
So lautete die damals, wie möglicherweise noch bis heute überdauernde, als Erziehungsmethode getarnte Drohgebärde. Aber auch Nachbarn, denen der Autor Frustration zuschreibt, denunzierten die Eltern wegen ihrer sich „herumtreibenden“ Kinder, denen schlimmstenfalls noch Kontakt zu „Halbstarken“ nachgesagt wurde – dies traf besonders alleinerziehende Mütter. Weitere Gründe für Einlieferungen waren beispielsweise ein „ungezügeltes Freiheitsbedürfnis“, „Arbeitsbummelei“ oder schlicht die Tatsache, das uneheliche Kind einer Alleinerziehenden zu sein. Auch kam es vor, dass überlastete Eltern ihre eigenen Kinder abschoben.
Die Einweisungen in Heime und Anstalten erfolgten aufgrund unvorstellbarer Lappalien – schlicht adoleszentem Verhalten. Der Autor bescheinigt der damaligen Gesellschaft eine „Angst vor Halbstarken“. So habe eine individualistische Jugend bereits den Nationalsozialisten als „Feindbild“ gedient – dies sei in der Adenauer-Ära von der Bundesrepublik übernommen worden. Kinder seien als Störfaktor im Wirtschaftswunderland der Produktion und des Wohlstands empfunden worden.
Peter Wensierski beschreibt die deutsche Nachkriegszeit als Phase „emotions- und verständnisloser Jugendfeindlichkeit“. Widersprechen kann man ihm nach der Lektüre seines Buches nicht. Der Autor behauptet an einer Stelle, die soziale Situation derer, die heute „Erziehungshilfe“ in Anspruch nehmen, sei die gleiche wie die vor 30 Jahren. Eine Aussage, die zu überprüfen wäre. Seine Forderung hingegen kann nur unterstützt werden: Ein Schuldeingeständnis, vor allem der katholischen Institutionen, verbunden mit der Bitte um Verzeihung bei den ehemaligen Heimkindern.
„Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein“
Die meisten der eingesetzten „Pädagogen“ hatten in der NS-Zeit gelernt. Der von Johanna Haarer verfasste Bestseller „Die Mutter und ihr erstes Kind“ war lediglich eine Neuauflage des Nazi-Erziehungsratgebers „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, der als gängigste Erziehungsmethode das „Kaltstellen“ ungehorsamer Kinder empfiehlt. Dieser Titel erschien erst im Jahre1987 zum letzten Mal. Zudem gab es in den Fünfziger Jahren zwar immer mehr Kinderheime, aber immer weniger Personal – und schon gar kein fachlich qualifiziertes. Heimerzieher benötigten lediglich eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wer da nach dem Zweiten Weltkrieg als Erziehungsverantwortlicher eingesetzt wurde, kann man sich vorstellen. Daneben blieben die unter Hitler eingewiesenen Kinder auch nach 1945 in den Heimen oder psychiatrischen Anstalten, die damals als „Lager für Arbeitsbummelanten“ bezeichnet worden waren.
Viele ehemalige Heiminsassen empfinden es als diskriminierend, Heimkind gewesen zu sein. Trotz der heutigen „aufgeklärten Gesellschaft“ fürchten sie sich davor, sich als Heimkind – eine Tatsache, die sie auch im Privaten als Stigma empfinden – zu bekennen. Der Autor berichtet, dass viele von ihnen im Erwachsenenalter auswanderten oder auch unter psychosomatischen Symptomen wie Angstzuständen, Panikattacken oder Suchtverhalten litten – schlimmstenfalls mit der Diagnose latent suizidal. Sie wuchsen in dem Bewusstsein auf, nichts wert zu sein – und das haben sie bis heute verinnerlicht: „Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein. Dieses Gefühl sagt mir immer: Versteck dich, verkriech dich in eine Ecke, wo dich niemand sieht.“ An anderer Stelle heißt es: „Schlimmer als der Schmerz der körperlichen Züchtigung selbst war [...] das ständige Gefühl der Angst, die jeden Einzelnen von morgens bis abends begleitete.“.
Der Autor liefert eine recht knappe Beschreibung der damaligen, wie er es nennt, „christlichen Weltanschauung“. Als oberstes Ziel galt die moralisch-religiöse „Charaktererziehung“ durch das Erlernen von Disziplin, Zucht, Ordnung, Arbeit und Sauberkeit. Schreckliches Beispiel hierfür ist das Erlebnis der damals Neunjährigen Carola Koszinoffski, die ihre „Scheinhinrichtung“ erleben mußte. So wurde sie nachts von einer Nonne aus ihrem Bett im Heim geholt, mit dem Befehl im Garten ihr eigenes Grab zu schaufeln. Solche systematischen, vor allem grundlosen Misshandlungen wurden bis heute nie offiziell zugegeben.
„Es hat uns ja auch bis heute keiner gefragt“
Wensierski beschreibt die Erziehungsheime als Wirtschaftsunternehmen mit billigen Arbeitskräften, die ja schließlich auch Unterkunft und Verpflegung bekamen. Eine Auseinandersetzung der früheren Ordensschwestern mit ihren Taten findet nicht statt. Ihr knapper Kommentar: „Darüber haben wir nie gesprochen. Es hat uns ja auch bis heute keiner gefragt.“ Und was ist heute? Heute schmerzt die Erinnerung zu sehr.
Nach der Lektüre bleibt der schwache Eindruck, die Begebenheiten könnten an einigen Stellen eher zu oberflächlich und knapp beschrieben sein, als dass sie mit zu wenig Empathie geschildert wären. Es scheint, der Autor eilt durch Einzelschicksale, streut vereinzelt Fakten ein. Doch vermag er es nicht, den Leser zu „berühren“. Die lediglich wiederholte Erwähnung einer Tat als „grausam“ transportiert diesen Umstand nicht. Interessant sind all diese Schicksale, so wie das Buchprojekt insgesamt wichtig und notwendig ist, schon allein wegen seiner traurigen Aktualität: In diesem Sommer erschien in einer großen deutschen überregionalen Tageszeitung eine Meldung über die Schließung eines Kinderheims wegen „Missständen“. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung gegen die Leitung des Heims.
Victoria Groß arbeitet als freie Journalistin in Berlin für dieses Literatur-Magazin.


Kölner Stadt-Anzeiger 03.08.06
Die verdrängte Gewalt
VON SUSANNE ROHLFING

Die Geschwister Schlößer verloren ihre Eltern, als sie klein waren, und dann den Glauben an die Religion.
Marlene Schlößer steht gern früh auf, auch am Wochenende. Sie geht Brötchen holen und die Zeitung, bereitet das Frühstück vor und schleicht sich dann wieder zu ihrem Mann ins Schlafzimmer. Kurz hinter der Tür macht sie Halt und ruft leise: „Heinz!“ Ihren Heinrich sanft wach zu rütteln hat Marlene Schlößer sich in 47 Ehejahren abgewöhnt. Als sie es am Anfang der gemeinsamen Zeit mal versucht hat, schlug er wild um sich, „da bin ich fast unter dem Bett gelandet“, erinnert sich die 65-Jährige. Sie tat seine Eigenart als „eine kleine Macke“ ab. So etwas soll es ja geben bei Ehemännern.
Erst seit drei Jahren weiß Marlene Schlößer, dass die Schreckhaftigkeit ihres Mannes eine furchtbare Ursache hat. „Jede Berührung bedeutete früher direkt Kawalla“, sagt Heinrich Schlößer. Noch heute benutzt der 70-Jährige die Worte eines Kindes, um Misshandlungen zu beschreiben, die sein Unterbewusstsein nicht vergessen kann. Von 1941 bis 1950 lebte er in Kinderheimen in und um Köln unter der Obhut von Schwestern aus dem Orden der Borromäerinnen. Seine Mutter war bereits tot, als der Vater 1941 im Krieg fiel.
Für den Fünfjährigen und seine beiden Schwestern Elisabeth (damals sechs Jahre alt) und Betty (drei) war die unbeschwerte Kindheit abrupt vorbei. Es folgten Jahre, in denen Schläge und seelische Grausamkeiten für die Geschwister aus Köln an der Tagesordnung gewesen seien. Lange hat Schlößer das Erlebte verdrängt, nicht darüber gesprochen, versucht, nicht daran zu denken.
Erst als „Spiegel“-Autor Peter Wensierski 2003 mit einem Artikel über die skandalösen Zustände in deutschen Erziehungsheimen in den 50er und 60er Jahren das Thema öffentlich machte, ließ Schlößer die Erinnerungen wieder zu und erzählte seiner Frau seine Geschichte in voller Ausführlichkeit. Als der „Kölner Stadt-Anzeiger“ im Februar 2004 von ehemaligen Heimkindern aus Eschweiler berichtete, die ihre Misshandlung öffentlich gemacht hatten und daraufhin von dem betroffenen Orden und der Kirchengemeinde wegen des Verdachts auf Betrug angezeigt worden waren (Siehe „Betroffene klagen“), kam in Heinrich Schlößer eine vergessen geglaubte Wut hoch: „Sicherlich haben auch andere Kinder zu der Zeit Prügel bekommen. Aber was mich aufregt, ist, dass die Nonnen das abstreiten und sich Rechtsanwälte leisten, anstatt einmal zuzugeben, dass das damals so war.“ Wenn er öffentlich von seiner Vergangenheit erzählt, gehe es ihm nicht um Schadenersatz, sagt Schlößer, „es geht nur darum, zu zeigen, was sich die Kirche da geleistet hat“.
Die ewigen Prügel der Nonnen und Erzieherinnen haben ihm den Glauben genommen. „Aber das ist bei mir nicht so schlimm“, sagt Schlößer augenzwinkernd. „Ich habe in meiner Jugend so viel gebetet: Vor dem Aufstehen, nach dem Aufstehen, vor dem Frühstück, nach dem Frühstück, vor jeder Stunde, nach jeder Stunde. Ich glaube, das reicht noch für die nächsten 50 Jahre.“
Seinen Humor hat er sich irgendwie bewahrt, trotz der drakonischen Erziehungsmethoden. Wenn Heinrich Schlößer als kleiner Junge ins Bett gepinkelt hatte, bekam er Schläge - „und je mehr Prügel er bekommen hat, umso mehr hat er ins Bett gemacht“, erinnert sich seine Schwester Betty. Es kam auch vor, dass sich der kleine Heinrich am Morgen mit dem Laken auf den Hof stellen und warten musste, bis es getrocknet war.
Mit den Rohrstäben aus den Betten gab es Schläge auf die Hände. „Irgendwann hat uns das nichts mehr ausgemacht, wir kriegten es ja jeden Tag, dann mussten wir die Hände anders halten.“
Schlößer beklagt sich nicht, er berichtet ganz nüchtern, fast schon ein bisschen sarkastisch. Es habe auch Schläge auf die Waden oder ins Kreuz gegeben, „oder auch mal Gruppenkeile“: Dabei wurden die Jungs in zwei Reihen aufgestellt, und Heinrich Schlößer musste durch die Gasse laufen. „Jeder durfte schlagen und treten.“ Warum? „Weil den Nonnen wieder irgendetwas nicht gepasst hat.“
Den Mädchen wurde Unkeuschheit vorgeworfen, wenn sie mit den Händen unter der Bettdecke schliefen. „Es war ja kalt“, sagt Schlößers Schwester Betty. „Und dann haben wir Prügel bekommen, aber wir wussten gar nicht, was »unkeusch« bedeutet.“ Noch heute liege sie mit den Händen auf der Decke im Bett.
Nach seinem Artikel im „Spiegel“ erreichten Peter Wensierski unzählige Zuschriften ebenfalls Betroffener, die ihn veranlassten, ein Buch zu schreiben. Es erschien im Februar 2006 unter dem Titel „Schläge im Namen des Herrn“. Wensierski glückte mit dieser Veröffentlichung, was Alexander Markus Homes, einem Betroffenen, in 25 Jahren als Autor zu eben diesem Thema nie gelungen war: Die Kirche gestand ihre Schuld ein, zumindest ansatzweise.
Homes war bei seiner ersten Veröffentlichung im Jahr 1981 mit rechtlichen Schritten gedroht worden. In einem Vergleich vor dem Landgericht Wiesbaden einigte man sich schließlich darauf, dass er den Hinweis anfügte, die dargestellten Zustände seien „verfremdet und literarisch verarbeitet“. „Der Homes wurde offenbar nicht ernst genommen“, sagt der Autor heute selbst, „das konnte man mit dem Spiegel natürlich nicht machen“.
Im Gegenteil: Sowohl evangelische als auch katholische Kirchenvertreter äußerten erstmals Betroffenheit. Bischof Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sprach von einer „erschreckenden Unfreiheit“, die damals geherrscht habe. „Es erfüllt uns mit Scham, was dabei zutage tritt. Aber wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals.“
In kleinen Fachkreisen sei das Thema auch schon vor Jahren besprochen worden, sagt Marlene Rupprecht, die Kinderbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion, „aber das haben nicht viele zur Kenntnis genommen“. Erst jetzt seien auch Kirchenvertreter zum ersten Mal bereit, das vergangene Unrecht zu diskutieren.
Auch der Bundestag will sich nun mit dem Thema befassen. Im Herbst solle es vor dem Petitionsausschuss eine öffentliche Anhörung Betroffener geben. Es gehe um rentenrechtliche Fragen (viele Betroffene wurden jahrelang als Arbeitskräfte ausgebeutet), sagt Rupprecht, und darum, ob die ehemaligen Heimkinder ein Anrecht auf Opferentschädigung haben. Es müsse geklärt werden, „wer wofür welche Verantwortung hatte oder hat“. Ob es sich um Einzelfälle oder um eine „geduldete, permanente Verletzung von Menschen- und Persönlichkeitsrechten“ gehandelt habe. Und ob sich Deutschland ein Beispiel an Irland und Kanada nehmen sollte. Dort wurden von Kirche und Staat Fonds zur finanziellen Entschädigung der Opfer eingerichtet.
Frühe Traumatisierungen kämen oft im Alter wieder hervor, „die betroffene Generation ist jetzt dran“, sagt Rupprecht. „Manche haben das verarbeitet, andere haben es nicht gepackt, die gehen dabei drauf.“
Die Geschwister Schlößer haben sich durchgebissen. Alle drei haben eine Berufsausbildung abgeschlossen und geheiratet, die beiden Schwestern haben Kinder. Doch das Verhältnis der drei untereinander war jahrelang nicht besonders innig. Nur selten standen sie in Kontakt. „Das Bedürfnis war nicht da, früher durfte man ja nicht. Sich zu treffen, war immer mit Gefahr verbunden“, sagt Heinrich Schlößer. Auch das Vermächtnis einer grausamen Kindheit.

DER BOTE
Berichte aus der Brüder- und Schwesternschaft des Rauhen Hauses August 2006
Rezension Barbara Rose
Schläge im Namen des Herrn

„Nicht für alle waren die fünfziger und sechziger Jahre der Bundesrepublik eine Zeit des Aufbruchs. Im Abseits der Gesellschaft verbrachten einige hunderttausend Heimzöglinge unter heute unvorstellbaren Bedingungen ihre Kindheit in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen“.
So heißt es im Klappentext des im Mai in der Deutschen Verlags-Anstalt in München erschienenen Buches von Spiegel-Redakteur Peter Wensierski: „Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“.

Angeregt und aufgebracht durch den irischen Spielfilm „Die unbarmherzigen Schwestern“ über Misshandlungen von Kindern in irischen katholischen Heimen recherchierte Wensierski die Praxen in deutschen Erziehungsheimen in den 50er und 60er Jahren und veröffentlichte seine skandalösen Ergebnisse 2003 in einem Spiegel-Artikel. Damit hatte der Autor einen Stein ins Rollen gebracht: Mehr als 500 ehemalige Zöglinge nahmen Kontakt zu ihm auf; die Recherche weitete sich mit Hilfe dieser Zeitzeugen aus und führte schließlich zum Erscheinen des oben erwähnten Buches.

Die Lektüre lässt den Leser/die Leserin nicht kalt - immer wieder stockt man und wagt kaum weiter zu lesen angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die ehemalige Heimkinder zu berichten haben und konfrontiert mit den fortdauernden tief sitzenden Verletzungen und Schädigungen, die sie durch die Routinen in den Einrichtungen und durch die Behandlung der Erziehenden erlitten. Neben Prügel und Karzer als Bestrafung bei kleinsten Verfehlungen der rigiden Alltagszwänge, neben der Ausbeutung durch extrem harte körperliche Arbeit (deren Erlös von den Heimen eingesteckt wurde), war es aber vor allem die Haltung des Personals den Zöglingen gegenüber, die von Missachtung und Entwertung, Zuschreibung von Mängeln und Fehlern geprägt war. „Alle“ dem Autor bekannt gewordenen ehemaligen Zöglinge leiden noch heute unter dem Makel, ein Heimkind und damit jemand Minderwertiges zu sein. Dieses Leiden hat sich in vielfältigen Symptomen manifestiert: von Klaustrophobien über Bindungsangst über ausgeprägtes Suchtverhalten bis zu suizidalen Phasen. Bis zur ersten Veröffentlichung Wesnierskis 2003 hat ein Grossteil der ehemaligen Heimkinder ihren „Makel“ geheim gehalten, selbst gegenüber Lebensgefährten und eigenen Kindern.
Deshalb versteht Wesnierski seine Arbeit als advokatorisch für diese nicht kleine Gruppe (schätzungsweise lebten im Verlaufe der 50er und 60er Jahre gut eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Erziehungs- und Fürsorgeheimen), die dem kollektiven Trauma kaum aus eigener Kraft zu entkommen vermag. Mit seiner Unterstützung haben Ehemalige mittlerweile ein Netzwerk gebildet, das sich um Aufarbeitung der Schicksale, Aufklärung der Öffentlichkeit, Konfrontation mit den ehemals Verantwortlichen und um nachträgliche Rentenansprüche für die geleistete Arbeit bemüht. Hier können die Ereignisse in Irland nach der Veröffentlichung des Filmes „Die unbarmherzigen Schwestern“ als Vorbild gelten: Die irische Regierung richtete einen Beratungsservice für ehemalige Heimkinder ein und beauftragte eine Kommission, die Fälle körperlicher Misshandlungen und sexueller Gewalt in den genannten Einrichtungen zu untersuchen. Außerdem wurde ein Entschädigungsausschuss gebildet, der Anträge von Betroffenen entgegen nimmt und die Summe von 1,128 Mio ¤ Entschädigungsgeld (davon 128 Mio ¤ von der katholische Kirche Irlands) an die Opfer zu verteilen hat.

So weit ist man in der Bundesrepublik noch längst nicht. Von den heute noch übrig gebliebenen 400 Nachfolge-Einrichtungen aus den ehemals gut 3000 halten Viele ihr Archivmaterial, sofern es nicht vernichtet oder unkenntlich gemacht wurde, zurück. In den Festschriften dieser Heime, die anlässlich der 100-jährigen Bestehen angefertigt wurden und werden, ist nur selten ein kritischer Blick auf diese Zeitspanne enthalten. Nachfragen des Autors während der Erstellung des Buches bei der Deutschen Bischofskonferenz, bei Caritas und Diakonie erbrachten zunächst Unkenntnis oder Beschwichtigungen und Allgemeinplätze über diese unrühmliche historische Phase der Erziehungsanstalten. Mittlerweile, nach Erscheinen des Buches, positionierte sich das Diakonische Werk ein klein wenig deutlicher: Dessen zu der Zeit noch amtierender Präsident Gohde sagte den Betroffenen aktive Unterstützung bei der Aufarbeitung zu: „Unsere Archive sind offen. Wir werden jeden dabei unterstützen, seine Akte einzusehen.“ Und an die diakonischen Erziehungseinrichtungen gerichtet mahnte er: „Wenn Ihr Festschriften veröffentlicht, lasst diese Zeit nicht aus!“ (in: chrismonplus 6/2006, S.47). Künftige Entschädigungsforderungen der ehemaligen Zöglinge steht Gohde abwartend gegenüber, wichtiger ist ihm eine wissenschaftliche Aufarbeitung: „was wirklich passiert ist“. Einen Anknüpfungspunkt bietet die Erforschung der Geschichte des Erziehungsheims Freistatt, einer Einrichtung der von Bodelschwinghschen Anstalten, die auch in Wesnierskis Buch unrühmlich erwähnt ist; Fotoaufnahmen aus dem Archiv Freistatt vermitteln dort einen kleinen Eindruck vom „Arbeitslager“ Freistatt: In der Moorkolonie stachen die Zöglinge Torf und verlegten Schwellen für die Torfbahn, alles im Akkord.

Die kritische bundesrepublikanische Fachdiskussion zur Heimerziehung begann erst Anfang der 70er Jahre, überwiegend in den neu gegründeten Fachhochschulen für Soziales und befasst sich schwerpunktmäßig mit der „Institution“ Heim als „totaler Institution“ und/oder ihrer „gesellschaftlichen Funktion“, weniger mit den darin lebenden und arbeitenden Menschen und deren Beziehungen (vergl. Autorenkollektiv: Gefesselte Jugend. Fürsorgeerziehung im Kapitalismus, Frankfurt 1974). Ausnahmen waren Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der sogenannten Heimrevolte, in denen explizit die unwürdigen und schikanösen Erziehungspraxen im Mittelpunkt standen (vergl. Ulrike Meinhof: Bambule. Fürsorge - Sorge für wen? Berlin 1971 und Peter Brosch: Fürsorgeerziehung. Heimterror und Gegenwehr, Frankfurt 1971)
Diese Zeit der Heimrevolten um 1969 ist für Wesnierski Zäsur; er platziert seine Schilderungen von Heimschicksalen zwischen NS-Praxis und Heimkampagne und interpretiert die Erziehungspraxis der 50er und 60er Jahre bewusst in Kontinuität zur vorgängigen NS-Epoche. Schon die Tatsache, dass ein großer Teil der Heime sich nach 1945 in solchen ehemaligen Lagern befand, in denen „Asoziale Ballastexistenzen“ zusammen gesammelt und teilweise auch dort getötet wurden, ist ihm Beleg für die Ungebrochenheit einer die Heimkinder missachtenden und entwertenden Erziehungspraxis. Auch wenn dann mit der Heimrevolte (ihr ist ein eigenes Kapitel gewidmet) nicht alles anders wurde, so kamen doch zweifellos die skandalösen Zustände an die breite Öffentlichkeit, und eine rechtlich, politisch und fachlich motivierte Diskussion um die Notwendigkeit der Veränderung von Strukturen und Konzepten der Heimerziehung begann endlich.
Dieser Reformprozess lässt sich gut am Beispiel des Rauhen Hauses nachvollziehen: Überkommene Strukturen und Organisationsweisen wurden in der ersten Hälfte der 70er Jahre entformalisiert und dezentralisiert, Konzepte wurden entspezialisiert und alltagsorientiert neu entworfen.
Parallel dazu erfolgte bundesweit eine Aufwertung der pädagogischen Qualifizierung des Personals. Im Unterschied zur im Rauhen Haus seit vielen Jahren praktizierten Ausbildung zur Erziehungsarbeit zeichneten sich die große Mehrheit Heime bis zum Beginn der 70er Jahre dadurch aus, dass das Personal in der Regel über keine pädagogische Qualifizierung verfügte.

Peter Wesnierski kommt das große Verdienst zu, diesen Teil bislang verdeckter bundesrepublikanischer Geschichte sichtbar gemacht zu haben. Den Opfern hat er eine Stimme verschafft und sie ermutigt, mit einer neuen Perspektive auf die eigene Geschichte zu schauen.
Dass Schläge nicht nur „im Namen des Herrn“ ausgeteilt wurden, sondern ebenfalls „im Namen des Staates“, hätte der Autor deutlicher herausstellen sollen. Zwar befand sich der überwiegende Teil der Heime in konfessioneller Trägerschaft - und hier noch einmal mehrheitlich in katholischer; aus solchen Einrichtungen stammen auch die meisten Fallschilderungen. Aber es gab auch staatliche Heime, die sich - bis auf fromme Worte - in keiner Weise vom rigiden mainstream der Erziehungspraxis unterschieden. Und es gab Jugendämter, die - wenngleich die Heimaufsicht erst 1961 eingeführt wurde - sehenden Auges, wegschauend oder gar profitierend die Praxen in den Heimen gedeckt haben. Über die Funktion dieser Bürokratien im Kontext des alten, aus der Weimarer Zeit wiederaufgelegten Jugendwohlfahrtsgesetzes wäre hier mehr Information hilfreich gewesen.

Überhaupt handelt Wensierski die Auseinandersetzung mit der sogenannten Wiederaufbauzeit sehr kurz und plakativ ab und wird dabei der „Normalität“ dieser historischen Phase nur punktuell gerecht. Die Vielfalt der existenziellen Gründe, warum Kinder und Jugendliche damals in Heimen landeten, wird nicht deutlich, und zwischen der freiwilligen Heimerziehung und der Fürsorgeerziehung in geschlossenen Heimen differenziert Wesnierski überhaupt nicht. In so fern ist auch die von ihm angeführte Zahl von „einigen hunderttausend Heimzöglingen“, die unter den Fallgeschichten vergleichbaren Zuständen gelitten haben, spekulativ.

Darüber hinaus: Das, was uns während und nach der Lektüre vergangener Heimpraxen so ungeheuerlich und abartig, wie auf einem anderen Planeten spielend, erscheint, entsprach ja weitestgehend den damals vorherrschenden Normen und Werten. Ich selber bin in den 50ern Kind und Jugendliche gewesen, habe prügelnde katholische Kindergärtnerinnen (Nonnen) erlebt, habe Züchtigung in der Familie und eine rigide geschlechterspezifische Erziehung genossen, habe mitbekommen, wie die Lehrer in der Grundschule ein besonderes skeptisches Augenmerk auf die „unehelichen Kinder“ hatten. Bereits im Lyzeum, habe ich die schulöffentliche Stigmatisierung zweier Mitschülerinnen mit erlebt, die sich als Elvis-Anhängerinnen zu outen und zu stylen wagten und dazu noch mit 14 bereits „mit einem Jungen gingen“ - Verhaltensweisen, die unter wenig gesicherten Lebensbedingungen bereits zu Heimeinweisungen führen konnten, wie Wesnierski berichtet.
Das alles war völlig normal und spielte sich in integrierten gesellschaftlichen Bereichen ab. Nicht vergessen soll man, dass Körperstrafen als Erziehungsmittel in der Schule erst 1973 in der BRD abgeschafft wurden und dass das Züchtigungsrecht der Eltern erst seit dem Jahr 2000 durch eine Änderung im BGB ausdrücklich gesetzlich verboten ist. Seit diesem Zeitpunkt erst haben Kinder in der BRD ein Anrecht auf gewaltfreie Erziehung!
Auch der Sichtweise Wesnierskis einer Kontinuität von der NS-Erziehung zur Heimerziehung der 50er und 60er Jahre ist nur bedingt zu folgen, sie springt zu kurz. Aus der Weimarer Zeit sind eindrucksvolle Quellen bekannt, die nahezu identische Zustände in Erziehungsheimen schildern (vergl. Peter Martin Lampel: Jungen in Not. Berichte von Fürsorgezöglingen, Berlin 1928 und ders.: Revolte im Erziehungshaus. Schauspiel der Gegenwart in drei Akten, Berlin 1929).

Abschließend zwei Anregungen:
1. Gott sei Dank, „Schläge im Namen des Herrn“ werden heute nicht mehr verteilt. Geschichte wiederholt sich nicht, die Zeiten haben sich verändert, die Wissenschaft ist vorangekommen, das Recht wurde reformiert und modernisiert, die Erziehungsvorstellungen sind andere als vor 50 Jahren. Erziehungshilfen (ob stationär oder ambulant) haben sich vom alten strafenden Erbe emanzipiert. Dennoch: Die Anzahl der sogenannten auffälligen Kinder und Jugendlichen nimmt zu, die Klientel der Erziehungshilfen weist beharrlich vergleichbare soziale Merkmale auf wie schon vor 50 und mehr Jahren, die so genannten Defizite der Mädchen und Jungen von einst und jetzt sind nahezu identisch. Am Kern der Probleme, warum Kinder und Jugendliche in Öffentlicher Erziehung betreut werden müssen, hat sich nichts geändert. Und: Die seit mehr als 20 Jahren abgeschafft geglaubte geschlossene Unterbringung ist wieder auf dem Vormarsch, das Wegschließen von auffälligen Jugendlichen wird wieder vermehrt gefordert. Lohnte es deshalb nicht, einmal genauer mögliche Kontinuitäten der Heimerziehung seit den 50er Jahren bis heute zu recherchieren? Was hat sich wirklich qualitativ verändert im zum damals anderen Kontext von Recht, Fachlichkeit und Werten? Was ist stabil geblieben? Und warum dies und nicht anderes?

2. Auch wenn man nicht davon ausgehen darf, dass die Erziehungsarbeit im Rauhen Haus der 50er und 60er Jahre „ganz anders“ im Vergleich dazu, was übliche Erziehungspraxis war, stattgefunden hat, so kann es doch lohnen, dieses noch dunkle Feld zu erhellen. Über die Erziehungsarbeit ist allerlei nachzulesen, ihre historische Entwicklung ist gut dokumentiert. Zur Organisation der Brüderschaft und zur Qualifizierung liegt aufbereitetes Material vor. Jedoch darüber, wie die alltägliche Erziehungspraxis aus der Perspektive der Zöglinge und der Erzieher erlebt und bewertet wurde, wissen wir wenig. Im Unterschied zu vielen Heimen der 50er und 60er Jahre scheint die Aktenlage zur Bearbeitung dieser Fragen gut zu sein. Es existiert ein sorgsam gepflegtes Archiv, es gibt Kontakte zu ehemaligen Zöglingen und Erziehern/ Brüdern.
Vergleichbar dem Forschungsprojekt von Fachhochschule und Brüder- und Schwesternschaft zum Thema „Brüderschaft und Drittes Reich“ zwischen 1980 und 1982 ist eine Forschungsgruppe aus Studierenden, Lehrenden, Brüdern und Schwestern vorstellbar, die sich an die Bearbeitung der Thematik: „Die alltägliche Er- und Beziehungspraxis im Rauhen Haus“ in dieser spezifischen Zeit (50er und 60er Jahre) macht. Dafür wären folgende Arbeitsschritte zu leisten:
- Recherche der damaligen organisatorischen, konzeptionellen, juristischen Rahmenbedingungen der Erziehungsarbeit des Rauhen Hauses sowie der einweisenden Fürsorgebürokratien,
- Sichtung und Aufarbeitung der Materiallage,
- Kontaktaufnahme zu ehemaligen Zöglingen und Erziehern,
- Befassung mit Befragungsmethoden, Entscheidung für ein Vorgehen und Entwicklung von Instrumentarien,
- Durchführung von Befragungen von Einzelnen und in Gruppen,
- Sicherung, Auswertung und Bewertung der Befrgungsergebnisse und Zusammenführung mit den Ergebnissen der Recherche der Rahmenbedingungen und des Archivmaterials sowie
- Veröffentlichung.

Ob und wie die Erziehungspraxis des Rauhen Hauses in den 50er und 60er Jahren tatsächlich abwich vom mainstream, ob sie darüber hinaus Kontinuitäten zu ihren heutigen Modellen und Konzepten aufweist oder eben nicht, das alles kann durch ein spannendes Forschungsprojekt aufgeklärt werden.
©Barbara Rose

Erziehungswissenschaftliche Revue EWR 5 (2006), Nr. 4 (Juli/August 2006) 27.07.2006

Wolfgang Trede (Böblingen) Rezension
Peter Wensierski
Schläge im Namen des Herrn
Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik


Die Entwicklung der Heimerziehung zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn der Reformen im Gefolge der Heimkampagnen 1969/70 ist nach wie vor wenig erforscht. Die Jugendhilfegeschichtsschreibung handelt die Zeit entsprechend kurz ab als „restaurative Phase“ mit wenigen Reformeinsprengseln (Mehringers Umbau des Münchner Waisenhauses, die Kinderdörfer, die heilpädagogisch-psychotherapeutischen Kleinheime).

Gewiss: Die Fachszene wusste und weiß von der schwarzen Pädagogik hinter den Anstaltsmauern der Fürsorgeerziehung der damaligen Zeit, vom Kasernenhofton, erniedrigenden Praktiken, Gewalt, Isolation und aus heutiger Sicht nichtigen Einweisungsgründen der Jugendämter und Vormundschaftsgerichte. Bereits in den 1960er Jahren wurden in der Fachszene selbst die inakzeptablen Praktiken thematisiert: Als ein Beispiel kann die Aktion von engagierten Pädagogen um Hans Thiersch und Martin Bonhoeffer angeführt werden, die 1967 im Publikumsmagazin „Quick“ den deutschen Heim-Skandal anprangerten (Quick vom 18.10.1967: „In deutschen Heimen leiden elternlose Kinder“). Schließlich wendeten sich die Heimkampagnen der APO öffentlichkeitswirksam genau gegen jene unmenschlichen, undemokratischen Erziehungspraktiken in den „Fürsorgeknästen“ der Republik – und gab damit zu Beginn der 1970er Jahre den Anstoß zu einem grundlegenden Reformprozess der Heimerziehung in Deutschland. Die damalige Kritik richtete sich indes vornehmlich gegen das „System“, während die durch das repressive Heimsystem beschädigten jungen Menschen weniger ins Blickfeld gerieten (obwohl es an Selbstzeugnissen nicht fehlte, z.B.: Peter Brosch: Fürsorgerziehung – Heimterror und Gegenwehr). Forderungen nach persönlicher Entschuldigung durch die Träger und Erzieher, nach persönlicher Wiedergutmachung für erlittene seelische und körperliche Verletzungen sind m.W. jedenfalls nicht gestellt worden.

Diesem Thema widmet sich fast vierzig Jahre später die Reportage des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski. In neun Kapiteln, angereichert durch eine Reihe von Bilddokumenten, wird anhand von autobiografisch berichteten Einzelschicksalen die Fürsorgeerziehung der 50er/60er Jahre bedrückend lebendig:

• die Bigotterie und verklemmte Sexualmoral der Jugendbehörden, die Mädchen und junge Frauen, zumal wenn sie „unehelich“ waren, schnell als „gefallen“ und „verwahrlost“ etikettierten, wenn sie sich zu lange im Beatschuppen aufgehalten und zu laut „Negermusik“ gehört hatten;
• die systematischen Schläge, Erniedrigungen und an Abu Ghraib erinnernden Grausamkeiten durch womöglich selbst überfordertes Personal, vorwiegend nicht einschlägig ausgebildete Nonnen und Patres, die weniger einen jungen Menschen in Not als die personifizierte Erbsünde vor sich sahen, gewissermaßen Wilde, die zu zähmen seien;
• die fatale Kontinuität aus der Nazizeit, sowohl was das Personal betrifft als auch bezüglich des Erziehungsstils;
• die quasi selbstverständliche Ausbeutung der Arbeitskraft der jungen Menschen durch den Zwang zu schwerer körperlicher Arbeit, sei es in der Wäscherei, auf dem Feld oder beim Torfstechen.


Lebendig wird kurzum ein grausames System, das Gegenteil von Jugend-Hilfe, das junge Menschen nur als rechtlose, ausgelieferte Objekte erleben konnten.

Wensierskis Reportage zeigt aber auch die traumatisierenden Wirkungen auf die späteren Leben der ehemaligen Heimzöglinge, die heute zwischen 45 und 65 Jahre alt sind. Die meisten konnten sich erst nach 20/30 Jahren mit ihren Heimerfahrungen richtig auseinandersetzen, viele zeigen bis heute typische posttraumatische Belastungsstörungen wie plötzliche Flashbacks und Panikattacken nach Schlüsselreizen (der Gürtel, der dem ähnelt, mit dem man immer verprügelt wurde), Schlafstörungen, Beziehungsprobleme etc. Es wird berichtet, wie einige der Ehemaligen ihr altes Heim (soweit noch vorhanden) oder den Träger besuchen, um nach 40/50 Jahren Einsicht in ihre Akte zu nehmen, oder die frühere Peinigerin aufsuchen, um vielleicht ein Wort der Entschuldigung zu hören. Diese Reisen in die Vergangenheit endeten Wensierski zufolge in den weit überwiegenden Fällen mit formalem Abblocken, Verweigerung der Akteneinsicht, Verharmlosung oder Negieren.

Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Zeit der Heimkampagnen 1969/70, das, insbesondere weil es die APO-Aktionen im Erziehungsheim Staffelberg und anderswo sehr stark aus der Perspektive und den Aktivitäten der späteren RAF-Gründungsmitgliedern Baader, Ensslin und Meinhof rekonstruiert, einige ergänzende Facetten zum bekannten Sachstand (wie er z.B. in dem IGfH-Band „Aus der Geschichte lernen. Analyse der Heimreform in Hessen“ herausgearbeitet wurde) liefern kann.

Als Postscriptum muss auf die Rezeption des hier rezensierten Bandes, der im Februar 2006 auf den Markt gekommen ist, eingegangen werden: Nachdem viele überregionale Medien das Thema im Februar und März aufgegriffen hatten, haben nunmehr wichtige betroffene Träger wie die Caritas, die Diakonie und der Landeswohlfahrtsverband Hessen begonnen, sich öffentlich mit dem verdrängten Thema auseinanderzusetzen [1]. Die Verbände und Einrichtungsträger scheinen derzeit (noch) lediglich auf diesen medialen Druck zu reagieren. Von den einweisenden und sich dann um die jungen Menschen häufig nicht mehr besonders kümmernden Behörden, also von Jugendämtern und Landesjugendämtern, war bisher noch gar nichts zu hören. Inwieweit es zu wirklichen Entschuldigungen gegenüber den Betroffenen kommt, wie wahrhaftig sich die Aufarbeitung der dunklen Geschichte in umfassender und kontinuierlicher Unterstützung der Geschädigten ausdrückt, muss die Zukunft zeigen.

Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Rekonstruktion der Geschichte der Heimerziehung in (West)-Deutschland in der Zeit zwischen 1945 und 1970 kann und will die verdienstvolle und wichtige Reportage von Peter Wensierski nicht leisten. Der Band sollte aber dazu aufrütteln und es wäre eine Form der Wiedergutmachung, wenn z.B. Caritas und Diakonie für ihren Bereich entsprechende Untersuchungen in Auftrag geben würden.

[1] Die Homepage des 2004 gegründeten Vereins ehemaligen Heimkinder enthält eine umfangreiche Linkliste zu den Medienberichten sowie weitere autobiografische Berichte: www.vehev.org

Die Weltwoche 26. Juli 2006
Ausgabe 07/06 | Kultur
Geschichte
Unter der Knechtschaft Jesu Christi
Reinhard Mohr

Erstmals arbeitet ein Buch all das auf, was kirchliche Kinderheime im Nachkriegsdeutschland als Erziehung deuteten. Nach der Lektüre segnet man jede antiautoritäre Revolte ab.

Die fünfziger Jahre in Deutschland waren Jahre des Wiederaufbaus nach dem grossen Krieg. Noch heute strahlt diese Ära im retrospektiven Glanz von Neuanfang und wiedergefundenem Lebensglück. Die ersten VW Käfer rollten, in rein touristischer Absicht, über die Alpen, und zwischen dem Wegräumen von Trümmern und dem Neubau von Fabriken wurden Filme gedreht, die das Herz des Volkes erwärmten. Sie hiessen «Schwarzwaldmädel», «Grün ist die Heide» oder «Sissi, Schicksalsjahre einer Kaiserin». Cornelia Froboess sang «Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein...». Das deutsche Wirtschaftswunder erschien als – zugegeben: etwas spiessige – Renaissance der goldenen zwanziger Jahre.

Ein schöner Mythos. Die Wirklichkeit sah anders aus. Das fing schon bei den Kleinsten an. «Der kommt ins Heim!», hörte man damals häufiger, dachte sich aber nicht viel dabei. Keine schöne Sache, gewiss, weg von den Eltern und Spielkameraden, aber auch keine Katastrophe. Es ging ja meist nur um ein paar Jahre, und wer weiss, dem einen oder anderen mochte es auf die Sprünge helfen. Informationen darüber, wie es in den Heimen zuging, drangen kaum nach aussen.

Was die überwiegend kirchlichen Erziehungsheime betrifft, weiss man es seit dieser Woche ziemlich genau: «Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik» heisst das Buch des Berliner Spiegel-Redaktors Peter Wensierski, das gerade erschienen ist. Schon vor der Publikation sorgte es für erhebliche Unruhe in evangelischen wie katholischen Kirchenkreisen bis hoch zu Bischöfen und Kardinälen. Grund genug gibt es. Auf den kürzesten Nenner gebracht: Jahrzehntelang herrschten skandalöse Zustände in kirchlichen und staatlichen Kinderheimen, ohne dass die Behörden eingegriffen hätten.

Jenseits aller Übertreibung kann hier von systematischen Menschenrechtsverletzungen gesprochen werden, physische wie psychische Folter inklusive. Sie trieb viele der jugendlichen Opfer in den versuchten oder vollendeten Selbstmord. Auch wenn man die damals herrschenden autoritären Erziehungsvorstellungen berücksichtigt, die noch überwiegend aus dem 19.Jahrhundert stammten, besteht kein Zweifel: Ein ausgeprägter und anhaltender Sadismus durchzog den Alltag jener geschlossenen Anstalten, die «gefallene Mädchen» und «schwer erziehbare» Jungen auf den Pfad der Tugend und den Weg des Herrn zurückbringen sollten.

Martyrium im Dunkeln

Selbst wer körperliche «Züchtigung» hier und da – womöglich bei «schweren Fällen» – auch heute nicht rundweg ausschliessen möchte, wird bei der Lektüre des aufwendig recherchierten Buches erschrecken. Die brutale Brechung der Individualität und die ausgeklügelte Demütigung der Persönlichkeit der Heimkinder genossen oberste Priorität – das genaue Gegenteil einer Erziehung im Namen christlicher Nächstenliebe.

Noch heute, vierzig Jahre später, leiden viele der mehreren hunderttausend ehemaligen Heimzöglinge aus den einst dreitausend deutschen Fürsorgeanstalten unter den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit, die sie selbst Ehepartnern und nächsten Angehörigen aus Scham verschwiegen haben. Das allgemeine Schweigen über jene Vorgänge lastet umso schlimmer auf ihnen, als schon das jahrelange Martyrium sich buchstäblich im Dunkeln abspielte und bis heute von den verantwortlichen Vertretern der Kirchen offiziell geleugnet oder einfach nicht zur Kenntnis genommen wird. Von einer Bestrafung der Täter, einer umfassenden Entschuldigung und öffentlicher Rehabilitation der Opfer ganz zu schweigen. Das könnte sich nun, da die Fakten auf dem Tisch liegen, ändern.

Autor Wensierski hatte schon 2003 eine Spiegel-Geschichte zum Thema verfasst und daraufhin über fünfhundert Leserbriefe von Betroffenen erhalten. In seinem Buch zeichnet er nun das erste umfassende Bild jener Verhältnisse. So ist das Enthüllungswerk des früheren Dokumentarfilmers und Fernsehjournalisten nicht nur buchstäblich eine Befreiung für die einstigen Heimkinder, sondern auch eine aufregende Zeitreise in die fünfziger Jahre. Wensierski sprach mit fast achthundert ehemaligen Heimkindern, früheren Angestellten, Heimleitern sowie einigen Nonnen und Ordensbrüdern. In Archiven fand er verschollen geglaubte Aufzeichnungen und konfrontierte einige der Täter von damals mit ihren Opfern. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe komplettieren das Bild.

Erbrochenes gegen den Schweinehund

Gisela Nurthen war fünfzehn Jahre alt, als sie 1961 ins Dortmunder «Heim für gefallene Mädchen» kam, das von den «Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul» geführt wurde. Der Grund ihrer Einweisung war so nichtig wie bei vielen anderen ihrer Leidensgenossinnen: Sie benahm sich etwas anders als andere Mädchen ihres Alters, etwas auffälliger und lebenslustiger. Sie hatte ein Elvis-Plakat an die Wand ihres Kinderzimmers geklebt, trug gern kurze Röcke oder enge Hosen, fuhr mit Jungs auf dem Moped durch die Gegend und schrieb einen «Liebesbrief» an einen Zwölfjährigen. Zum Verhängnis wurden ihr ein Tanzabend und eine Nacht, in der sie nicht zu ihrer alleinerziehenden Mutter nach Hause gekommen war.

Ein Streifenwagen der Polizei griff sie zusammen mit einem Freund auf, und schon vierundzwanzig Stunden später entschied ein Richter, der sie nie zu Gesicht bekam, dass sie auf «Vorschlag» ihres Vormunds beim Jugendamt ins Heim verbracht werde. Ein Routinevorgang, wie er damals sehr oft vorkam: Entscheid nach Aktenlage, Denunziationen von Nachbarn eingeschlossen. «Vier Jahre dauerte die Haft hinter Klostermauern. Gisela Nurthen war ohnmächtig einem perfiden Repressionssystem frommer Schwestern ausgeliefert, die sie mit Prügeln zu Gebet, Arbeit und Schweigen zwangen. Bis heute hat die Frau das Trauma dieser unbarmherzigen Jahre nicht verwunden.» Das Heim der «barmherzigen Schwestern» war ein Zuchthaus. Von Anfang an setzte es, auch bei allergeringsten Abweichungen von der festgefügten Ordnung, Schläge und Tritte, bis Blut floss. Beschimpfungen und Verwünschungen, verbale Erniedrigungen jeder Art galten als pädagogisches Prinzip.

War das fetttriefende Billigessen auch noch so ekelhaft, es musste aufgegessen werden – auch das schon erbrochene. Der Gang zur Toilette war nur zu bestimmten Zeiten erlaubt. Wer dazwischen musste, wurde hart bestraft. Dafür weideten sich die Schwestern an der befohlenen Intimreinigung der «Sünderinnen», die sie minutiös beobachteten. Manchmal legten sie auch selbst Hand an beim Scheuern und Schrubben der gottlosen Sündenfalle. Das alles war Teil des heiligen «Kampfes gegen sich selbst», für gnadenlose «Selbstzucht» und gegen den «inneren Schweinehund».

Manchmal wurden gegen diesen auch Psychopharmaka verabreicht, wie bei Marion. Jahrelang und ohne jede ärztliche Untersuchung. Die gab es sowieso nicht. Lange Zeit war Marion später tablettensüchtig. Ein unglaublicher Höhepunkt der systematischen Quälerei war eine Art Scheinhinrichtung im Herbst 1970 (!). Eine Schwester befahl der neunjährigen Carola, mitten in der Nacht ihr eigenes Grab zu schaufeln. Im Schlafanzug. «Sie weinte, sie schluchzte, sie grub.» Dann zerrte die Magd Jesu Christi die hilflose Kleine wieder ins Heim. Bis heute ist Carola, seit ihrem 39. Lebensjahr erwerbsunfähig, in psychiatrischer Behandlung.

Tagsüber musste vielerorts im Akkord unbezahlte Zwangsarbeit verrichtet werden: zehn Stunden nähen, stopfen, waschen, mangeln, bügeln. Selbst im Schlafsaal war die Tortur noch lange nicht zu Ende. Eines Abends, das Licht war schon aus und die wachhabende Nonne gerade nicht da, sang Gisela mit Inbrunst einen Song ihres geliebten Elvis Presley. Mit einem Ruck wurde sie «aus dem Bett gerissen, über den Boden geschleift, heraus aus dem Schlafsaal, den Flur entlang bis zur &Mac220;Klabause&Mac221;, jenen gefürchteten Zellen mit Glasbausteinen anstelle von Fenstern. Die Ausstattung bestand nur aus einer Holzpritsche, einer groben Decke und einem Blecheimer mit Deckel als Toilette.»

Die meisten Heime stammten aus den zwanziger, dreissiger Jahren, und es gab nicht nur räumliche Kontinuitäten. Manche Methoden der meist pädagogisch überhaupt nicht qualifizierten Kampfschwestern knüpften fast nahtlos an die Nazizeit an. Mehr noch: Im «Kalmenhof» in Idstein etwa waren zwischen 1941 und 1945 mindestens tausend Kinder im Rahmen von Zwangssterilisierung und Euthanasie ermordet worden. Viele der «Erzieher» und Angestellten aus dieser Zeit blieben zum Teil bis in die sechziger Jahre dort beschäftigt, und erst in den achtziger Jahren wurde das Massengrab mit den Kinderskeletten freigelegt.

Von heute aus gesehen ist es eine schwarze Ironie der Geschichte, dass erst massive öffentliche Protestaktionen im Sommer 1969, an denen die späteren RAF-Gründer Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Astrid Proll und Ulrike Meinhof aktiv beteiligt waren, das allmähliche Ende der unbarmherzigen «Heimknäste» einläuteten. Eine deutsche Geschichte zwischen Naziterror, religiös verbrämter Gewalt und revolutionärer Stadtguerilla. Doch wer dieses Buch gelesen hat, wird bei allem, was gegen die «68er» vorzubringen ist, die historische Berechtigung dessen verstehen, was einst «antiautoritäre Revolte» hiess.

Selbst in der liberalen Wochenzeitung Die Zeit hatte ein Autor am 31.Oktober 1958 anlässlich eines Rock-’n’-Roll-Konzertes eine offenbar ansteckende «Epidemie» an Tanzwut diagnostiziert. Dagegen empfahl er, ganz im Geist der Zeit, die «Isolierung der Tanzwütigen», vor allem aber die «Anwendung von Prügeln und Güsse mit kaltem Wasser».

(c) 2007 by Die Weltwoche, Zürich - E-mail: webmaster@weltwoche.ch

taz die tageszeitung 22.7.2006
Ein Torgauer will reden
AUS TORGAU MATTHIAS LOHRE UND BETTY PABST (FOTOS)
Er hätte weiter schweigen können. Niemand hätte vermutet, dass hinter Ralf Webers Fassade aus Muskeln und Tätowierungen eine Geschichte der Demütigung steckt. Denn wer erzählt schon gern, wie ihm ein Erzieher mit dem schweren Schlüsselbund auf Penis und Hoden schlug? Oder wie er im strengen Winter 1971/72 eine Woche Einzelarrest erdulden musste? Wer erzählt schon gern, wie er sich da, 16-jährig, zitternd den Tod wünschte, um die Demütigung und die Hilflosigkeit nicht mehr spüren zu müssen? Ralf Weber spricht darüber.

In den Saal des ehemaligen Geschlossenen Jugendwerkhofs im sächsischen Torgau scheint die Sonne. 20 Gymnasiasten sitzen in den Stuhlreihen, sie hören Ralf Weber zu. Er erzählt eine traurige Geschichte aus einem untergegangenen Land. Das Land hieß DDR, und die Geschichte endete erst im Wendewinter 1989/90. Für Weber ist sie bis heute nicht zu Ende. "Mein Vater trank, zerstörte unsere Familie und ging in den Westen, als ich noch ein Kind war", sagt er. "Mit 6 kam ich zum ersten Mal in ein Heim. Das letzte habe ich mit 17 verlassen. Aber die schlimmsten viereinhalb Monate, die habe ich hier verbracht, im einzigen Geschlossenen Jugendwerkhof der DDR."
Weber ist auf Einladung der Torgauer Erinnerungs- und Begegnungsstätte hier. Breitbeinig steht er vor den Zuhörern. Beim Reden zeigt er auf Holzpritschen und hohe Mauern, die es nicht mehr gibt. Weber will nicht, dass die Zeit über sein Schicksal hinweggeht und über das von 4.045 anderen Jungen und Mädchen.
"Zur Begrüßung in Torgau kam ich sieben Tage in Einzelarrest", erzählt er den 14- bis 17-Jährigen. Sie sind so alt wie er und seine Mitinsassen damals. "Die Haare wurden mir geschoren, ich hatte nur eine Hose, ein Hemd und ein Paar Schuhe ohne Schnürsenkel." Die Worte sprudeln aus dem Zimmermann heraus. Einmal beschworen, will die Vergangenheit nicht mehr weichen. Alles will er erzählen, die ganze Geschichte des Jugendwerkhofs, die auch seine ist.
Torgau, das war die Endstation für widerspenstige Heranwachsende, mit denen die DDR-Jugendhilfe nicht zurechtkam. Von 1964 bis 1989 pferchte Margot Honeckers Volksbildungsministerium hier 14- bis 17-Jährige ein. Drei kleine Delikte, etwa heimliches Zigarettenrauchen, genügten schon für eine Überweisung aus weniger verrufenen Jugendwerkhöfen in das ehemalige Gefängnis. Hierher kamen verstörte Heimkinder, bockige Punks und Jugendliche, die aus der FDJ ausgetreten waren. Hier sollten sie zu "sozialistischen Persönlichkeiten" reifen - in Gefängnistrakten, die seit der Kaiserzeit ungezählte Verurteilte gesehen hatten. Auch die jungen Menschen, die hierher kamen, erwartete Häftlingskluft. Doch sie waren Häftlinge ohne Verfahren und Schuldspruch. In vielen Fällen genügte ein Telefonat zwischen dem Torgauer "Spezialheim" und der Jugendhilfe. Schriftliche Einweisungsbescheide waren Formsache, Eltern erfuhren oft erst nach Wochen, wo ihr Kind war. "Ich war bestimmt kein Engel", sagt Weber. "Aber warum ich nach Torgau kam, weiß ich bis heute nicht."
Mit Redeverbot, Schlägen und der Aussicht auf bis zu 14 Tage Einzelarrest trieb das Wachpersonal die Jugendlichen zur Akkordarbeit an: Lampen für die Volksmarine mussten sie zusammenbauen. Wer redete, dem drohte die Dunkelzelle.
All das kann man nicht mehr sehen. Aus dem Zellenbau wurden in den 90er-Jahren Eigentumswohnungen, auf deren hölzernen Balkons die neuen Bewohner heute ihre Wäsche aufhängen. Auch die fünf Meter hohe Außenmauer gibt es nicht mehr, ebenso wenig die Wachtürme und die "Sturmbahn". Wo früher der Jungenschlafsaal und die Arrestzellen waren, sind heute Wohnzimmer und Partykeller.
Wenige Meter entfernt steht Weber in der Sonne, er hat Pause. Drinnen schauen sich die Schüler gerade die Dauerausstellung an - eine Holzpritsche mit hingekritzelten Hilferufen junger Mädchen, ein Blick in eine Einzelzelle, alte Fotos. Hier, auf einem Parkplatz, der für ihn kein Parkplatz ist, will Weber zeigen, wie es damals war. "Morgens und nachmittags jagten uns die so genannten Erzieher über den Schotterhof", sagt er, "immer im Kreis." Mit der Hand zieht er entlang der gepflasterten Ebene eine Bahn nach, die nur er sehen kann. "Zwischen fünf Meter hohen Gefängnismauern, auf denen eingelassene Glassplitter thronten."
Mancher hielt das nicht aus. Mindestens ein Insasse nahm sich nachweislich das Leben: Er verbarrikadierte sich in einem Zimmer, zündete es an und verbrannte. Andere tranken Lack oder schluckten Nägel. Krankenhaus oder Psychiatrie, Hauptsache, raus hier. Bis zu 500 Liegestütze, Kniebeugen und Strecksprünge, das war der berüchtigte "Torgauer Dreier", hinzu kamen unzählige Runden auf der "Sturmbahn". "Wir mussten unter Stacheldraht durchkriechen, einer der Erzieher drückte mir mit dem Fuß den Draht auf den Rücken", sagt Weber. Der 51-Jährige hört nicht mehr auf zu reden. Den bärenstarken Mann treibt die Angst um, die Geschehnisse im Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau könnten verdrängt werden. Wie es schon einmal war.
In der DDR war das Vorurteil weit verbreitet: Wer im Jugendwerkhof sitzt, der wird schon was verbrochen haben. Erst recht die "Torgauer", die Schlimmsten von allen. Viele von ihnen leiden noch heute unter diesem Stigma, nur zögerlich legen sie ihre Scham ab. So wie Ralf Weber begreifen manche: Nicht ich bin unwürdig. Meine Behandlung durch die brutalen Aufseher war es. Doch diese Einsicht bei Ehemaligen und Behörden wächst nur langsam. Selbst Webers 17-jährige Tochter weiß erst seit kurzem, was ihrem Vater lange vor ihrer Geburt hier widerfahren ist. "Meinen Schwiegereltern verschweige ich es bis heute", sagt er. Dabei war er es, der mit seiner Klage vieles verändert hat.
Bei einem Arbeitsunfall hatte sich Weber 1993 die Muskeln im rechten Oberschenkel durchtrennt. Der Mann, der im Heim gelernt hatte, immer stark zu wirken, war plötzlich Frührentner. Als ihm die Rentenbeitragszahlungen für seine Zeit als "Werkhöfler" nicht anerkannt wurden, klagte sich Weber durch die Instanzen.
Bis er im Dezember 2004 eine wegweisende Entscheidung erstritten hatte. Das Berliner Kammergericht urteilte: Die Einweisung in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau war generell rechtsstaatswidrig. Niemand hat es verdient, so behandelt zu werden. Egal, was sie oder er zuvor getan hat.
Trotz Webers ermutigendem Beispiel haben seit der Entscheidung nur wenige ehemalige Insassen ihre Rehabilitierung beantragt. Viele tragen bis heute schwer an dem Makel, ein "Torgauer" gewesen zu sein. Damit geht man nicht an die Öffentlichkeit, bis heute nicht. Für Weber aber war das Urteil "das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich mir vorstellen konnte."
Um die Erinnerung stünde es noch schlechter, wäre da nicht eine Hand voll engagierter ehemaliger Insassen. Und eine junge Torgauerin: Claudia Linke, lange, braune Haare, randlose Brille. Die 28-Jährige sieht aus, als habe sie ihr Geschichtsstudium noch nicht hinter sich. Aber die Frau, die im Wendewinter 11 Jahre alt war, leitet seit zwei Jahren zielstrebig die kleine Gedenkstätte im früheren Verwaltungstrakt des Werkhofs. In der Garnisonsstadt Torgau, die heute vor allem für das erste Aufeinandertreffen amerikanischer und sowjetischer Soldaten im April 1945 bekannt ist, nicht für eine jahrhundertelange Tradition, Gefangene und Untertanen heranzuzüchten. In Kasernen, Lagern, Gefängnissen - und im Jugendwerkhof. Hier will die Historikerin zeigen, wohin Autoritätsdenken führen kann. Ohne Pathos, einfach indem sie Gruppen durch die Ausstellungsräume führt und Zeitzeugen wie Ralf Weber bittet zu erzählen. Ein Verein trägt die 1998 eröffnete Gedenkstätte und gab das Startkapital. Zwei Frauen unterstützen Linke, auf ABM-Basis. Für mehr reicht das Geld nicht. Und das ist das Problem.
"Noch finanzieren Stadt, Freistaat Sachsen und Bund unsere Arbeit", sagt Claudia Linke, als es wieder still ist in der Gedenkstätte. Die Schüler sind fort, jetzt muss sie Schreibarbeit erledigen. In ihrem Büro saßen früher die Wachmannschaften. Linke braucht Geld für die Gedenkstätte, den Großteil der Summe zahlt das Sächsische Sozialministerium. "Aber das kann uns", sagt sie mit einem Schulterzucken, "jederzeit den Boden unter den Füßen wegziehen." Jedes Jahr muss sie einen neuen Antrag stellen - Bewilligung ungewiss.
Im September 2005 schrieb Linke gemeinsam mit früheren Insassen einen offenen Brief an Sachsens CDU-Ministerpräsidenten Georg Milbradt. Sie wollten Planungs-, also Finanzsicherheit. Als Antwort gab es bislang nur ein einseitiges Schreiben mit ein paar unverbindlichen Sätzen: "Damit Gedenken und Erinnerung an die Opfer der DDR-Heimerziehung auch weiterhin möglich sind, ist der Freistaat Sachsen auch künftig am Erhalt der Gedenkstätte interessiert." Das war im Oktober.
Nur wenn Dresden das Torgauer Projekt als "förderungsfähig" einschätzt, gibt der Kulturstaatsminister aus Berlin Geld dazu. So lange weiß niemand hier, ob es die Gedenkstätte im kommenden Jahr noch gibt. Die Räume sind nur angemietet.
Während die Leiterin vom Kampf mit den Bürokraten erzählt, sitzt Ralf Weber mit am Tisch und trinkt Kaffee. Er versucht, sich zurückzuhalten, wirklich, aber er kann nicht. "Anfang des Jahres", bricht es aus ihm heraus, "kamen Leute vom Torgauer Stadtrat in die Gedenkstätte. Sie schauten sich die Ausstellung an, sie sahen die Pritschen mit den hingekritzelten Hilferufen. Sie alle aßen hier zu Mittag, wir erzählten ihnen unsere Geschichte. Am Ende", sagt er und schüttelt den mächtigen Kopf, "am Ende kam ein Stadtrat auf mich zu und sagte: ,Aber eins müssen Sie zugeben: Sie waren doch nicht unschuldig hier.' "

jungle-world 21. Juni 2006
Tanzen verboten, Schlagen erlaubt
Der Alltag in kirchlichen Kinderheimen war bis in die sechziger Jahre hinein bestimmt von Gewalt und Willkür. Ehemalige Heimkinder haben dem Journalisten Peter Wensierski ihre Geschichte erzählt. von guido sprügel
Es scheint ein wesentliches Kennzeichen von Gesellschaften in der Krise zu sein, sich an bessere Zeiten zu erinnern. Zu beobachten ist dies auch in Deutschland. Seit das Land von einer Art kollektiver Sinnkrise heimgesucht wird, mehren sich die Fernsehbeiträge über die goldene Zeit der Gründerjahre, das Wirtschaftswunder und die »Stunde Null« im Jahre 1945. Die Konflikte der fünfziger Jahre tauchen dagegen nur am Rande auf: die Wiederaufrüstung, das Verbot der KPD. Und nur vorsichtig werden Kontinuitäten der NS-Vergangenheit angesprochen.
Darüberhinaus gibt es auch Themen, die fast vollkommen in Vergessenheit geraten sind. So ist bis heute sehr wenig über die Situation in kirchlichen Erziehungsheimen bekannt, in denen bis in die siebziger Jahre hinein über eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche lebten. Insgesamt gab es an die 3?000 Heime in Deutschland, in denen sich vornehmlich die Kirche um die Fürsorgezöglinge kümmerte, und das nur selten nach christ?lichen Maßstäben der Nächstenliebe. In vielen ?Heimen bestimmten Willkür, Strafen und Demü?tigungen den Alltag der Heimkinder.
»Es war so, als hätte sich ganz Deutschland ab?gesprochen. Die einen feierten ihr Wirtschafts?wunder, die anderen verdrängten die Nazizeit. Wir störten da nur, denn in diese Gesellschaft passten wir nicht«, sagt Gisela Nurthen, die jahrelang in einem Heim der Barmherzigen Schwestern verbrachte. Nachbarn hatten die Tochter einer alleinerziehenden Mutter wegen deren »Lebenswandel« beim Jugendamt denunziert. Über dreißig Jahre lang verdrängte Gisela Nurthen ihre eigene Heimvergangenheit, um sich nicht mehr an die furchtbare Zeit erinnern zu müssen. Ihre Lebensgeschich?te offenbarte sie schließlich dem Dokumentarfilmer und Spiegel-Autor Peter Wensierski, der neben der filmischen Dokumentation auch ein Buch mit dem Titel »Schläge im Angesicht des Herrn« über die verdrängte Geschichte der Heimkinder herausbrachte.
Ein Film mit dem Titel »Die unbarmherzigen Schwestern«, der von den desolaten Zuständen in irischen Heimen in den späten sechziger Jahren handelte, brach das Tabu und machte eine Aufarbeitung möglich. Kurz nach seiner Ausstrahlung in den neunziger Jahren meldeten sich beim Spiegel unzählige ehemalige Heiminsassen aus Deutschland, die nun auf ihr Schicksal aufmerksam machten und das Schweigen brechen wollten. Im Jahr 2003 erschien im Spiegel ein längerer Artikel, der sich mit der Heimerziehung in Deutschland befasste. Wensierski hat weiter recherchiert, mit vielen Ehemaligen gesprochen und versucht, Akten zu sichten.
Wer in den fünfziger und sechziger Jahren in ein Heim eingewiesen wurde, musste nicht zwangläufig »kriminell« oder ein Waisenkind sein. Es waren oft nichtige Gründe, wie im Fall von Gisela Nurthen, die zur Heimeinweisung führen konnte. Ein Kartell aus Jugendämtern, Lehrern, Gerichten, Nachbarn und Eltern war verantwortlich für die Einschätz?ung, ob jemand gut oder böse, ungezogen oder brav war oder ob ein Mädchen als »sexuell verwahrlost« galt. Uneheliche Kinder wurden häufig wegen dieses »Makels« in ein Heim eingewiesen, und zwar mit dem Argument, es drohe die soziale Verwahrlosung. In vielen Fällen wurde es den Jugendlichen zum Verhängnis, dass sie zu später Stunde in Tanzlokalen gesehen wurden oder aber in die nächste Großstadt getrampt waren.
Die Heimunterbringung war bereits seit dem 19.?Jahrhundert fest in kirchlicher Hand. »Rettungsanstalten« und »Erziehungsvereine« gab es im ganzen deutschen Reich. Erklärtes Ziel der christlichen Heimerziehung war seit ihrer Entstehung die moralische und religiöse Charakterbildung durch Disziplin, Zucht, Ordnung, Arbeit und Sauberkeit. Bis Ende der sechziger Jahre hatte sich an diesen Maximen nichts geändert.
Und auch die Ideologie blieb die alte. Wie in vielen anderen Institutionen der bundesdeutschen Gesellschaft auch, überdauerte in den Heimen ein überaus auto?ritäres Menschenbild. So führte der Jesuitenpater Karl Erlinghagen auf einer Konfe?renz über katholische Heimerziehung 1959 aus: »Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass die Menschheit als Ganze irgend?wie an den Gebrechen krankt, die sie, die Erzieher, in den konkreten Situationen in ihren Heimen vor sich finden. Die Menschen, die sie vor sich haben, seien sie nun Psychopathen, seien sie kriminell (…), die?se Menschen leiden unter dem gleichen Fluch der Erbsünde, unter dem die ganze Menschheit leidet.«
Diese Auffassung spiegelte sich im Alltag der Heimkinder aufs Grausamste wider. Die Nonnen, Mönche und Erzieher in den Heimen ahndeten »böses Verhalten« mit drakonischen Strafen, in fast allen Heimen gab es so genannte Besinnungsräume. Gerald Hartford hat viele Tage in einem solchen »Besinnungsraum« im Heim in Hövelhof zugebracht. »Bunker«, nennt er diesen Raum. Der Journalist Wensierski unterstützte Gerald Hartford dabei, seinem ehemaligen Peiniger, dem Pater Vincens, nach Jahrzehnten wieder gegenüberzutreten. Durch Zufall hatte der ehemalige Heiminsasse in einem Fernsehbericht den »Pater der Herzen«, den Bundesverdienstkreuzträger Pater Vincens, wiedererkannt. Gemeinsam mit Wensierski besuchte er ihn und bat ihn um Erklärungen. Ja, räumt dieser schließlich ein, man habe schon mal Störenfriede in einen »Besinnungsraum« gesteckt, aber »nur kurz«.
Hartford hat andere Erinnerungen. Wochenlang habe er in der Zelle mit Holzpritsche ohne Matratze und nur einem Eimer in der Ecke für die Notdurft zugebracht. Pater Vincens beendet das Gespräch daraufhin schnell. »Das hatte ich nicht zu verantworten«, sagte er kurz und knapp. Das Beispiel ist exemplarisch für die Erfahrungen, die Wensierski bei seinen Recher?chen machte. Bis auf wenige Ausnahmen stellte sich niemand der damals Verantwortlichen der Diskussion mit den ehemaligen Heimkindern. Fast nie erhielten die Betroffenen Akteneinsicht. In den Jubiläumsschriften vieler Heime wird nicht nur die Zeit von 1933 bis 1945 ausgelassen, auch die fünfziger und sechziger Jahre blieben unerwähnt.
Was die ehemaligen Insassen neben den erlittenen Demütigungen, Schlägen und dem Eingesperrt?sein heute noch beschäftigt, ist die unbezahlte oder unterbezahlte Zwangsarbeit, die sie in heim?eige?nen Wäschereien oder beim Torfstechen in der Nähe ehemaliger Jugendkonzentrationslager leisten mussten. Bei der Rentenberechnung fehlen ihnen diese Jahre.
Die Zustände änderten sich erst Ende der sech?ziger Jahre mit dem Einsetzen der APO-Heimkampagne. Auf Demonstrationen wurde auf die Situation in den Heimen aufmerksam gemacht, Insassen wurde zur Flucht verholfen. Die APO organisierte Unterkünfte in Frankfurt und befreite Jugendliche aus dem Heim Staffelberg in der Kleinstadt Bieden?kopf. Ulrike Meinhof und Andreas Baader waren maßgeblich an der Heimkampagne beteiligt. In dem Film »Bambule« schilderte Meinhof erstmals öffentlich die Zustände in den christlichen Heimen.
Die Aufarbeitung der Geschichte der Heime hat in den vergangenen Jahren begonnen. Die Lebensberichte der Heimkinder sollten eine Warnung sein, den neuerdings lauter werdenden Rufen nach dem »Wegschließen« von auffälligen Jugendlichen nicht nachzugeben.

Radio Vatikan 12. 06. 2006

Deutschland: Schläge im Namen des Herrn?

„Schläge im Namen des Herrn“ – so lautet der provokante Titel eines Buchs des Spiegelredakteurs Peter Wenierwski. Es geht um kirchliche Kinderheime in den 50ern und 60er Jahren – zahlreiche Kinder sollen dort mißhandelt, gequält und ausgebeutet worden sein. Wir gehen davon aus, dass die allermeisten Heime gut gearbeitet und daher große Verdienste haben dass es aber leider eben auch Mißstände gab, die wir nicht verschwiegen wollen.

Auch in katholischen Heimen für Kinder und Jugendliche hat es das gegeben: Demütigung, Misshandlung, drakonische Strafen. Offenbar haben selbst Menschen, die als Ordensleute ihr Leben unter einen ganz besonderen Anspruch von Christentum gestellt haben, versagt und Dinge getan, die jeder Pädagogik Hohn sprechen. Eher zufällig ist Peter Wesnierswki auf das Thema gestoßen: Beim Kinostarts des irischen Films „Die unbarmherzigen Schwestern“ habe eine Frau sich bei ihm gemeldet. Was in dem Film gezeigt wird, das habe die Frau selber erlebt, als sie in den fünfziger Jahren in einem von Schwestern geführten Kinderheim war. Wesnierwski: „Sie erzählte, wie sie bügeln musste 40 Stunden die Woche für die halbe Stadt Dortmund. Dabei durfte nicht gesprochen werden, sondern es mussten Marienlieder gesungen werden. Sie war als 14jährige einfach in das Heim gesteckt worden und sie wusste nicht warum; sie wusste bis heute noch nicht wirklich warum: Sie war die Tochter einer alleinerziehenden Mutter, hatte einen Vormund, eine Fürsorgerin, die war schon seit Jahren gekommen, hatte nach dem rechten gesehen, ihre Mutter war berufstätig. Ihre Akte ist immer dicker geworden: das war letztlich der Anlass, weswegen sie ins Heim gekommen ist und dort blieb sie für mehrere Jahre und war wirklich hinter verschlossenen Mauern eingesperrt und die besten Jahre ihrer Jugend waren ihr geraubt worden.

Peter Wesnierwski hat weiter recherchiert und ist auf zahlreiche Fälle gestoßen, bei denen Kindern in kirchlichen Heimen ausgebeutet und mißhandelt wurden. Noch heute leiden viele der Opfer seelisch an den Folgen dieser Zeit. Theo Breul ist Diakon, Mitarbeiter der Caritas Paderborn und zuständig für die kirchlichen Kinderheime in seinem Bistum. Zu den Vorwürfen sagt er: Mit dem Buch und den darin enthaltenden Aussagen hat Peter Wesnierwski leider recht und das, was er beschreibt, hat es leider auch in katholischen Häusern und Einrichtungen gegeben. Ich selbst habe etwa mit 30 Menschen gesprochen, die von sich sagen, als ehemaliges Heimkind Misshandlungen und Demütigungen ausgesetzt gewesen zu sein. Da fehlte es am Korrektiv und da haben die Menschen versagt.

P. Alfons Minas ist Provinzial der deutschen Salvatorianer. Er war in den 70er Jahren Leiter eines ordenseigenen Kinderheims. Auch in der Einrichtung, die der Salvatorianerpater leitete, war es zu Übergriffen gekommen. Zu den Ursachen der Misshandlungen sagt Pater Minas:
Es kam aber auch dazu dass die Einrichtungen finanziell ganz schlecht ausgestattet waren, von einig Personal anstellen konnten. Und es war so, dass die Gruppen sehr groß waren. Zum Beispiel dreißig oder vierzig Menschen von einer pädagogischen Fachkraft betreut, die war oft überfordert von der Arbeitszeit überlastet, nervlich überlastet und dann passierte es eben, dass ihnen die Nerven durchgingen und dann Dinge passierten, die nicht in Ordnung waren.“

 
Aber auch andere Gründe hätten eine Rolle gespielt: So war die Prügelpädagogik damals auch in Schulen weit verbreitet. Auch wurden schwierige oder uneheliche Kinder von den Sozialämtern einfach in Heime abgeschoben. Für Pater Minas rechtfertigen diese Gründe allerdings niemals die geschehenen Misshandlungen. Sein Orden hat beschlossen, offensiv die Vergangenheit aufzuarbeiten. Das Gespräch mit den Opfern wird gesucht: „Wir stellen uns auch solchen Gesprächen und versuchen dann auch bei solchen Gesprächen, das was an Leid passiert ist, so weit es irgendwie geht zu mildern, sich zu entschuldigen und auch, wenn es irgendwie geht, die Sache in Ordnung zu bringen, soweit man sie in Ordnung bringen kann.“

Theo Breul von der Caritas hält solche Gespräche für sehr wichtig: „Alle Menschen sagen, es tut gut, dass sich mal ein Vertreter der Kirche das einmal anhört und dass ich auf diese Weise ernst genommen bin. In dem einen oder anderen Fall haben wir auch materielle Unterstützung geleistet, wir haben auch schon mal Therapien vermittelt. Das wesentliche aber ist das Gespräch, also einen Ort zu haben, diesen Menschen zuzuhören und auch ihr leid zu Teilen und das Leid ist teilweise wirklich schlimm“

Mittlerweile wird auch auf Fachtagungen nach den Hintergründen des Phänomens geforscht. Den Opfern sei – seiner Meinung nach – am besten geholfen, wenn der Einzelne den Blick genommen werde. Die Caritas hilft dabei, aber man kann sich auch direkt an Theo Breul bei der Caritas in Paderborn wenden. Er unterstützt dann die Opfer bei ihrer Suche nach den richtigen Ansprechpartnern. „Was wir allerdings nicht machen wollen, und bei dieser Grundlinien wollen wir bleiben, ist den Skandal aufleben lassen, sondern den Skandal bearbeiten und das, was damals durch diese skandalösen Umstände entstanden ist, heute im Sinne von Gespräch von Therapie von Heilung, auch von Wiedergutmachung, aufgreifen!“

Theo Breul befürchtet, dass der Eindruck entstehen könnte, als seien alle Erzieherinnen und Erzieher aus jener Zeit prügelnde Kinderschrecken gewesen und die Quälerei der Kinder hätte System gehabt. Wenn dann sogar behauptet wird, Heimerziehung erlebt zu haben sei prinzipiell gleichbedeutend mit Missbrauchserfahrung, dann spätestens werde es unseriös, so Breul. Dann würde neues Unrecht geschaffen und allen denen ihre eigenen Erfahrungen strittig gemacht, die von ihren Zeiten im Heim nur Gutes berichten. Theo Breul sieht heute aber eine neue Gefahr aufziehen: „Wir haben drauf zu achten, dass sich derartige Dinge nicht wiederholen, nicht nur nicht in der Heimerziehung wiederholen, sondern dass sie sich zum Beispiel bei der Pflege von kranken Menschen oder von behinderten Menschen nicht auch noch wiederholt. Es wird an allen möglichen Ecken und Enden gespart. Es wird versucht, mit einer Minimalausstattung von Personal auszukommen. wir müssen mächtig darauf achten, dass wir durch eine neue Sparwelle die alten Zustände, über die wir sagen die seien in den 50 er 60er Jahren gewesen nicht in das beginnende 21. Jahrhundert hinübertragen.

systemagazin10.06.2006 Rezension
Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik

Tom Levold, Köln:

Eine unvoreingenomme Rezension ist dies nicht. Meine mangelnde Unvoreingenommenheit gilt dabei aber nicht dem Autor, sondern dem Gegenstand des vorliegenden Buches. Es rechnet mit den mehr oder weniger systematischen Quälereien in über 3000 kirchlichen und staatlichen Erziehungsheimen ab, denen in den 50er und 60er Jahren nach Schätzungen des Autors etwa eine halbe Million Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren.
Ich bin froh, dass sich meine Erfahrungen mit diesem System als fast Neunjähriger nur auf sechs Wochen beschränkten, die nicht einmal eine Erziehungsmaßnahme darstellten, sondern als Erholungskur deklariert waren. Sie gehörten dennoch zu den schlimmsten Wochen meines Lebens. Wir wurden von den Nonnen nicht geprügelt, aber mehr oder weniger zwangsernährt (schließlich bestand der Erfolg der Maßnahme in der Gewichtszunahme), systematisch gekniffen, geschubst, gedemütigt, beschimpft und eingeschüchtert, nachts brutal geweckt, wenn wir auf der falschen Seite schliefen (um schlechte Träume zu vermeiden!), strengen Strafen für Kleinigkeiten unterworfen (stundenlanges Stillsitzen, für 50 Kinder Schuhe putzen usw.). Das Schlimmste aber war, dass meine heimwehgetränkten Briefe an die Eltern zerrissen und neu diktiert wurden, und die Eltern meine Erfahrungen lange Zeit nicht glauben wollten: „Du hast doch immer so schön geschrieben!“
Derart voreingenommen glaube ich also ohne Zögern alles, was in diesem Buch steht, und begreife nun, dass ich tatsächlich nur in einer Erholungskur war und die wirklichen Erziehungsmaßnahmen gottlob an mir vorbei gegangen sind. Peter Wensierski, Spiegel-Reporter, Dokumentarfilmer und Fernsehjournalist, der mit dem Film „Mauerläufer“ und seinem Buch über verheimlichte Kinder katholischer Priester „Gottes heimliche Kinder“ bekannt geworden ist, breitet in einem quälenden Panorama Leidensgeschichte nach Leidensgeschichte aus, die sich alle ähnlich sind, deren Erzählung jedoch jeweils etwas neues und einmaliges hervorbringt: die Erinnerungen der ehemaligen Heimzöglinge erhalten – in vielen Fällen wohl zum allerersten Mal – eine individuelle Stimme und können sich öffentlich artikulieren.
Es geht hier nicht um Statistiken, sondern um prototypische Kindheits- und Jugenderfahrungen, um zahllose Einzelfälle, an denen man einiges über den allgemeinen Zustand der „Kinder- und Jugendfürsorge“ der damaligen Zeit ablesen kann. In der öffentlichen Wahrnehmung kam das bislang in dieser Drastik nicht vor, wohl auch, weil die von ihr Betroffenen aus Angst und Scham schwiegen. Vielleicht spielte auch die Befürchtung mit, dass ihnen nicht geglaubt werden könnte. Denn wer sich heute in einem Kinder- oder Jugendheim umschaut, wird nicht für möglich halten, was vor vierzig Jahren noch unhinterfragter Standard in der Heim-„Erziehung“ war.
Das Buch ist keine nüchterne wissenschaftliche Bestandsaufnahme  (es gibt zwar ein Literaturverzeichnis, doch weder Literaturhinweise im Text noch irgendwelche Fußnoten), sondern eine Mischung aus Reportage, Dokumentation und Nacherzählung: eine Anklageschrift, die zunächst einmal empören soll - was ihr mühelos gelingt. Sie legt die Struktur einer bestimmten Praxis im Umgang mit „von Verwahrlosung bedrohten“ Kindern und Jugendlichen offen, die - wie zu erkennen ist - fest in das System der Fürsorgeerziehung eingebaut war. Dass bedeutet nicht, dass jeder beteiligte Erwachsene sich im Rahmen dieses Systems schuldig gemacht hat - es bedeutet aber eben auch nicht, dass sich die Misshandlungen von Schutzbefohlenen auf das Konto einzelner individueller Täter buchen ließe, die es einfach nur zu weit getrieben hätten. Zweifellos bot das Heimsystem nicht bloß aus Versehen vielen sadistischen Nonnen und Erziehern Platz, ihre Bestrafungsgelüste auszuleben, es gab praktisch keinerlei Vorschriften oder Kontrollen, die der systematischen Zurichtung der Kinder und Jugendlichen je Einhalt geboten hätten.
Zu groß ist deshalb auch heute noch das Kartell des Schweigens, auf das der Autor bei seinen Recherchen gestoßen ist. Er hat einige Heime besucht und nach den Verantwortlichen gefragt, diese teilweise auch aufgrund von Hinweisen zuhause aufgespürt. Das Ergebnis: vorgetäuschte Ahnungslosigkeit, Verkleinerung, „so schlimm kann es doch nicht gewesen sein“ usw. Statt der Bereitschaft zu einer offenen Auseinandersetzung begegnet er gezielten Vertuschungsversuchen, der Zugang zu Akten und Archiven wird erschwert oder gar verweigert - auch in den Broschüren vieler Einrichtungen, die beispielsweise zu Jubiläumsveranstaltungen erstellt werden, ist deren Geschichte kein Thema, ggf. werden diese Zeiten einfach in der Selbstdarstellung ausgespart.
Das ändert sich allmählich - auch durch die Resonanz, die dieses Buch in der Öffentlichkeit erfahren hat. Mittlerweile sind im Internet Seiten zu finden, auf denen Heimträger nach ihren ehemaligen „Zöglingen“ suchen - und Verantwortungsübernahme anzubieten. Aber eben nicht aufgrund eigener Initiative - man bekommt schnell den Eindruck, dass in vielen Fällen nur auf Druck der Öffentlichkeit gehandelt wird.
Was wird denn nun „verdrängt“? Der Kampfbegriff der von Verwahrlosung bedrohten  Jugend, der zu vielen Heimeinweisungen führte, bezog sich ja nicht auf die Schaffung eines entwicklungsfördernden Kontextes, wie wir das heute kennen, sondern ortete die Gefahr zu allererst in den Jugendlichen selbst, in ihren Ansprüchen auf eine eigene Entwicklung und individuellen Ausdruck (der sich einer eigenen Ästhetik von Mode, Musik und Verhalten bediente). Wer Elvis Presley zu laut hörte, zu enge Hosen anhatte und beim Rauchen erwischt wurde - und zudem aus einer „unvollständigen“ Familie stammte, hatte gute Aussichten, bei entsprechender Denunziation als „verwahrlost“ abgestempelt zu werden oder sich dem entsprechenden Verdacht auszusetzen.
War die Zuschreibung einmal vollzogen (und es ist schon gruselig nachzuvollziehen, wie aktiv und bereitwillig die zuständigen Behörden an diesem Zuschreibungsprozess mitgewirkt haben), gab es kaum noch ein Entkommen.
Die Gesellschaft der 50er Jahre fühlte sich in ihrer „Sittlichkeit“ durch die Jugendkultur bedroht: die Autonomieansprüche, der Widerspruchsgeist, die Vitalität und Triebhaftigkeit mussten enstsprechend rabiat unterdrückt werden - ganz in Übereinstimmung mit einem Menschenbild, dass in vielen Aspekten eine mehr oder weniger bruchlose Kontinuität mit der Nazi-Zeit aufwies.
Die Methoden waren dementsprechend. Stellvertretend für viele Beispiele aus dem Buch seien hier die Strafen aus dem schwäbischen Konradi-Haus zitiert:
• „zur Strafe mit nackten Beinen auf scharfkantigen Holzscheiten knien und beten;
• in einen Kartoffelsack stecken, zubinden und in den dunklen Keller stellen;
• in einer Reihe anstellen, um über eine hoch gehaltene Rute mit eingeflochtenen Dornen zu springen;
• in eine Badewanne mit kaltem Wasser setzen und gewaltsam untertauchen;
• eiskalt duschen und nass, frierend und nackt still stehen müssen – bisweilen über eine Stunde lang;
• Kniebeugen mit ausgestreckten Händen, auf denen Bibeln liegen. Schläge mit dem Riemen auf die Hände, sobald eine Heilige Schrift dabei herunterfällt;
• vor dem Teller mit erbrochenem Essen sitzen bleiben müssen und durch wiederholte Schläge auf den Kopf gezwungen werden, das Erbrochene vollständig aufzuessen;
• beim Erbrechen in die Kloschüssel den Kopf des Jugendlichen herunterdrücken und abziehen;
• die Hände auf den Rücken fesseln und die Jugendlichen im Keller mit einer Halsschlaufe an einen Wandhaken hängen, so dass die Schlaufe beim Zusammensacken nach stundenlangem Stehen würgt;
• Mädchen mit Kindern das Stillen verbieten.“ (S. 69)
Das weckt heute Assoziationen mit Guantanamo oder Abu Graibh: wie dort ging es hier um Folter, Demütigung und systematische Brechung der Persönlichkeit. Weitere Zitate erspare ich mir an dieser Stelle. Besonders skandalös erscheint mir darüber hinaus, dass viele Heime es verstanden, die gewaltsame Zurichtung ihrer Zögliche nicht nur moralisch zu rechtfertigen, sondern durch Zwangsarbeit (Waschen, Bügeln, Torfstechen usw.) auch noch in klingende Münze zu verwandeln, indem sie als Wirtschaftsbetrieb den Profit aus diesen Tätigkeiten einstrichen und für sich behielten.
Der Absicht des Buches, mit dieser Veröffentlichung einen längst überfälligen Diskurs in Gang zu bringen, dürfte, wenn man sich wenige Monate nach seinem Erscheinen in der Medienöffentlichkeit umschaut, bereits jetzt ein großer Erfolg beschieden sein. Und in der Tat ist es mehr als erstaunlich, wie diese Geschichte über so lange Zeit, wie der Untertitel besagt, „verdrängt“ werden konnte, zumal es bereits in der Zeit der Studentenbewegung eine handfeste Skandalisierung der Zustände in den Erziehungsheimen gegeben hatte.
Die sogenannte „Staffelbergkampagne“ wurde von Frankfurter Mitgliedern der außerparlamentarischen Opposition im Juni 1969 initiiert. Mit dabei waren auch die „Kaufhausbrandstifter“ und späteren RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Astrid Proll sowie Andreas Baader. Publizistisch wurde die Kampagne durch Ulrike Meinhof begleitet, die einen ebenfalls skandalträchtigen TV-Film („Bambule“) über die Heime drehte, der für volle 24 Jahre im Giftschränkchen der ARD verschwand und erst in den 90er Jahren gezeigt wurde, und dann das gleichnamige Buch für die legendäre rororo-aktuell-Reihe verfasste. Das vorletzte Kapitel des Buches ist der genauen Rekonstruktion dieser Ereignisse gewidmet, bis zum Zusammenbruch der Kampagne Ende 1969, als sich die selbsternannte revolutionäre Avantgarde von den enttäuschten Jugendlichen wieder absetzte, um sich größeren revolutionären Herausforderungen zu widmen.
Sicherlich trug die Heimkampagne als eine Art Initialzündung mit dazu bei, dass sich - verbunden mit einer grundlegenden Reformierung der pädagogischen Ausbildung und einer allgemeinen Veränderung der Sicht auf das Verhältnis von Erwachsenen und Kindern - die Lebensbedingungen in den Heimen in den 70er Jahren nachhaltig zu ändern begannen. Dennoch führte dies nicht zu einer wirklichen Aufarbeitung der Vergangenheit. Es fehlten dafür die Protagonisten.
Die Motive der Kampagnenbetreiber bestanden eher darin, auf der Suche nach dem „revolutionären Subjekt“ für die anstehende gesellschaftliche Umwälzung die „subproletarischen“ Heimzöglinge politisch zu instrumentalisieren, eine Strategie, die letztlich nicht aufging, auch wenn einige der Jugendlichen aus den attackierten Heimen sich später der RAF anschlossen und in den Untergrund gingen (z.B. Peter-Jürgen Boock).
Die Kirchen und anderen Träger der öffentlichen Heimerziehung hatten ebenfalls kein besonderes Interesse an einer Aufarbeitung. Eine neue Generation von Pädagogen übernahm das Steuer, eine sozialisationswissenschaftliche Orientierung löste die Ausrichtung an Recht und Ordnung, Gottesfurcht und Menschenverachtung ab.
Und die Betroffenen selbst: schwiegen - bis heute. Peter Wensierski kommt das Verdienst zu, ihnen eine Stimme gegeben zu haben und ein bislang im Dunkeln gebliebenes Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit zu erleuchten. Dies erscheint mir angesichts  der gegenwärtigen Tendenzen, die überaus dumpfe Zeit der 50er und 60er Jahre im „Retro-Look“ zeitgeschichtlich und ästhetisch zu verschönern, dringend geboten.
 Eine wissenschaftliche Ausarbeitung steht allerdings noch aus. Es bleibt zu hoffen, dass sich die betroffenen Einrichtungen ihrer Verantwortung zur Aufklärung der eigenen Vergangenheit nicht mehr verschließen, sondern aktiv daran mitwirken.

Wiesbadener Tagblatt 10.06.2006
Die ehemaligen Heimkinder leiden noch heute
Tagung zur Geschichte des Heims im Idsteiner Kalmenhof / LWV sichert Betroffenen Unterstützung zu

IDSTEIN Erschütternde Berichte über die "Erziehungspraxis" im Idsteiner Kalmenhof standen im Mittelpunkt einer Fachtagung mit dem Thema "Aus der Geschichte lernen - die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkampagne und die Heimreform" .
Von Katharina Munsch
Der Landeswohlfahrtsverbandes (LWV), die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfe (IGfH) und der Spiegelbuchverlag hatten zu der Tagung in die Idsteiner Stadthalle eingeladen. Darin ging es neben der "historischen Dimension" auch um wirksame Hilfen zur Erziehung in heutiger Zeit.
Vertreter des LWV, Sozialpädagogen sowie Peter Wensierski vom Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichteten über die Zustände in dem Heim. "Kinder im Kalmenhof waren ihren Aufsichtspersonen praktisch wehrlos ausgeliefert", erklärte Wensierski. An Fallbeispielen erläutert der Autor des Buches "Schläge im Namen des Herrn" den Umgang des Personals mit den ihnen anvertrauten Kindern- und Jugendlichen in den Nachkriegsjahren.
Essensentzug, Schläge mit allerlei "Werkzeug", Missbrauch als billige Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder aber Stunden im so genannten Besinnungszimmer seien an der Tagesordnung gewesen. Daneben seien ältere Kinder als "Ersatzaufsichtspersonen" missbraucht worden, die dann ebenso unnachgiebig geschlagen hätten, wie es ihnen vorgelebt worden sei.
Auf die Anfänge der "Idioten-Anstalt" Kalmenhof blickte Professor Christian Schrapper, vom Institut für Pädagogik der Universität Koblenz-Landau zurück. Die sei zu Beginn eine großbürgerlich getragene und pädagogisch qualifiziert entwickelte Einrichtung gewesen. "Wohlmeinende Industrielle und Beamte der Frankfurter Oberschicht hatten sie im grünen Taunus gegründet", so der Referent. Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten sei dem im Jahre 1933 ein Ende bereitet worden. Mit bekanntem Ergebnis: "750 Kalmenhofbewohner fanden in den unseligen Jahren der Naziherrschaft hier den Tod."
Dass die Zentrale des LWV in Kassel in den 50er und 60er Jahren von den Vorgängen im Kalmenhof, wie auch in zahlreichen benachbarten Einrichtungen nichts gewusst habe, weist der Experte weit von sich. "Vorliegende Berichte, beispielsweise über die Beschäftigung zahlreicher pädagogisch völlig unausgebildeter Mitarbeiter sprächen eine ganz andere Sprache", so der Professor. Auch in der Stadt seien die Zustände hinreichend bekannt gewesen.
Einstimmig hatte die Verbandsversammlung des LWV im vergangenen April eine Resolution verabschiedet, die anerkennt, dass bis in die siebziger Jahre hinein auch in seinen Kinder- und Jugendheimen Misshandlungen und drakonische Strafen an der Tagesordnung waren.
Der LWV hatte sich bei den einstigen Bewohnern ihrer Einrichtungen für die erlittenen körperlichen wie auch psychischen Demütigungen und Schmerzen entschuldigt. "Wir stellen uns unserer Verantwortung", sagte auch Evelin Schönhut-Keil, die Erste Beigeordnete des LWV. Die aktuelle Tagung bedeute an dieser Stelle keinen Endpunkt, sondern markiere im Gegenteil einen Beginn. Der LWV werde den ehemaligen Heimkindern bei der Aufarbeitung des Erlebten zur Seite stehen.
"Bisher gibt es aber keine spezielle Anlaufstelle für ehemalige Heimbewohner", kritisierte mit Blick auf dieses Angebot Michael-Peter Schiltsky vom Verein der ehemaligen Heimkinder. Eine solche Einrichtung müsse aber dringend her, da zahlreiche der "Ehemaligen" bis heute mit Obdachlosigkeit oder Suchtkrankheiten zu kämpfen hätten, die oftmals direkt aus den jeweiligen, traumatischen Erfahrungen herrührten. "Was damals geschehen ist, war keine schlichte Körper- sondern eine schwer wiegende Menschenrechtsverletzung", bekräftigte er.

Pressemitteilungen LWV-Hessen 09. Juni 2006
„Gemeinsam aus der Geschichte lernen“
– 260 Teilnehmer bei Tagung zur Heimerziehung in den Nachkriegsjahrzehnten


Kassel/Idstein (lwv): Um gemeinsam aus der Geschichte zu lernen, haben sich heute rund 260 Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einer Tagung in Idstein getroffen, die sich ganz der Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren widmete. Unter den Teilnehmern der Tagung – Veranstalter waren der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV), die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen e. V. (IGfH) und das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL – waren zahlreiche ehemalige Heimkinder, die LWV-Landesdirektor Uwe Brückmann besonders herzlich willkommen hieß. Beflügelt durch die Publikation des SPIEGEL-Redakteurs Peter Wensierski, der während der Tagung Auszüge aus seinem Buch vortrug, findet seit Monaten eine breite gesellschaftliche Debatte über die Heimerziehung in den Nachkriegsjahrzehnten statt, die durch autoritäre und repressive Formen geprägt war. Heute gelte es, Kinder und Eltern in Einrichtungen und bei der außerfamiliären Erziehung stark zu machen. Auch müssten die Kinderrechte in der institutionalisierten Erziehung weiter ausgebaut werden, stellte Dr. Hans-Ulrich Krause, Vorsitzender der IGfH, fest.

LWV-Chef Brückmann hob hervor, dass ein Bekenntnis des Heimträgers für die ehemaligen Heimkinder von besonderem Gewicht sei und oftmals als Befreiung empfunden würde. Am 5. April 2006 habe sich die Verbandsversammlung des LWV als höchstes beschlussfassendes Gremium durch eine einstimmig angenommene Resolution bei den Heimkindern entschuldigt, sagte der LWV-Chef. In der Resolution heißt es: „Der Landeswohlfahrtsverband Hessen spricht sein tiefes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben.“

Dies sei jedoch nicht der erste Schritt des LWV zur Aufarbeitung gewesen: Als ein in der damaligen Zeit wichtiger nichtkonfessioneller Heimträger in Hessen habe er nach den von ihm mitgestalteten, einschneidenden Heimreformen Ende der 60er Jahre bereits rund 20 Jahre später die Heimerziehung kritisch untersuchen lassen und 1988 durch eine umfangreiche Veröffentlichung dokumentiert, sagte der LWV-Chef und verwies auf den Beitrag Prof. Schrappers, einer der Autoren der Studie. In den vergangenen zwei Jahren habe es mehrere Treffen und regelmäßige Kontakte mit früheren Heimkindern sowie eine intensive Zusammenarbeit mit dem „Verein ehemaliger Heimkinder“ (VEH) gegeben. Der LWV unterstütze Menschen, die Informationen über ihren Heimaufenthalt benötigen, auch bei der Suche nach weiterführender Hilfe.

Die Tagung habe Chancen einer weiteren Aufarbeitung dieser Phase öffentlicher Erziehung eröffnet, resümierte Brückmann, die Verantwortlichen hätten zahlreiche Hinweise mitnehmen können, wie das nun „historische“ Thema der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre weiter im öffentlichen Bewusstsein gehalten werden könne.

Einen Überblick über „Kontinuität und Wandel“ in der öffentlichen Heimerziehung hatte LWV-Archivarin Dr. Christina Vanja in ihrem Beitrag gegeben. Im 19. und 20. Jahrhundert habe die Versorgung kranker und sozial auffälliger Menschen in Institutionen dominiert, in der Nachkriegszeit hätten sich in den Fürsorgeeinrichtungen starre und hierarchische Strukturen halten können. Letztlich habe das Zusammentreffen von unzufriedenen Heiminsassen und aufbegehrender akademischer Jugend die öffentliche Aufmerksamkeit geschaffen, um in den 70er Jahren die grundlegenden Reformen im Heimbereich in Gang zu setzen. So seien auch diese Einrichtungen Teil einer sozialen und demokratischen Gesellschaft geworden.

Mittelbayerische Zeitung 9. 06. 2006
Schlagende Nonnen ließen auf Holzscheiten beten

Buch von Spiegel-Redakteur schildert Grausamkeiten in Kinderheimen früherer Tage / Auch Kallmünz betroffen

Von Michael Jaumann, MZ
KALLMÜNZ. „Als ich das gelesen habe, dachte ich, das darf doch nicht wahr sein“: Pfarrer Hans-Peter Heindl ist entsetzt über das, was er im Buch von Spiegel-Redakteur Peter Wensierski über Grausamkeiten in Kinderheimen lesen musste. Eines davon steht unter seiner Mitverantwortung, das Heilpädagogische Kinderheim Kallmünz.
In der Zeit des Wirtschaftswunders verbrachten einige hunderttausend Heimzöglinge unter unvorstellbaren Bedingungen ihre Kindheit in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen, hat Peter Wensierski für sein Buch „Schläge im Namen des Herrn“ recherchiert. Ohne großes Federlesens von Behörden in Heime eingewiesen, wurden Kinder und Jugendliche in den 50er und 60er Jahren dort weggesperrt und ausgebeutet, von schlecht ausgebildeten und überforderten Erziehern gedemütigt und misshandelt, schreibt Wensierski und belegt dies auch mit Fällen aus Kallmünz.
Mit der bloßen Faust habe eine Nonne den 13-jährigen Josef Doll Mitte der 60er Jahre mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen, bis er fast ohnmächtig wurde, gab es für Pfarrer Heindl dort zu lesen. Die Kinder mussten auf Holzscheiten kniend beten, wurden auf die kochend heiße Herdplatte gesetzt, mussten Erbrochenes wieder aufessen — ein Panoptikum des Grauens schilderte der ehemalige Kallmünzer Heimzögling Josef Doll.
Pfarrer Heindl war 1970 bereits als Kaplan in Kallmünz. Ins Heim eingebunden war er aber nicht. Von solchen Misshandlungen habe er auch im Religionsunterricht von den Kindern nie etwas gehört, sagt er. Erst Autor Wensierski, der für sein Buch auch in Kallmünz recherchierte, habe konkrete Beispiele genannt, die nicht nur für ihn zunächst kaum zu glauben waren.
Stiftungsleiter Alois Frank hat sofort recherchiert und bestätigt, dass Josef Doll und die anderen genannten Zeitzeugen Heinz Aubeck sowie Anton und Ludwig Tengler tatsächlich im Kallmünzer Heim untergebracht waren. Ihre Namen sind im alten Aufnahmebuch verzeichnet, das bis ins Jahr 1941 zurückreicht. Ins Leben gerufen wurde die Kinder- und Altenheimstiftung bereits im Jahr 1862 von Pfarrer Sigmund Dietz. Das Heim stand lange Jahre unter der Leitung von Mallersdorfer Schwestern. Der Stiftungsrat als oberstes Gremium setzt sich jeweils zusammen aus dem örtlichen Pfarrer, dem Bürgermeister, dem Stiftungsleiter, dem Hausgeistlichen und einem Bürger des Ortes. Die Einrichtung ist dem Deutschen Caritasverband angeschlossen
Stiftungsleiter Frank zweifelt den Wahrheitsgehalt der Schilderungen nicht an. Er empfindet aber Unbehagen, weil ihm das Buch zu sehr „auf Missstände ausgelegt“ ist. Es hätte damals im Heim zum Beispiel auch Selbstzahler gegeben, also Kinder aus der Gegend, bei denen die Eltern keine Zeit hatten, sich um ihre Kinder ausreichend zu kümmern. Und Frank führt eine Email aus Amerika an, in der ein ehemaliges Heimkind die Zeit als die schönste des Lebens bezeichnet habe. „Die Frau müsste zur fraglichen Zeit hier aufgewachsen sein.“
„Natürlich war das nicht in Ordnung, was damals passiert ist“, macht Willibald Maier, pädagogischer Leiter des Kinderheims deutlich. Maier, „seit 25 Jahren mit Heimerziehung befasst“ ist“ kennt Schläge als Erziehungsmittel nicht, sagt er. Früher freilich seien Zwangseinweisungen häufig gewesen und Schläge oder die im Buch genannten Misshandlungen dürften wohl so vorgekommen sein. Schließlich war damals eine Klosterschwester mit der Betreuung von 30 bis 40 Kindern alleine auf sich gestellt und oft genug auch überfordert.
Mit der heutigen Situation sei dies aber in keiner Weise zu vergleichen. „so intensiv wie heute wird sich um Kinder noch nie gekümmert.“ Heute umfasse eine Gruppe acht Kinder und dafür stünden rechnerisch 4,6 Planstellen zur Verfügung. Die Kinder würden auch nicht abgeschottet: „Bei uns ist es offen wenn es hell wird, bis es finster wird.“ Die Kinder sollen im Ort integriert werden, in Vereinen oder durch Teilnahme an Veranstaltungen wie etwa dem Bürgerfest. Und vor allem: „Die Kinder sollen nur so lange im Heim bleiben wie nötig.“
„Nur wenige Kinder verbringen ihre Jugend heutzutage in einem Heim“, bestätigt Karl Mooser. Leiter des Kreisjugendamts. „Im Schnitt zwei bis fünf Jahre“ währe eine Unterbringung. „Wir wollen, dass ein Kind nur mehr so lange im Heim bleibt, bis sich die Verhältnisse geändert haben“, betont Mooser die veränderten Strukturen. Zustände wie sie das Buch von Wensierki schildert, seien so heute nicht mehr denkbar. Einrichtungen bekämen keine Kinder einfach so zugewiesen. Das Personal in Heimen und in den Jugendämtern sei vom Fach, und Jugendämter wie Heimaufsicht übten ihre Kontrollfunktion pflichtbewusst und unangemeldet aus. Vor allem aber habe die Diskussion über gewaltfreie Erziehung das Erziehungsverhalten komplett geändert.
Bleibt die Frage, wie man mit den Menschen umgeht, die vor Jahrzehnten im Heim gedemütigt wurden. Bisher hat sich bei der Kinder- und Altenheimstiftung keiner der im Buch genannten Betroffenen gemeldet. Umgekehrt hat auch das Heim keinen Kontakt gesucht. Wenn jemand von diesen früheren Zöglingen kommt, „dann bieten wir Gespräche an“, betont Willibald Maier.
Spiegel-Autor Peter Wensierski fordert von der Kirche, „dass sie ihre Opfer um Verzeihung bittet für all das, was sie diesen Menschen angetan hat.“ Wie steht Pfarrer Heindl zu solch einer Forderung? Der Pfarrer betont, dass der frühere Papst Johannes Paul II. eben genau dieses getan habe. Und er persönlich? So einfach über die Medien, das wäre dem Pfarrer zu plakativ. „Wenn ich mich im Namen der Kirche entschuldigen müsste, dann würde ich das im persönlichen Gespräch tun.“

DER RING – Monatszeitschrift der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, Juni 2006:
[ Re: Veranstaltung in der Moorkirche in Diakonie Freistatt, Donnerstag 4. Mai 2006 ]

Heimkinder-Debatte in der Diakonie Freistatt
„Die Wahrheit darf niemand in Frage stellen“

Die Moorkirche und der angrenzende Saal sind gut besetzt. In kleinen Tischgruppen sitzen die Besucher an diesem Abend Anfang Mai zusammen. Rund 120 Interessierte sind gekommen, um den Autor Peter Wensierski zu hören, der aus seinem Anfang des Jahres erschienenen Buch "Schläge im Namen des Herrn" lesen will.

Die Stimmung ist gedämpft, eine gewisse Spannung ist zu spüren, immerhin steht eine problematische Vergangenheit zur Diskussion: die Situation vieler Heimkinder im Deutschland der Nachkriegszeit bis Ende der sechziger Jahre. Die Diakonie Freistatt, bis heute ein großer Anbieter in der Jugendhilfe, nimmt nur wenig Raum ein im Wensierski-Buch, macht aber bei den problematischen Zuständen der Jugendhilfe [sic = "Fürsorgeerziehung" (FE) und "Freiwilligen Erziehungshilfe" (FEH) gemäss dem damaligen "Jugendwohlfahrtsgesetz" (JWG 1924-1991)] in den 50er und 60er Jahren keine Ausnahme. Es geht um zwangsweise Fürsorgeerziehung aus häufig kaum nachvollziehbaren Gründen, um Zustände von Unterdrückung und Brutalität, um Schikanen, Missachtung und menschenverachtenden Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

Freistatt-Geschäftsführer Pastor Wolfgang Tereick bezieht denn auch gleich in seiner Begrüßung deutlich Stellung: "Die Jugendhilfe Freistatt war damals wahrlich kein Ruhmesblatt, und die Kritik von Peter Wensierski ist im Wesentlichen berechtigt."
[ ? ]
Menschenverachtung sei besonders auch darin deutlich geworden, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen niemanden hatten, zu dem sie mit ihren Nöten gehen konnten, dem sie vertrauen konnten und wo sie sich beklagen konnten, so Tereick. Mit Bildern aus der Zeit werden bei einigen Besuchern schnell Erinnerungen wach: Aufstellung in Reih und Glied, ob bei Sport, vor der Arbeit oder vor dem Kirchgang, Bilder von der Arbeit im Moor bei Sommerhitze oder im eiskalten Winter, kärgliche Essenausgabe im Freien, Schlafsäle mit 40 Betten ...

Unter den Besuchern in der Moorkirche sind auch einige ältere Erzieher, die damals in Freistatt Dienst taten und 15 ehemalige Heimkinder, teilweise in Begleitung von Angehörigen. Knapp eine halbe Stunde liest Peter Wensierski aus seinem Buch – bewusst, wie er sagt, ein Kapitel über junge Frauen, die in einem Heim in der Nähe von Kassel untergebracht waren [dem in der Bundesrepublik Deutschland vom Landeswohlfahrtsverband Hessen von 1952 bis 1973 betriebenen gefängnisähnlichen geschlossenen (einem in Breitenau, zu Nazi-Zeiten betriebenen "Jugendkonzentrationslager für Mädchen und junge Frauen" ähnelnden) "Mädchenerziehungsheim" mit der Bezeichnung "Landesjugendheim Fuldatal". Im Dezember 1973 wurde das "Landesjugendheim Fuldatal" als letztes geschlossenes Erziehungsheim in Hessen aufgelöst. "Fuldatal" / Guxhagen bei Kassel, BRD.], um neue Einblicke zu geben. Kaum vorstellbare Situationen werden beschrieben, Angstgefühle, Ohnmacht, Wut, absolute Überwachung bis hin zu körperlichen Qualen. [ Siehe auch http://www.gedenkstaette-breitenau.de/1952.htm und http://www.gedenkstaette-breitenau.de/rundbrief/RB-25-05.pdf.]

In Freistatt waren vor allem ältere Jugendliche zwischen 18 und 21 Jahren untergebracht [sic], teilweise war die Fürsorgeerziehung [FE] gerichtlich angeordnet statt eines Strafvollzuges; aber auch im Ramen der Freiwilligen Erziehungshilfe [FEH] kamen Jugendliche auf Wunsch der Familie oder von Vormündern nach Freistatt. Für die meisten Betroffenen ist dies bis heute völlig unverständlich.

Im Gespräch beklagt Peter Wensierski, dass Betroffene nicht über ihre Erlebnisse reden konnten, sie seien oft traumatisiert gewesen, andere hätten ihnen den erlebten Heimalltag nicht geglaubt, häufig hätten die Heimkinder auch noch Jahre später ihre Erlebnisse verdrängt, so dass auch Familien nicht Bescheid wussten. Sprachlosigkeit einerseits und aggressive Wut andererseits seien so entstanden in einer Lebenssituation der absoluten Wehrlosigkeit, beklagt ein Betroffener.

Horst Sikora aus Hamm sitzt an einem der hinteren Tische, hört geduldig zu, was Mitbetroffene erzählen. Als aber ein älterer Diakon, ehemals Erzieher in Freistatt, Gewalttätigkeit gegen die Heimkinder leugnet und versucht, andere Maßnahmen zu rechtfertigen, platzt ihm der Kragen. Schläge und Lasten tragen im Laufschritt seien ja wohl keine Erziehungsmethoden und durch nichts zu rechtfertigen. Die Frage eines Betroffenen, ob denn der gewaltgeprägte und menschenverachtende Umgang mit Heimzöglingen in der Nachkriegszeit nicht System gehabt hätte, wird allseits bejaht. Auch Erzieher berichten, dass Prügelstrafen und die Verhängung von Arrest von ihnen erwartet wurden. Freistatt, so ein Betroffener, sei eines der berüchtigsten Heime gewesen. In anderen Heimen sei mit der Verlegung nach Freistatt als Strafe gedroht worden.

Nach zeitweise heftiger und stimmungsgeladener Diskussion sind auch versöhnliche Töne zu hören. Auch wenn seine Nachfrage, warum Erzieher denn dem System gefolgt seien und sich angesichts der Ungerechtigkeit nicht aufgelehnt hätten, keine konkrete Antwort erfährt, sagt ein Betroffener: "Als Christ vergebe ich Ihnen, damit Sie in Ruhe leben können und wir auch!"

Bethel-Vorstandsmitglied Dr. Rolf Engels ergreift schließlich eindeutig Partei für die ehemaligen Heimkider: "Alles, was Sie erzählen, muss uns angehen, die Wahrheit rührt uns an und Ihre Wahrheit darf niemand in Frage stellen. Wir hören mit tiefer Betroffenheit zu und verschließen uns Ihnen nicht." Und er berichtet der Versammlung von der Entscheidung, die Heimkinder-Problematik für Bethel wissenschaftlich aufzuarbeiten und voraussichtlich im Herbst 2007 zu veröffentlichen.

Betroffene bedanken sich zum Schluss der Veranstaltung öffentlich dafür, ernst genommen worden zu sein. Wolfgang Rosenkötter, von 1962 bis 1963 in Freistatt und anschließend noch in Eckardtsheim, meint nachdenklich: "Ich gehe jezt etwas ruhiger nach Hause, ich wusste nicht, was hier auf mich zukommt, und ich habe mich nach langer Zeit der Verdrängung erst wieder durch Wensierskis Buch mit meiner Lebensgeschichte auseinandergesetzt. Bis heute hadere ich mit den Geschehnissen." Seine Akte ist in Freistatt nicht mehr vorhanden [anzunehmen, weil er von Freistatt nach Eckardtsheim in der Nähe von Bethel, bei Bielefeld, verlegt worden war], vielen anderen aber hat Wolfgang Tereick bereits seit mehreren Jahren ihre Akte zugänglich gemacht und dabei geholfen, Zeiten bei der Rentenversicherung anerkannt zu bekommen.
[ Hat jemand "diese Zeiten" schon bei der Rentenversicherung anerkannt bekommen ? ].

Bereits am Nachmittag vor der Lesung hatte die Diakonie Freistatt die Betroffenen zu einem Rundgang in der Einrichtung und zum Besuch der noch vorhandenen früheren Heime eingeladen. "Dabei gab es wohl bedrückende als auch sehr anrührende Momente, die Betroffenen zeigten sich aber auch sehr zufrieden mit der heute ganz anderen Jugendhilfe", resumiert Wolfgang Tereick den guten Verlauf einer für ihn schwierigen Veranstaltung.

Wiesbadener Tagblatt 31.05.2006
Heimerziehung im Blick
Fachtagung in Idstein: LWV arbeitet ein schwieriges Thema auf
IDSTEIN "Aus der Geschichte lernen - Die Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren, die Heimkampagne und die Heimreform" ist Thema einer Tagung des Landeswohlfahrtsverbandes am 9. Juni in der Idsteiner Stadthalle.
Von Volker Stavenow
In den vergangenen Wochen war viel über das Schicksal ehemaliger Heimkinder in Kinder- und Jugendheimen während der 50er und 60er Jahre als ein oft vergessenes Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte zu hören und zu lesen. Ermutigt durch die öffentliche Debatte haben sich vermehrt frühere Heimkinder zu Wort gemeldet und über ihre Erfahrungen in den Heimen und über die in diesen Jahren übliche autoritäre Erziehungspraxis berichtet.
Die Heimträger haben ganz unterschiedlich auf diese Debatte regiert. Der Landeswohlfahrtsverband (kurz: LWV) als ein in der damaligen Zeit wichtiger nichtkonfessioneller Heimträger in Hessen, hat nach den von ihm mit gestalteten, einschneidenden Heimreformen Ende der 60er Jahre bereits rund 20 Jahre später die Heimerziehung kritisch untersuchen lassen und 1988 durch eine umfangreiche Veröffentlichung dokumentiert.
In den vergangenen Monaten gab es mehrere Treffen und regelmäßige Kontakte mit früheren Heimkindern, sowie eine intensive Zusammenarbeit mit dem "Verein ehemaliger Heimkinder". Der LWV unterstützt Menschen, die Informationen über ihren Heimaufenthalt benötigen, auch bei der Suche nach weiterführender Hilfe. Im vergangenen April hat sich die LWV-Verbandsversammlung bei den Menschen für das in Heimen erlittene Unrecht entschuldigt und so erneut ein wichtiges Signal gesetzt.
Einen weiteren Beitrag zur Aufarbeitung der damaligen Erziehungspraxis in den Heimen soll die Tagung in Idstein am 9. Juni leisten - und dies mit einem Blick nach vorne verbinden. Über 230 Teilnehmer haben sich bereits angemeldet. Die Tagung beginnt an diesem Tag um 10.30 Uhr. Bis 15.30 Uhr stehen Vorträge und eine Abschlussdiskussion auf dem umfangreichen Programm.

Pressemitteilungen Diakonie Paderborn-Höxter 29. Mai 2006
Eine gemeinsame Sprache finden

Fachtagung zur Heimerziehung mit Spiegel-Redakteur Peter Wensierski
VON CHRISTINE HARTLIEB
PADERBORN - "In den endlosen Stunden in der kalten und dämmrigen Dachkammer hatte ich zum ersten Mal Selbstmordgedanken", berichtet Marion Zagermann. Marion war von 1965 bis 1970 im Kinderheim der Diakonissen vom Zionsberg, der heutigen "Kindervilla Scherfede". Dem Spiegel-Redakteur Peter Wensierski erzählte sie ihre Leidensgeschichte, berichtete von körperlicher Gewalt, Ruhigstellung mit Valium, Baden zwischen Blutegeln in der Diemel und tagelangem Zellenarrest im Dunkeln. Nachzulesen sind ihre Erinnerungen im kürzlich erschienenen Buch "Schläge im Namen des Herrn".
 
Aufgerüttelt durch das Buch, lud das Evangelische St. Johannisstift - seit 1981 Träger der Kindervilla Scherfede - jetzt zu einer Fachtagung "Historie der Heimerziehung". Fachleute, Zeitzeugen, Betroffene, Mitarbeiter des St. Johannisstiftes und Vertreter der Jugendhilfeeinrichtungen aus Stadt und Kreis Paderborn diskutierten gemeinsam mit Buchautor Peter Wensierski über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Heimerziehung.
 
"Hier geht es um unsere Identität", kommentierte Vorstand Sven Freytag. Der Vergangenheit der Kindervilla Scherfede wolle das St. Johannisstift mit Transparenz und Offenheit begegnen. Das Archivmaterial sei vollständig erhalten und stehe für die Recherchen Betroffener oder wissenschaftliche Aufarbeitung zur Verfügung.
 
Wensierski ergänzte: "Das Bedürfnis der ehemaligen Heimkinder, sich Gehör zu verschaffen, ist groß." Für sein Buch interviewte der Spiegel-Redakteur Betroffene aus Kinderheimen in ganz Deutschland, forschte in Archiven, bemühte sich um Begegnungen mit damaligen Heimleitern und Erziehern und befragte auch Personen aus dem Umfeld der Kinderheime: Ärzte, Lehrerinnen, Lieferanten und Mitarbeiter - zum Thema Kindervilla fand er beispielsweise Aufzeichnungen der damaligen Köchin.
 
Marion Zagermann saß auf dem Podium der Fachtagung erstmals seit ihrem Abschied aus dem Heim Vertreterinnen der Diakonissen-Kommuinität vom Scherfeder Zionsberg gegenüber. Sie zitierte aus ihrer Akte, in der ihr u. a. ein IQ unter dem Wert von eins attestiert wurde. "Sobald ich in meine Akte schaue, geht es mir furchtbar schlecht," kommentierte Marion Zagermann. Mit ihr diskutierte ihre Leidensgenossin Gundula Hoffrogge, die aufgrund ihrer unehelichen Abstammung jahrelang als "Bastard" und "Teufelsbrut" stigmatisiert wurde.
 
Die Diakonissen Schwester Ursula Metz und Schwester Marlies Betlehem, die sich der öffentlichen Diskussion im Forum stellten, traten erst nach dem fraglichen Zeitraum der Kommunität bei. "Wenn dies alles tatsächlich wahr wäre, so bitte ich die Betroffenen um Vergebung", sagte Schwester Ursula, und fügte hinzu: "Wenn nur ein Drittel der Erinnerungen und Recherchen stimmt, ist es eine Schande." Sie verurteilte auch die regelmäßige Verabreichung von Valium ohne vorhergehende ärztliche Untersuchung.
 
"Ich finde es sehr tapfer, dass zwei Schwestern vom Zionsberg hier sind", kommentierte Gundula Hoffrogge. Matthias Kochs, Leiter der Kinder- und Jugendhilfe St. Johannisstift und Initiator der Veranstaltung, sagte: "Ich bin sehr froh, dass es zu einer Begegnung gekommen ist." Die Fachtagung war gerade in den Reihen ehemaliger Heimkinder auf große Beteiligung gestoßen: Entrüstung, aufbrechende Wunden, Fassungslosigkeit und der Wunsch, sich und seinen Erinnerungen Gehör zu verschaffen, war auch bei vielen Besuchern - Menschen, die in Paderborn und anderswo in Heimen gelebt hatten - spürbar.
 
Wensierski erläuterte: "Für die Beteiligten ist es oft sehr schwierig, eine gemeinsame Sprache zu finden. Es bedarf noch vieler solcher Veranstaltungen, noch vieler Bücher und Filme." Auch der katholischen Kirche empfahl er die Aufnahme eines Dialogs mit ehemaligen Heimkindern - etwa aus dem Salvatorkolleg im Kreis Paderborn - und eine öffentliche Thematisierung. Die viele Jahrzehnte fehlende Auseinandersetzung der Kirchen mit Themen wie diesen trage eine Mitschuld an deren Glaubwürdigkeits- und Bedeutungsverlust.

Presseinformation19.05.2006 - Ev. Kinder- und Jugendhilfe St. Johannisstift GmbH

10 Thesen zum Ziel des Fachtages und darüber hinaus:

• Wir nehmen das Buch von Peter Wensierski zum Anlass, uns mit der Vergangenheitsbewäl-tigung von Heimerziehung auseinander zu setzen.

• Wir sehen das Kapitel über die Vergangenheit unserer Einrichtung in Scherfede als grund-sätzlich beispielhaft an für pädagogisches Fehlverhalten bis zum Teil in die 70er Jahre hin-ein in vielen deutschen Heimen.

• Wir wollen nun, nachdem uns die Vergangenheit der Heimerziehung in der Gegenwart ein-geholt hat, nicht die Augen und Ohren verschließen, sondern uns offen und aktiv mit dem Thema beschäftigen; zuhören, reflektieren und reagieren.

• Wir müssen und wollen die vergangene Realität von Gewalterfahrungen, Demütigungen, Erniedrigungen und Ausnutzungen akzeptieren lernen und innerlich an uns herankommen lassen, auch wenn es schwer fällt.

• Wir erkennen und anerkennen, dass diese Verhaltensweisen zu schwersten seelischen und körperlichen Schäden bei den Betroffenen geführt und dass Scham und Entwürdigung Jahr-zehnte ihres Lebens bestimmt haben.

• Wir bedauern die schlimme Tatsache, dass Gewalt und Unterdrückung die pädagogische Haltung und Methode vieler Menschen gewesen ist und nicht die Tat von einigen wenigen Verirrten oder Verwirrten.

• Wir stellen uns die Fragen, warum Staat und Kirche nicht eingreifend reagiert haben und müssen alles dafür tun, dass so etwas nicht wieder vorkommt.

• Wir fragen uns auch, warum viele Kollegen trotz Einsicht in das Unrecht so wenig Mut hat-ten, zu handeln und Gewalt zu verhindern.

• Hierüber wollen wir uns heute verständigen, den gemeinsamen Diskurs suchen und uns der Tatsache bewusst sein, dass dies ein Anfang des offenen Dialogs ist und nicht das Ende.

• Unser Augenmerk gilt neben der Reflexion der Vergangenheit der Gegenwart und erfordert eine erhöhte Wachsamkeit in Bezug auf die gesellschaftlichen Veränderungen und auf die Wahrung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und deren Eltern.

Matthias Kochs, Pädagoge M. A., Gesamteinrichtungsleiter
der Ev. Kinder- und Jugendhilfe St. Johannisstift GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.05.2006, Nr. 113
Nichts für Zartbesaitete
Geschichte der Heimkinder in der frühen Bundesrepublik


Der Alltag in der Nachkriegszeit war schwierig für Familien: Viele Väter waren im Krieg gefallen, die Mütter gezwungen, Geld zu verdienen. Ihre Kinder waren früh auf sich alleine gestellt. Nicht immer ging das gut. Dort, wo Kinder "verwahrlosten", schritten die Jugendbehörden ein: Mehr als eine halbe Million deutsche Kinder und Jugendliche waren bis in die siebziger Jahre in etwa 3000 Erziehungsheimen untergebracht, 80 Prozent davon in kirchlicher Hand. Waisenkinder oder straffällig gewordene Jugendliche waren dort nach Peter Wensierskis Angaben in der Minderheit, der Großteil waren Kinder alleinerziehender Mütter und generell unehelich geborene Kinder.


Akribisch schildert der Autor persönliche Schicksale von Mißhandlung, Demütigung und Ausbeutung in deutschen Heimen der Nachkriegszeit. Das Buch ist nichts für zartbesaitete Leser. Seitenweise schnürt die Lektüre einem die Kehle zu: Wensierski gibt wieder, wie Kinder vor Tellern mit erbrochenem Essen sitzen bleiben müssen und gezwungen werden, das Erbrochene aufzuessen. Oder von Strafen, die man auch Folter nennen kann, von grausamsten Prügeln bis zum Untertauchen in mit eiskaltem Wasser gefüllten Badewannen.


Wensierski läßt ehemalige Heimkinder zu Wort kommen, die bis heute traumatisiert sind von den Erlebnissen ihrer Kindheit. Gisela Nurthen ist eine von ihnen. Anfang der sechziger Jahre war sie in einem katholischen Kinderheim. Sie hat zeit ihres Lebens die schrecklichen Erlebnisse nicht überwunden, mehrere gescheiterte Ehen hinter sich und leidet unter Depressionen. Nach Wensierskis Recherchen ist sie nicht allein, Dutzende Berichte hat er zusammengetragen. Aus vielen drastischen und unentschuldbaren Einzelfällen werden jedoch im Handumdrehen "einige hunderttausend Heimzöglinge", die "unter heute unvorstellbaren Bedingungen" aufwuchsen.


Die Recherchen konzentrieren sich auf die Opfer. Gerne wüßte man mehr über die "Täter", die vielen Frauen und Männer, die alles hinter sich gelassen haben, um ihr Leben "Gott zu weihen", und warum gute Vorsätze in Überforderung und Schrecken enden können. Unerwähnt bleibt unter anderem, daß viele Erzieher und Erzieherinnen mit kriegs- und fluchtbedingt komplizierten Lebensläufen über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügten. Schwestern, die teilweise einen ganz anderen Berufswunsch hatten, wurden - weil Fachkräfte fehlten - in Kinderheimen eingesetzt. Das entschuldigt nicht, erklärt aber eine gewisse Unmotiviertheit und Überforderung. Dazu kommt, daß die Heimgruppen damals wesentlich größer als heute waren. Nicht selten war ein "Erzieher" oder eine "Erzieherin" allein - rund um die Uhr - für mehr als 30 Kinder verantwortlich. Heute hingegen besteht in Kinderheimen eine Gruppe aus etwa neun Kindern, um die sich bis zu fünf pädagogische Fachkräfte kümmern. Auch die Macht, die größere Gruppen auf ihre Pädagogen ausüben können - heute wie damals -, erwähnt Wensierski nicht. Eine Gruppe von 30 Kindern kann einen Erzieher das Fürchten lehren und dazu bringen, in seiner Not unüberlegt und ungerecht zu handeln.


Völlig unreflektiert bleibt bei dem Autor die Tatsache, daß in der Nachkriegszeit andere Erziehungsmethoden als heute herrschten - in den Familien, den Schulen und eben auch in den Heimen. Schläge gehörten damals zum normalen Schulalltag. Insofern überzeichnet Wensierski einseitig zu Lasten der Kirchen, wenn er die in den Heimen üblichen Strafen zu "Schlägen im Namen des Herrn" programmatisch hochstilisiert. Weil es in sein Bild nicht paßt, daß einige ehemalige Heimkinder auch Jahre später noch freundlichen Kontakt mit ihren Lehrern und Ausbildern haben, erklärt er deren Anhänglichkeit kurzerhand damit, daß die Opfer den Tätern beweisen wollten, daß sie mittlerweile "brav" seien.


Wensierski hat in "Schläge im Namen des Herrn" - wie schon zuvor mit seinen Reportagen über das Thema Heimkinder - schlimme Mißstände aufgedeckt. Wie schon in seinem letzten Buch "Gottes heimliche Kinder", in dem er über Kinder katholischer Priester berichtet, liegt ihm jedoch daran, "die Kirche" als "uneinsichtige Täterin" darzustellen, die sich der Aufklärung widersetzt. Das stimmt aber so nicht. Das Haus der Orden, die katholische Caritas und die evangelische Diakonie geben zu, daß Schlimmes passiert ist, haben sich teilweise öffentlich entschuldigt und rufen dazu auf, die Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern zu helfen.

ANTONIA VON ALTEN

Telepolis - 13.05.2006 - In den Mühlen der Fürsorge
Marcus Hammerschmitt

Die jüngste Vergangenheit der schwarzen Heimpädagogik
"Wenn du nicht brav bist, kommst du ins Heim!" Solche Sprüche gehörten früher durchaus zum rhetorischen Arsenal der Erziehung. Wer das zu hören bekam, wusste wahrscheinlich nicht viel Konkretes über das Leben von Heimkindern, aber soviel war klar: Heimkindern ging es schlecht. Wie schlecht es Heimkindern in der Bundesrepublik bis in die Siebziger des letzten Jahrhunderts hinein ging, wird erst heute deutlich, weil einige von ihnen ihr Schweigen über die Zustände brechen, denen sie ausgesetzt waren.
   
Einer, der ihnen zugehört hat, ist der Buchautor und Journalist Peter Wensierski. Er hat sich bereits mit einem Band über das Schicksal von Priesterkindern hervorgetan (zusammen mit Annette Bruhns), seit einigen Jahren ist ihm die jüngste Geschichte der deutschen Heimpädagogik ein Anliegen.
Was er in verschiedenen Artikeln und neuerdings einem Buch namens "Schläge im Namen des Herrn" zusammengetragen hat, besagt, dass das Netz der westdeutschen Kinder- und Jugendheime bis in die Siebziger hinein eher einem Kindergulag glich als einem Fürsorgesystem. 3000 und mehr Heime gab es in dieser Zeit, zu 80 Prozent waren sie in christlicher Hand, die katholischen Einrichtungen überwogen bei weitem. Wensierski rechnet mit mehreren Hunderttausend Menschen, die durch diese Einrichtungen gegangen sind.
Die Aussagen von Ehemaligen, die er dokumentiert, lassen den Schluss zu, dass dort Körperstrafen der entwürdigendsten Art, sexueller Missbrauch, Zwangsarbeit unter unmenschlichen Bedingungen nicht nur in Einzelfällen, sondern geradezu alltäglich vorkamen. Öfter ist auch von der zwangsweisen Medikamentenverabreichung zur Ruhigstellung der Kinder und Jugendlichen die Rede. Demütigung, Quälereien bis hin zur Folter, eine umfassende Entrechtung der Heimzöglinge sind üblich gewesen.
Nur einige Beispiele von vielen:
Freistatt mit seiner Presstorfproduktion, mit seinen Schlossereien und Schmieden war als reiner Wirtschaftsbetrieb konzipiert, der die billigen Arbeitskräften ausnutzte. Wenn nicht gerade Choräle gesungen wurden, mussten die 14- bis 21-Jährigen im Sommer wie im Winter im Moor Torf stechen und pressen.
Wer bei Fluchtversuchen erwischt wurde, musste beim Torfstechen Kettenhosen tragen, die nur Trippelschritte erlaubten. Im Dortmunder Vincenzheim dagegen ging es eher musisch zu: "Wir waren jugendliche Zwangsarbeiter", brachte es das ehemalige Heimkind Gisela Nurthen aus dem Dortmunder Vincenzheim auf den Punkt. Schweigend mussten sie und die anderen Mädchen stundenlang mit den schweren Laken und Tüchern an der großen Heißmangel stehen. Wer unerlaubt sprach, riskierte Schläge. Gesungen werden durfte - aber nur Marienlieder.
Die christliche Gehirnwäsche fehlte nie
Neben dem täglichen Terror durch Missbrauch, Ausbeutung und Unterdrückung stand auch in den Einrichtungen zweier ehemaliger Heimkinder das Beten ganz hoch im Kurs, die im März diesen Jahres bei Johannes B. Kerner von ihrem Leidensweg berichteten.
Es ist besonders dieser Aspekt der moralischen und religiösen Unterfütterung widerlichster Gemeinheiten, der den Opfern von damals zu schaffen macht – und die Abwehr und Verleugnung, auf die sie treffen.
Ich glaube, fast alle Betroffenen werden ähnliches erfahren haben: Man erzählt von seiner Heimzeit, und es wird nicht geglaubt, was man erzählt, meistens heißt es: "Das hast Du erfunden". Diese Erfahrung macht uns traurig, wütend und unduldsam, aber wir müssen uns auch fragen, ob dies nicht eine verständliche Reaktion ist. Wir müssen den Menschen erzählen, dass uns wieder und wieder Gerüche, Bilder, Worte, Farben anspringen, die uns von einem Augenblick auf den anderen, auch wenn wir lange Zeit nicht daran gedacht haben mögen, wieder in die Heimsituation bannen.
Verein ehemaliger Heimkinder e.V.
Unter dem Deckmantel der christlichen Wertevermittlung lief also ein System der Überausbeutung wie geschmiert, das für manche der Insassen mit dem Tod durch Suizid endete, und für sehr viele mit einer zerstörten Jugend, die bis heute nachwirkt. Warum aber kamen die Kinder und Jugendlichen überhaupt in die Heime?
Im repressiven Gesellschaftsklima der Adenauerzeit galt nicht nur als heimwürdig, wer keine Eltern mehr hatte, sondern schon, wer durch "Herumtreiberei", Schulschwänzen oder "Aufsässigkeit" aufgefallen war. Das Kind einer alleinerziehenden Mutter zu sein, war ein großer Risikofaktor.
Schwärzeste schwarze Pädagogik
Bei Mädchen reichte es oft allein, dass sie mit 15 oder 16 einen Freund hatten, und von den Nachbarn bei den Jugendämtern als "sittlich verwahrlost" denunziert wurden. Der Begriff, der die Zusammenarbeit von Jugendämtern und Heimen in diesem Zusammenhang am besten beschreibt, ist wohl der des Komplizentums. Weil man damals mit 21 erst erwachsen wurde, hatte man eine mehrjährige Heimkarriere vor sich, wenn man in diesem Alter in die Fürsorgemühlen geriet.
Liest man die Berichte der Betroffenen, hört man ihnen zu, dann stellt sich unweigerlich die Frage, wie faschistisch eigentlich der westdeutsche Postfaschismus war. Über Jahrzehnte hinweg wurden in einem Staats, der sich als parlamentarische Demokratie begriff, an verborgenen Orten die schwärzesten Formen der schwarzen Pädagogik betrieben, und erst dreißig Jahre nach der Abschaffung dieser durch und durch kranken Form der Fürsorge finden die Opfer von damals zaghaft zu einer eigenen Stimme, unter anderem durch selbstorganisierte Kongresse, die Gründung von Interessengemeinschaften, Vereinen und Klagen vor Gericht.
Was hat eigentlich damals dazu geführt, dass diese Ausbeutungs- und Unterdrückungsmaschinerie gegen Kinder und Jugendliche an ihr Ende kam? Es waren zu einem guten Teil die Aktionen von Leuten, die später glaubten, Guerillakonzepte aus der 3.Welt zur Verbesserung der Verhältnisse in der BRD benutzen zu können.
Ulrike Meinhof mit dem Drehbuch zu ihrem Film "Bambule" und die sogenannte Heimkampagne von 1969 getragen von verschiedenen Gruppen, aus denen später die RAF hervorging, hatten einen erheblichen Anteil an der Sichtbarmachung des Elends in den Heimen.
Zeit des Totschweigens vorbei
Teilweise waren es auch Verzweiflungstaten der Insassen selbst, die ein weiteres Wegschauen verunmöglichten. Am 14. Juli 1973 zum Beispiel brannten zwei männliche Heiminsassen die sogenannte Moorkirche der bereits erwähnten Diakonie Freistatt nieder.
In anderen Heimen kam es zu Unruhen, die öfter als "aufstandsartig" beschrieben werden. Vereinzelt versucht man es auf kirchlicher Seite heute noch mit Mauern und Abwiegeln,aber viele der Organisationen, die damals dabei waren - katholische, evangelische wie staatliche -, entschuldigen sich derzeit mit vielen guten Worten bei ihren ehemaligen Opfern.
Das ist ein wichtiger Schritt. Aber Worte allein sind kostengünstig, das Verlangen nach einer finanziellen Entschädigung trifft hingegen noch auf taube Ohren. Ob das noch lange so bleiben wird, ist nicht sicher, auf jeden Fall ist die Zeit des Totschweigens vorbei.
Kann das alles nie wieder passieren?
Erst vor kurzem wurde die von christlichen Eiferern betriebene Herz-Jesu-Schule in Saarbrücken teilweise geschlossen, weil sich herausstellte, dass dort Körperstrafen nicht gerade selten waren. Eine Grundschule und ein Internat, die vom selben Trägerverein betrieben werden, bleiben bestehen.
Man kann sich auch fragen, was in den Erwachsenen vorgeht, die früher Heimkinder waren, wenn sie heutzutage Frau van der Leyen zu Gesicht bekommen, die zusammen mit der katholischen und der evangelischen Kirche "Erziehungsbündnisse" zur besseren Wertevermittlung in der Gesellschaft propagiert.
Oder wie sie sich fühlen angesichts der konzertierten Anstrengungen führender Vertreter des Christentums und ihrer politischen Sprachrohre die "religiöse Gefühle" und christliche Werte vor so gefährlichen Dingen wie Hollywoodfilmen, Zeichentrickserien und Theaterstücken schützen wollen. Ich vermute, es kommt ihnen die Galle hoch. Verständlich wäre es.

Pressemitteilung Diakonie Freistatt vom 05.05.2006:

Lesung mit Spiegel-Autor Peter Wensierski / Rundgang durchs heutige Freistatt

Eine sehr offene und emotionale Diskussionsrunde/Wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas

FREISTATT. Der Vorstand der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel und die Diakonie Freistatt hatten Spiegel-Autor Peter Wensierski zu einer Lesung in die Freistätter Moorkirche eingeladen, um sein kürzlich erschienenes Buch „Schläge im Namen des Herrn“ vorzustellen. Unter den weit mehr als 100 Zuhörern waren auch etwa 30 ehemalige Fürsorgezöglinge, die in den 50er und 60er Jahren in Freistätter Fürsorgeheimen untergebracht waren.
In einer kurzen Einleitung zeigte Pastor Wolfgang Tereick , Geschäftsführer der Diakonie Freistatt, einige Aufnahmen aus dieser Zeit. Jugendliche bei der Arbeit im Moor, auf den Feldern, einen Schlafsaal mit 40 Betten oder die Zimmer in den verschiedenen Einrichtungen. „Ich habe beim ersten Blick auf die Bilder gedacht: Das darf ja wohl nicht war sein!“ Genauso erging es Peter Wensierski, als er vor einiger Zeit anfing, sich mit diesem Thema zu beschäftigen. Er wollte damit erreichen, dass die Betroffenen endlich Gehör finden und sich trauen, offen über ihre Erlebnisse zu sprechen. Damals gab es in ganz Deutschland rund 3000 Fürsorgeheime für Jungen und Mädchen. Und viele dieser Zöglinge waren aus nichtigen Gründen in diese Heime gebracht. Die Jugendämter überlegten nicht lagen, entschieden häufig nach Aktenlage. Und diesen Kindern und Jugendlichen ging immer wieder nur ein Satz durch den Kopf: „Warum bin ich eigentlich im Heim und was habe ich getan?“. Fragen, auf die sie nie eine Antwort bekamen. Auch die Länge des Aufenthalts war nicht bekannt. Besonders für Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahre ein psychische Belastung. Dazu kamen die schlechten Bedingungen. „Es wurde viel weggesperrt, das Essen war knapp und bei Verfehlungen wurden wir bestraft. An die Schläge erinnere ich mich heute noch“, so ein ehemaliger Zögling bei der anschließenden Diskussionsrunde.
Die Emotionen kochten zu Beginn hoch, wurden während der fast 90-minütigen Diskussionsrunde immer besonnener und es fand der gewollte Austausch statt. „Genau hier wollen Bethel und die Diakonie Freistatt ansetzen“, erklärte dazu Wolfgang Tereick. „Wir wollen anfangen, uns damit auseinanderzusetzen und wollen eine Annäherung erreichen“, so Wolfgang Tereick. Und Dr. Rolf Engels vom Vorstand der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel ergänzte: „Niemand, auch nach ihren Erzählungen am heutigen Abend, kann sich dem verschließen, was sie als ehemalige Zöglinge erlebt haben. Und wir stellen uns der Verantwortung und haben deshalb in der letzten Woche im Vorstand ein Forschungsprojekt verabschiedet, in dem dieses Thema wissenschaftlich aufgearbeitet werden soll.“ In Zusammenarbeit und durch Interviews mit den betroffenen Menschen sowie den Akten wird die Kirchliche Hochschule der Öffentlichkeit eine entsprechende wissenschaftliche Aufarbeitung im Herbst 2007 vorstellen.

news.ch - 27. April 2006 - Kanada entschädigt seine Ureinwohner

Ottawa - Kanada will seine Ureinwohner mit zwei Milliarden Dollar (rund 2,5 Mrd. Franken) für physische, psychische und sexuelle Misshandlungen in staatlich geförderten Schulen entschädigen. (rr/sda)
 
Die Regierung hatte die Ureinwohner gezwungen, sich in Internatsschulen integrieren zu lassen.

Die Summe stellt eine der höchsten finanziellen Wiedergutmachungen für Inuits (Eskimos) und Cree-Indianer sowie Angehörige anderer Stämme in Kanada dar.
Mit der Zahlung könne das Land endlich eines der dunkelsten Kapitel in seiner Geschichte schliessen, schrieben kanadische Medien.
Kanada hatte seine Ureinwohner ein gutes Jahrhundert lang - bis in die 1980er Jahre - gezwungen, ihr Reservat zu verlassen und sich in Internatsschulen integrieren zu lassen.
Dazu gehörte, dass die jungen Inuits und Crees für den Gebrauch ihrer eigenen Sprache, für kulturelle und spirituelle Riten sowie andere Traditionen streng bestraft wurden.
Sexuelle Ausbeutung in den Internaten
Zahlreiche Schüler wurden fernab von ihren Reservaten und ohne den Schutz der Eltern in den oft kirchlich geführten Internaten auch sexuell ausgebeutet.
Experten führen die heutigen Probleme der Ureinwohner, allen voran Alkoholismus, Gewaltausbrüche und Inzest in den Familien, zum grossen Teil auf das über Generationen erlittene Unrecht in den Internatsschulen zurück.
Nach dem von Stammesführern akzeptierten Regierungsvorschlag sollen etwa 80 000 Betroffene mit je 20 000 kanadischen Dollar (rund 22 000 Franken) entschädigt werden. Die Zahlungen sollen Anfang 2007 beginnen, wobei Alte und Kranke zuerst in den Genuss des Geldes kommen werden.

SR-internatiomal-Radio Schweden 25. 04. 2006
”Gestohlene Kindheit” klagt vor Gericht


Nun ist die Justiz am Zug

Berichte über Misshandlungen in Kinderheimen kratzen seit Monaten am Selbstbild der kinderfreundlichen Schweden. Nun haben 30 ehemalige Kinderheimbewohner mehrere Kommunen im Raum Stockholm auf Schadenersatz für die von ihnen erfahrenen Leiden verklagt. Doch Rechtsexperten bezweifeln, dass die Klage den gewünschten Erfolg bringt.

Es ist ein weiteres Kapitel aus der finsteren Geschichte schwedischer Kinderheime. Am Montag reichte Peter Lindborg, Vorsitzender des Vereins „Stulen Barndom“ – „Gestohlene Kindheit“ – seine insgesamt 32 Klageschriften bei der Justizbehörde ein Was bislang nur für Historiker oder Soziologen interessant war, wird nun also auch ein Fall für die Justiz:

„Wir fordern 100.000 Euro pro Jahr pro Person für das Leiden, das wir in diesen Gefängnissen erfahren mussten.“

Umfassende Misshandlungen

In diesen Gefängnissen haben zwischen 1950 und 1980 rund 100.000 Kinder ihr Dasein gefristet. Lange galten Schwedens Kinderheime als vorbildlich, doch seit geraumer Zeit häufen sich die Berichte über regelmässige und umfassende Misshandlungen. Torbjörn Thornström ist eines der ehemaligen Heimkinder, das mit Schrecken auf die damalige Zeit zurückblickt:

„Ich war sexuellem Missbrauch ausgesetzt, litt unter psychischen Druck. Man hat mich geradezu als Arbeitskraft genutzt. Vielen ging es so. Viele haben danach keine Ausbildung machen können oder mussten krankgeschrieben werden. Wenn man dabei allein die Einkommensausfälle bedenkt, ist die geforderte Schadenersatzsumme wohl nicht zu hoch gegriffen.“

Rechtsexperten skeptisch 

Torbjörn Thornström hat sich wie 31 andere ehemalige Heimkinder nun der Sammelklage des Vereins „Gestohlene Kindheit“ angeschlossen. Doch Rechtsexperten wie Dennis Töllberg sind skeptisch, ob die Gerichte den Schadenersatzforderungen im angestrebten Umfang zustimmen werden:

„Das ist mit dem schwedischen Recht nicht zu vereinbaren. Bei Vergewaltigungen bekommt man allenfalls 20.000 Euro. Oder nehmen Sie Opfer von Diskotheksbränden. Die erhalten sogar weitaus weniger. Die aktuellen Forderungen passen vielleicht auf das US-System, aber nicht auf unseres.“

Nun sind zunächst die Justizbehörden am Zug. Und alles deutet auf langwierige Verfahren hin. Denn: Wie soll man nach Jahrzehnten eine Kindesmisshandlung zweifelsfrei nachweisen? Gleichwohl sehen die ehemaligen Heimbewohner die eingereichte Sammelklage als Etappensieg. Ihr Schicksal ist nun ins Blickfeld der Öffentlichkeit gelangt.

Alexander Schmidt-Hirschfelder

Spiegel-online - HEIMKINDER-SCHICKSALE 19. 04. 2006

20 Euro für 15 Jahre Leid

Von Peter Wensierski

Bedauern, Aufarbeitung, Begegnung: Nachdem die Leiden misshandelter Heimkinder lange totgeschwiegen wurden, nehmen sich nun Kirchen und Politik ihres Schicksals an. Auch wenn Bewegung in das Thema kommt, reagieren manche Geistliche mit höchst zweifelhaften Gesten.

Hamburg - Hoffnungsvoll nahm Jürgen Schubert, 59, dieser Tage einen ganz besonderen Brief in Empfang. Der Absender: die Kongregation der Barmherzigen Schwestern in Paderborn. Einen Monat zuvor hatte der Mann aus Aachen der Generaloberin der Nonnen seine Lebensgeschichte mit der Bitte um Stellungnahme zugesandt. Unter dem Titel "Mundtot" hatte er notiert, welche Qualen er einst in einem Heim des Ordens erlitten hatte, in dem er 15 Jahre lang, so Schubert, "als abgeschobenes uneheliches Kind dahinvegetierte".
DUNKLES KAPITEL: HEIMKINDER IN DER BUNDESREPUBLIK

Das Opfer der Nonnen hoffte auf ein paar Worte der Entschuldigung. Doch von Buße keine Spur: Der Briefumschlag enthielt nur eine Karte mit wenigen Zeilen und einem seltsamen Lob. Sein Lebensbericht sei "sachlich und spannend verfasst", schrieb Generaloberin Cäcilie Müller, zudem habe der Text "keine Vorwürfe" enthalten - was sie und ihre Schwestern "erleichtert" zur Kenntnis genommen hätten. Doch irgendwie muss die fromme Schwester doch das Gewissen geplagt haben: Der Karte lag ein 20-Euro-Schein bei, als "Anlage".
Nun ist der Zorn des Mannes, der von 1949 bis 1964 im Johannesstift im sauerländischen Marsberg gelebt hatte, größer als je zuvor. "Zwanzig Euro Wiedergutmachung nach 15 Jahren des Eingesperrtseins? Nach Prügel, Demütigung und Kinderarbeit?", empört er sich und kann "so viel Unbarmherzigkeit nicht fassen".
Nur eines tröstet Schubert, Mitglied in einem neu gegründeten "Verein ehemaliger Heimkinder": Anders als die Schwestern von Paderborn wollen sich die beiden großen Kirchen jetzt endlich des Schicksals jener rund 500.000 Menschen annehmen, die bis in die siebziger Jahre in meist kirchlichen Heimen Westdeutschlands unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht waren - das ist ein radikaler Kurswechsel, denn bis vor kurzem, war dies bei den ehemaligen konfessionellen Betreibern westdeutscher Erziehungsheime so gut wie kein Thema.

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, will in seiner Kirche "heilsame und entlastende Entschuldigungen" auf den Weg bringen: "Wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, dann wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals." Und auch im Bundestag ist eine Anhörung zu diesem bislang verdrängten Kapitel der bundesdeutschen Geschichte geplant.
Am weitesten sind die Hessen. Der Landeswohlfahrtsverband (LWV), ein Zusammenschluss hessischer Städte und Kommunen, hat jetzt einstimmig eine Resolution verabschiedet, durch die der Verband anerkennt, dass bis in die siebziger Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die "aus heutiger Sicht erschütternd" ist. In der Erklärung, die von allen fünf Partei-Fraktionen der Verbandsversammlung getragen wird, spricht er "sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse" in den Heimen aus und entschuldigt sich bei allen Kindern und Jugendlichen, die dort "alltäglich physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren". Ihr Leid bleibe verbunden mit "Holzpritschen ohne Matratzen, mit Strafbunkern, Besinnungsräumen, Arbeitszwang, Schlägen, Demütigung".
In Hessen will man es nicht nur bei einer offiziellen Entschuldigung belassen, sondern weitere Schritte der Aufarbeitung angehen: Am 9. Juni findet dazu im Sozialpädagogischen Zentrum Kalmenhof in Idstein eine Tagung statt, bei der eine kritische Auseinandersetzung mit der Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren im Mittelpunkt stehen wird. Dazu sind auch Mitglieder des "Vereins ehemaliger Heimkinder" und Vertreter heutiger sozialpädagogischer Ausbildungsstätten eingeladen. Diskutiert werden soll dann auch über den Plan, eine Forschungs- und Beratungsstelle einzurichten sowie erstmals ein Museum zur "Geschichte der Heimerziehung".
"Falsch verstandene Pädagogik"
Auch andere Landschaftsverbände in der Bundesrepublik planen solche Entschuldigungen, verbunden mit konkreten Schritten der Aufarbeitung. EKD-Chef Huber ist ebenfalls schon aktiv geworden: Er hat das Diakonische Werk aufgefordert, die Aufarbeitung voranzutreiben. Archive sollen geöffnet, Begegnungen zwischen früheren Mitarbeitern und einstigen Zöglingen ermöglicht werden.
Selbst der Chef der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, spricht inzwischen von "falsch verstandener Pädagogik". Das "Leid jener Heimkinder", habe ihn "erschüttert und tief berührt". Er teile zwar nicht "einen Generalverdacht gegen alle Heime", befürworte jedoch, "die Aufarbeitung der Geschehnisse, die in einigen Heimen schon begonnen hat, um wenigstens heute den Opfern gerecht zu werden zu versuchen".

Der Schwenk der Kirchen ist erstaunlich: Noch vor kurzem wimmelten sie Opfer und Kritiker meist ab. Der evangelische Erziehungsverband etwa hatte in einem internen Rundschreiben empfohlen, "in etwaigen öffentlichen Diskursen das Thema möglicher Rentenansprüche aus 'Zwangsarbeit' oder anderer Schadensersatzleistungen" abzuwürgen - möglichst durch Verweis auf erforderliche "juristische Prüfungen".
Doch weil sich nun auch die Politik der Sache annimmt, steigt der Druck auf die Kirchen. "Wichtig und notwendig" sei es, so Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD), dass sich das Parlament mit dem Thema befasse. Dort sollten die Abgeordneten "Möglichkeiten der moralischen und sozialen Anerkennung des erlittenen Unrechts diskutieren".
Zu diesem Zweck will die SPD-Bundestagsabgeordnete Marlene Rupprecht, Mitglied im Petitionsausschuss, sobald wie möglich eine Anhörung von ehemaligen Heimkindern organisieren. Was da mit den jungen Menschen in der Bundesrepublik geschehen ist, sagt die Abgeordnete, sei "nicht staatliche Hilfe zur Erziehung, sondern in viel zu vielen Fällen die Zerstörung von Persönlichkeiten" gewesen. Es seien Dinge geschehen "im Namen des Rechtsstaates, die jedoch Unrecht waren".
Ex-Heimkind Jürgen Schubert hofft, dass es nicht allzu lange dauert, bis er bei einer Anhörung im Bundestag sprechen kann. Seine Lebensgeschichte, die er bereits den Schwestern in Paderborn schickte, will er demnächst den Parlamentariern vorlegen. Die 20 Euro, die der Orden der "Barmherzigen Schwestern" ihm zukommen ließ, hat er inzwischen zurückgespendet - das Geld liegt im Opferstock des Aachener Doms.

ZUR PERSON
Peter Wensierski, Jahrgang 54, arbeitet seit 1993 im Deutschland- Ressort des SPIEGEL. In Kooperation mit der Deutschen Verlags- Anstalt erscheint am 13. Februar 2006 sein Buch "Schläge im Namen des Herrn", das mit den Lebensbedingungen von Heimkindern ein bisher wenig bekanntes Kapitel der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik aufgreift. Wensierski lässt darin Betroffene, die in kirchlichen oder staatlichen Heimen bis in die siebziger Jahre unter demütigenden Bedingungen leben mussten, in Erfahrungsberichten zu Wort kommen.


Westdeutsche Zeitung - 18.04.06 - Bettnässer erwartet die Hölle-

Unangepasste Kleidung, aufmüpfiges Verhalten oder unehelich geboren - nach 1945 landen Kinder schnell im Heim. Ihre Geschichte wurde totgeschwiegen.

Düsseldorf. Lange hat sich Gisela auf diesen Tanzabend im Februar 1961 gefreut. Im Jugendheim kann sie für ein paar Stunden alles vergessen ihr karges Zimmer in einer Vertriebenensiedlung am Rande von Lemgo, ihre verhärmte, alleinerziehende Mutter und die Nachbarn, die hinter den Gardinen gierig das Treiben auf der Straße verfolgen. Nicht in ihren schlimmsten Albträumen hätte die 15-Jährige aber erwartet, dass dieser Abend ihr Leben verändern würde.
Gisela vergisst beim Tanzen die Zeit. Aus Angst vor der Mutter fährt sie mit einem Jungen ins nahe gelegene Hannover. Die Polizei greift die beiden auf, und 24 Stunden später fällt ein Richter ein vernichtendes Urteil: Einweisung ins geschlossene Vincenzheim in Dortmund, weil "weitere Verwahrlosung" drohe.
"Wenn du nicht brav bist, dann kommst du ins Heim!" Was heute wie eine leere Drohung klingt, war in der Nachkriegszeit für viele Kinder grausame Realität. Bis in die 70er Jahre hinein wurden mehr als eine halbe Million Menschen in über 3000, zu 80 Prozent konfessionell geführten, Erziehungsheimen weggeschlossen.
"Wer in die Heime kam, war selten ein Waisenkind oder Krimineller", berichtet Peter Wensierski. Der "Spiegel"-Redakteur deckt die bislang totgeschwiegene Geschichte der Heimkinder auf und zeigt die Schattenseite der als "goldene Zeiten" gelobten Gründerjahre.
Sein Buch "Schläge im Namen des Herrn" ist eine Abrechnung mit einer Erziehung zu "Zucht und Ordnung". Lemgo ist Anfang der 60er Jahre eine trostlose Beamtenstadt, in der die Polizei abends die Gegend durchkämmt. Auf der Suche nach Minderjährigen leuchten die Beamten mit Taschenlampen in die Gesichter von Liebespärchen, die sich auf Parkbänken tummeln.
Die 15-jährige Gisela ist schon glücklich, wenn ein Mitschüler sie auf seinem Moped mitnimmt. Und da ist Elvis. Allein zu Hause dreht sie das Radio voll auf und denkt, "dass er nur für mich singt". So ein Moment des Glücks hat aber seinen Preis.
Regelmäßig kommt die Fürsorgerin und moniert sich über die unschicklichen Mopedtouren, die "Negermusik" aus Amerika und die engen Nietenhosen, die Gisela trägt. Dann kommt dieser verhängnisvolle Abend im Februar 1961 und die Einweisung in das "Heim für gefallene Mädchen".
Unangepasste Kleidung, Pop-Musik, aufmüpfiges Verhalten oder unehelich geboren - in der Nachkriegsära landet man schnell im Heim. Das traditionelle Familienbild bekommt Risse. Väter bleiben verschollen, die Scheidungsraten schnellen in die Höhe, berufstätige Mütter versuchen ihre Kinder über Wasser zu halten. "Nach 1945 zogen mehr als 100 000 Kinder und Jugendliche bindungs-, heimat-, berufsund arbeitslos durch Deutschland", sagt Wensierski. Das deutsche Wirtschaftswunder produziert längst nicht nur Gewinner.
Gisela gerät auf die Verliererstraße, als sie die Einrichtung der "Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul" betritt. Züchtigung gehört hier zum Alltag. Die Erzieher folgen einer "um die Jahrhundertwende ausgeklügelten und vom NS-Regime menschenverachtend fortentwickelten Strafund Besserungspädagogik", stellt Autor Wensierski fest.
Während sich für die berufliche Zukunft der Kinder niemand interessiert, wird Wert gelegt auf ein ausgeklügeltes Strafsystem. Die Strafen für vermeintliche Vergehen sind drakonisch. Die heute 48-jährige Marion erinnert sich an ihre Zeit im schwäbischen St. Konradihaus, die pure Hölle.
Die Mädchen müssen zur Strafe mit nackten Beinen auf scharfkantigen Holzscheiten knien und beten, oder sie werden in kaltes Wasser gesetzt und gewaltsam untergetaucht. Wegen des schlechten Essens übergeben sich die Kinder häufig. Eine gängige Methode ist es dann, sie vor das erbrochene Essen zu setzen und sie durch Schläge zu zwingen, das Erbrochene aufzuessen.
Oft erleben Kinder, wie Bettnässer mit dem beschmutzten Laken als Umhang durch das Spalier von Gleichaltrigen gehen müssen. Unzählige versuchen sich umzubringen, vielen gelingt es. "Wir wurden zu Bestien erzogen", erinnert sich Heinz Peter (60) an seine Jugend im hessischen Erziehungsheim Kalmenhof. Er ist straffällig geworden, drogen- und alkoholabhängig und blickt auf drei gescheitere Ehen zurück.
"Bei vielen ehemaligen Insassen", sagt Wensierski unserer Zeitung, "bleibt das Gefühl, nichts wert zu sein". Sie halten das Erlebte geheim, selbst vor ihrer Familie. "Bloß nicht daran denken. Als ob man die hohe Mauer, die um unser Heim gewesen ist, sein Leben lang behalten hätte", erzählt Regina, die die "besten Jahre" ihrer Jugend im Dortmunder Vincenzheim verbringt.
Wensierski: "Viele ehemalige Heimkinder begreifen erst jetzt, dass die Traumata ihrer Kindheit auch deshalb noch fortbestehen, weil es hier zu Lande keine Aufarbeitung ihres Schicksals gibt." Erst der Kinofilm "The Magdalene Sisters", der über die Qualen "gefallener Mädchen" in katholischen Heimen Irlands berichtet, hat die deutschen Heimkinder aus ihrer Erstarrung gelöst.
Weder Regina noch Gisela haben rechtliche Schritte gegen ihre Peiniger eingeleitet; die Ereignisse sind längst verjährt. Sie wünschen sich nur eine Entschuldigung. Doch die Kirchen tun sich schwer mit dem Eingeständnis ihrer Schuld. Aber sie wehren die Vorwürfe auch nicht mehr einfach ab, stellt Wensierski fest.
Jürgen Gohde, Präsident des Diakonischen Werkes, nennt das Kapitel einen "Teil der Geschichte, mit dem wir leben müssen". Theo Breuel, Caritas-Abteilungsleiter im Erzbistum Paderborn, legt sogar in Schuldbekenntnis ab: "Dass so etwas möglich war, können wir uns nur dadurch erklären, das Menschen versagt haben."
Gisela wird keine Entschuldigung mehr bekommen. Sie starb im Dezember 2005.
Von Anja Clemens-Smicek

Tageszeitung Junge Welt 10.04.2006 - Schwarze Pädagogik

Peter Wensierski hat das schlagkräftige Wirken katholischer und evangelischer Erzieherinnen und Erzieher in der Wirtschaftswunder-BRD vor 1968 untersucht
Von Jana Frielinghaus
Die sogenannte SOS-Rütli-Debatte um verdorbene Hauptschüler bringt wieder einmal an den Tag, was an Unrat in deutschen Politiker- und Journalistenköpfen wabert. Die Frankfurter Allgemeine machte in diesem Zusammenhang letzten Donnerstag wieder einmal ihrem Ärger über »die 68er« Luft, die Schuld seien am Autoritätsverlust von Lehrern. Die Wiedereinführung der Prügelstrafe haben allerdings selbst Schönbohm und Stoiber noch nicht zu fordern gewagt.

Heimkinder

In eine Zeit, in der die auch im »freien Teil Deutschlands« noch gang und gäbe war, ist Peter Wensierski eingetaucht. Sein Buch »Schläge im Namen des Herrn« ist der verdrängten Geschichte der Heimkinder in der BRD gewidmet – speziell derer, die in kirchlichen Einrichtungen interniert waren. Der Autor läßt stellvertretend für Hunderttausende einige derer zu Wort kommen, die um ihre Kindheit und Jugend betrogen, jahrelang täglich mißhandelt und zu harter Arbeit ohne Lohn gezwungen wurden. Sie haben aus dieser Zeit keinerlei Rentenansprüche. Die Gewinne strichen die Kirchen selbstverständlich ein. Sie haben ihre traumatischen Erfahrungen selbst vor Freunden, Ehepartnern, Kindern verheimlicht. Das Gefühl, daß sie als ehemaliges Heimkind nichts wert sind, haben sie bis heute verinnerlicht. Erst jetzt konnten viele von ihnen darüber reden. Das Buch wirft ein Schlaglicht auf ein gesellschaftliches Klima der gegenseitigen Bespitzelung und der Denunziation, wie es nach Ende der Nazizeit ungebrochen fortzuwirken schien. Und auf eines der Kälte und des Unverständnisses im Umgang mit Kindern und Jugendlichen.

Da ist zum Beispiel Josef Doll, der in psychiatrischer Behandlung ist und regelmäßig von Angstzuständen heimgesucht wird. Die ersten 18 Jahre seines Lebens hat er in katholischen Kinderheimen verbracht. Seine erste bewußte Erinnerung ist die an den Tod der älteren Schwester. Als er etwa drei Jahre alt war, wurde sie eines Tages mit schweren Arm- und Beinbrüchen im Hof des Kinderheimes gefunden, kurz darauf starb sie im Krankenhaus. Der Vater, ein Alkoholiker, der die Kinder noch regelmäßig besuchen kam, erzählte damals allen, seine Tochter habe ihm berichtet, daß sie von einer Kinderschwester bedroht worden sei, sie werde sie noch zum Fenster rauswerfen. Josef Doll selbst wurde mehrmals so lange geschlagen, bis er ohnmächtig wurde. Seine jüngste Schwester wurde von einer wütenden Nonne einmal auf eine kochend heiße Herdplatte gesetzt.

Scheinhinrichtung

Marion Zagermann und Gundula Hofrogge verbrachten fünf Jahre in einem evangelischen Kinderheim. Schläge gab es wegen jeder Nichtigkeit, oft wurden die Kinder auch zur Strafe mit kaltem Wasser abgespritzt. Wie viele andere ehemalige Heimkinder im Buch berichten sie davon, sie hätten widerwärtiges Essen unter allen Umständen aufessen müssen, selbst wenn sie sich aus Ekel in die Schüssel erbrochen hatten. Tagelang wurden sie in eine leere Kammer gesperrt. Marion Zagermann hat bis heute Angst vor geschlossenen Räumen und ist tablettensüchtig. Im Heim mußte sie, ein lebhaftes Kind, jeden Abend Valium schlucken.

Carola Koszinoffski erlebte als Neunjährige eine Scheinhinrichtung durch eine Nonne. Die holte sie spätabends noch einmal aus dem Bett und befahl ihr draußen, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Die Schwester wehrten später Vorwürfe ehemaliger Heimkinder erfolgreich per Anwalt ab. Überhaupt gibt es keinen Verantwortlichen, der systematische Mißhandlung je zugegeben hätte.

Zur BRD-Geschichte gehört auch, daß Heime mit Euthanasiegeschichte mit gleichem Personal nahtlos ihre Arbeit fortsetzen konnten, so der von Wensierski beschriebene Kalmenhof in Idstein, wo mindestens 1 000 Kinder und Jugendliche als »Ballastexistenzen« ermordet wurden, darunter etliche, die nur wegen Bettnässens vom Heimdirektor »aussortiert« worden waren. Viele der alten »Erzieher« waren noch bis in die 60er Jahre dort beschäftigt.

Das Schlußkapitel ist dem »Fanal von Staffelberg« gewidmet, einem Jugendheim, in dem die späteren RAF-Mitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin die Fürsorgezöglinge zur Revolte aufriefen. Hier begann 1969 eine Kampagne gegen die autoritär geführten Kinder- und Jugendheime, die deren Ende besiegelte.

Das Buch enstand letztlich auf Anregung von Gisela Nurthen, deren Schicksal als »gefallenes Mädchen« in Heimen der »Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul« zu Beginn geschildert wird. In Irland hat sich der Orden der Barmherzigen Schwestern 2004, einige Jahre nachdem der Film »Die unbarmherzigen Schwestern« in den Kinos gelaufen war, offiziell bei seinen Opfern entschuldigt. Der irische Staat entschädigt die ehemaligen Zöglinge mit insgesamt einer Milliarde Euro, die Kirche beteiligt sich mit 128 Millionen. Die Dimension der Verbrechen in der Nachkriegs-BRD ist ähnlich. Die hiesigen Kirchen haben sich zu den Vorgängen noch nicht geäußert, der Staat hat schon die Erfüllung ganz anderer Verpflichtungen erfolgreich abgewehrt – wie etwa die Entschädigung russischer und italienischer Kriegsgefangener.

Heidenheimer Zeitung 07.04.2006

ERZIEHUNG / In einem Buch schildern Heimkinder aus den 50er und 60er Jahren ihr Leiden von damals
Die dunkle Seite der Barmherzigkeit
Zwangsarbeit und drastische Strafen waren weit verbreitet - Kirchliche Träger sind bereit zur Aufarbeitung

Laute Musik, kesse Kleidung oder die Lust am Tanz - manch Jugendlichen brachte das ins Heim. Unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit wurden junge Menschen malträtiert, bis in die 70er Jahre. Ehemalige Heimkinder brechen jetzt das Schweigen. Ein Buch erzählt davon.
Die Umerziehung begann mit einer Lüge im Namen des Herrn. Eine Frau versprach Gisela Nurthen einen Ausflug - und die 15-Jährige glaubte ihr. Der Abstecher dauerte fünf Jahre lang. Das Trauma dieser Zeit hat die heute 61-Jährige nicht überwunden. Denn Gisela landete in einem Haus mit tristen Räumen, schweren Gittern, Fenstern ohne Griff. Willkommen bei den "Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul", einem Heim für "gefallene Mädchen". Gisela, die Tochter einer Alleinerziehenden, kam ins Heim, weil sie einem Nachbarjungen einen Liebesbrief schrieb, zur Schule lieber mit Mopeds fuhr als zu Fuß zu gehen, weil sie enge Hosen trug und Musik hörte, bevorzugt Elvis Presley, und das für den Geschmack der Nachbarin immer zu laut - und letztlich, weil sie ein einziges Mal von der Polizei aufgegriffen wurde. Richter und Jugendamt fackelten nicht lange. 24 Stunden nach dem Kontakt mit der Polizei saß Gisela Nurthen im Heim und sie erfuhr schmerzhaft, was die Ordensfrauen unter Barmherzigkeit verstanden. "Ihr seid nichts wert, ihr seid nicht rein, aus euch kann ohne uns nichts werden." Der Satz prangt wie ein Motto über Gisela Nurthens Leben. Die Schwestern lassen sie büßen dafür, dass sie nicht aus "geordneten Familienverhältnissen" kam. Die 15-Jährige musste wie ihre Leidensgenossinnen bügeln, nähen, waschenund stopfenim Akkord. Sprechen während der Arbeit war verboten, für einen Elvis-Song gab es einen Tag "Klabause". Das bedeutete, in einem dunklen Raum bei Wasser und Brot eingesperrt zu sein. So wie Gisela Nurthen ging es in der Bundesrepublik bis in die 70er Jahre hinein hundertausenden Kindern und Jugendlichen. Sie landeten in einem der rund 3000 Erziehungsheime, die sich meist in kirchlicher Trägerschaft befanden. Gründe für die Einweisung waren schnell zur Hand. "Arbeitsbummelei" stand in den Papieren von Gerald Hartford. Andere Leidensgenossen wurde Bettnässen oder Stottern zum Verhängnis, wieder anderen Aufbegehren gegen die Erwachsenen. Sicher gab es auch schwer zu bändigende Kinder und Jugendliche, derer man nur mit Drill Herr zu werden glaubte. Doch es gab auch andere Motive. Mancher Jugendliche wurde in ein Heim abgeschoben, weil der Vater im Krieg gefallen und die Witwe überlastet, weil die Familie zerrüttet oder die Wohnung zu klein war, oder die Eltern sich im beginnenden Wirtschaftwunder mit Berufstätigkeit und Erziehung überfordert fühlten. Dem Streben nach Wohlstand stand mancher Sprössling im Weg. Das wird in verklärenden Rückblenden auf die 50er und wilden 60er Jahr gern vergessen. Die Zustände in manchen Heimen waren katastrophal. "Die um die Jahrhundertwende ausgeklügelte und vom NS-Regime menschenverachtend fortentwickelte Straf- und Besserungspädagogik" galt oft noch bis in die 70er Jahre, schreibt Peter Wensierski. In seinem Buch "Schläge im Namen des Herrn" hat der Journalist Erinnerungen ehemaliger Heimkinder gesammelt. Das Buch spiegelt die Perspektive der Opfer. Eine Aufarbeitung der Geschichte der Erziehungsheime ist es nicht, will es auch nicht sein. Auch eine Betrachtung der Zeit, in der Schläge und Strenge auch außerhalb der Heime "anerkannte Erziehungsmethoden" waren, bleibt außen vor. Diese könnte die Zustände in Heimen auch nicht rechtfertigen. Krankenhaus als Chance Beispielsweise die Schinderei auf dem Moorhof der Diakonie Freistatt in Norddeutschland. Norbert Mehler hat sie erlebt. "Ich schluckte Glassplitter, um meinen Blinddarm kaputt zu kriegen und so über das Krankenhaus Diepholz eine bessere Fluchtchance zu bekommen als inmitten des Sumpfes." Die Arbeit im Torf war in seinen Augen Zwangsarbeit. Noch 1970 sicherten 300 Jugendliche dem Moorhof diese Einnahmequelle. Auch andere Einrichtungen bedienten sich der Arbeitskraft der Zöglinge. Mädchen mussten bügeln, die Mangel bedienen. Für die 48-Stunden-Woche gab es 2 bis 4 Mark Lohn. Sozialversichert waren die Jugendlichen nicht. Das ist für die Betroffenen im Bezug auf ihre Rente heute ein Debakel. Ein reguläres Arbeitsleben ist für Marion Zagermann kaum mehr zu bewältigen. Die 48-Jährige leidet noch immer unter ihrer Heimvergangenheit. Warum sie 1957 in das evangelische Kinderheim Schwerfede gesteckt wurde, weiß sie nicht. Lag es daran, dass sie unehelich geboren wurde, oder war sie dem neuen Partner der Mutter im Weg? Marion Zagermann hat keine Erklärung. Auch nicht dafür, weshalb sie als Kind Erbrochenes aus ihrem Teller löffeln musste, in der Badewanne immer wieder in kaltem Wasser untergetaucht wurde und ihr von klein auf Valium eingeflößt wurde. Mit 13 ist sie tablettensüchtig. Noch heute schluckt sie Truxalettensaft, der ihr schon in ihrer Kindheit zur Beruhigung verabreicht worden war. Wie sie haben viele ihre Kindheitserlebnisse nie verwunden. Aus Scham, als Heimkind gebrandmarkt zu werden, schwiegen viele, bis Depressionen und anderes Leid sie zur Konfrontation mit ihrer Vergangenheit zwangen. Gisela Nurthen brach das Schweigen - nach 30 Jahren. Wie andere sucht sie nach Spuren ihrer Vergangenheit. Die Aufklärung ist schwer. Dokumente sind verschwunden, andere werden von den Heimen beziehungsweise den Nachfolgeeinrichtungen unter Verschluss gehalten. Und die inzwischen betagten Erzieher hüllen sich in Schweigen. Bei den kirchlichen Trägern stoßen die ehemaligen Heimkinder mit ihrem Anliegen inzwischen jedoch auf Gehör. Caritas und Diakonie haben Hilfe bei der Aufarbeitung der Heimgeschichte angekündigt. Die Diakonie will auf einer Fachtagung den Forschungsstand dokumentieren und Studien in Auftrag geben. Das Expertentreffen wird gerade vorbereitet. Auch einzelne Heime stellen eigene Untersuchungen an. Der Austausch mit den früheren Heimkindern sei willkommen, heißt es bei der Diakonie. Zumindest die ideelle Anerkennung ihres Leids rückt für die Betroffenen damit näher. Auch der Frage, wie die Ausfallzeiten bei der Rentenversicherung ausgeglichen werden können, gehen inzwischen Juristen nach. Eine schnelle finanzielle Anerkennung ist nicht in Sicht. Zuerst müssen Heime Licht in ein dunkles Kapitel ihrer Geschichte bringen. · Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn, Deutsche Verlags-Anstalt, München, 240 S., 19,90 Euro. INFO Ehemalige Heimkinder haben sich zusammengeschlossen im Verein ehemaliger Heimkinder e.V., E-Mail-Adresse: Anlaufstelle@vehev.org
ELISABETH ZOLL

Wiesbadener Tagblatt - 06.04.2006 - LWV bedauert Gewalt an Heimkindern -
Verbandsversammlung verabschiedet Resolution / Im Juni Fachtagung im Kalmenhof Idstein

KASSEL/IDSTEIN "Der Landeswohlfahrtsverband Hessen spricht sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben."
Einstimmig hat die Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV) eine Resolution verabschiedet, durch die der Verband anerkennt, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die aus heutiger Sicht erschütternd ist.
Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren, heißt es in dem Resolutionstext, der von allen fünf Fraktionen der Verbandsversammlung getragen wird.
Bereits in den vergangenen Jahren hat der LWV dieses Thema nicht verschwiegen oder ausgeblendet - eine Haltung, die durch die Resolution unterstrichen wird: "Der LWV wird sich weiterhin offensiv mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit auseinander setzen und sich den Fragen und Unterstützungsersuchen ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner stellen, sowie die in seinen Möglichkeiten liegende Unterstützung leisten."
Beim LWV hat der Prozess der Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren weit vor dem Beginn der jetzigen Diskussion eingesetzt: Eine unabhängige Untersuchung von Wissenschaftlern der Universität Münster zur sozialpädagogischen Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof bezog auch die Nachkriegsjahrzehnte ein. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden bereits 1988 veröffentlicht (Christian Schrapper, Dieter Sengling: Die Idee der Bildbarkeit - 100 Jahre sozialpädagogische Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, Weinheim und München 1988).
Am 13. Oktober 2004 wurde der "Verein ehemaliger Heimkinder" im Sozialpädagogischen Zentrum Kalmenhof (SPZ) in Idstein gegründet. Bei dieser Veranstaltung und bereits zuvor haben Vertreter des LWV gemeinsam mit der Betriebsleitung des SPZ Kalmenhof den direkten Kontakt zu den ehemaligen Heimkindern gesucht und gepflegt. Auch das LWV-Archiv und die Gedenkstätte Breitenau stehen seit Jahren mit ehemaligen Heimkindern in Kontakt.
Der Verband wird weiter an dem Thema arbeiten: Am 9. Juni 2006 findet im Sozialpädagogischen Zentrum Kalmenhof eine Tagung statt, bei der die Heimerziehung im Kalmenhof in den 50er und 60er Jahren, ihre Kritik und die Heimreform im Mittelpunkt stehen. Zu dieser Veranstaltung sind auch Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder und Vertreter sozialpädagogischer Ausbildungsstätten sowie Fachwelt und Öffentlichkeit eingeladen. Bereits jetzt liegen mehr als 150 Anmeldungen vor. Bei der Tagung soll, auf der bisherigen Diskussion aufbauend, erörtert werden, wie heute wirksame Hilfen zur Erziehung weiterentwickelt werden können, aber auch, wie das nun "historische" Thema der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre im öffentlichen Bewusstsein gehalten werden kann.

Kobinet - 06.04.2006
Entschuldigung bei ehemaligen Heimkindern für erlittene Gewalt.


Kassel (kobinet) "Der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) spricht sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben." Einstimmig hat gestern die Verbandsversammlung des LWV eine Resolution verabschiedet, durch die der Verband anerkennt, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die aus heutiger Sicht erschütternd ist.

Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren, heißt es in dem Resolutionstext, der von allen fünf Fraktionen der Verbandsversammlung getragen wird. Bereits in den vergangenen Jahren habe der LWV, einer Pressemitteilung des Verbandes zufolge, dieses Thema nicht verschwiegen oder ausgeblendet - eine Haltung, die durch die Resolution unterstrichen werde: "Der LWV wird sich weiterhin offensiv mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit auseinander setzen und sich den Fragen und Unterstützungsersuchen ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner stellen, sowie die in seinen Möglichkeiten liegende Unterstützung leisten", heißt es in der Pressemitteilung.

Beim LWV habe der Prozess der Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren weit vor dem Beginn der jetzigen Diskussion eingesetzt. Eine unabhängige Untersuchung von Wissenschaftlern der Universität Münster zur sozialpädagogischen Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof bezog auch die Nachkriegsjahrzehnte ein. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden bereits 1988 veröffentlicht (Christian Schrapper, Dieter Sengling (Hg.): Die Idee der Bildbarkeit - 100 Jahre sozialpädagogische Praxis in der Heilerziehungsanstalt Kalmenhof, Weinheim und München 1988).

Am 13. Oktober 2004 wurde der "Verein ehemaliger Heimkinder e. V." im Sozialpädagogischen Zentrum Kalmenhof (SPZ) in Idstein gegründet. Bei dieser Veranstaltung und bereits zuvor haben Vertreter des LWV gemeinsam mit der Betriebsleitung des SPZ Kalmenhof den direkten Kontakt zu den ehemaligen Heimkindern gesucht und gepflegt. Auch das LWV-Archiv und die Gedenkstätte Breitenau stehen seit Jahren mit ehemaligen Heimkindern in Kontakt. Der Verband wird auch weiter an dem Thema arbeiten: Am 9. Juni 2006 findet - in Zusammenarbeit mit dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL und der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) - im Sozialpädagogischen Zentrum Kalmenhof eine Tagung statt, bei der die Heimerziehung im Kalmenhof in den 50er und 60er Jahren, ihre Kritik und die Heimreform im Mittelpunkt stehen. Zu dieser Veranstaltung sind auch Mitglieder des Vereins ehemaliger Heimkinder e. V. und VertreterInnen sozialpädagogischer Ausbildungsstätten sowie Fachwelt und Öffentlichkeit eingeladen. Bereits jetzt liegen mehr als 150 Anmeldungen vor. Bei der Tagung soll, auf der bisherigen Diskussion aufbauend, erörtert werden, wie heute wirksame Hilfen zur Erziehung weiterentwickelt werden können, aber auch, wie das nun "historische" Thema der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre im öffentlichen Bewusstsein gehalten werden kann. omp

Hessische/Niedersächsische Allgemeine 31.03.2006
„Damals fehlte die Kontrolle"

LWV-Landesdirektor Uwe Brückmann über die Heimerziehung in den 50ern und 60ern
Kassel. Die Verbandsversammlung des Landeswohlfahrtsverbandes (LWV) Hessen will öffentlich ihr Bedauern darüber erklären, dass auch in den vom LWV betriebenen Heimen bis in die 70er-Jahre hinein Kinder und Jugendliche misshandelt wurden. Auslöser war das Buch "Schläge im Namen des Herrn" von Peter Wensierski, in dem Betroffene aus ihrer Zeit im Heim von menschenverachtenden Zuständen berichten. Darüber sprachen wir mit Uwe Brückmann, Landesdirektor des LWV Hessen.
Der LWV hat angekündigt, sich bei den ehemaligen Heimkindern zu entschuldigen. Wie sieht diese Entschuldigung konkret aus?
Uwe Brückmann: Die Verbandsversammlung wird am 5. April eine Resolution verabschieden, in der sich der Verband offiziell entschuldigt. Darüber hinaus hat der LWV auch in der Vergangenheit schon einiges unternommen, um den Betroffenen bei der Aufarbeitung ihrer Biografien zu helfen.
Zum Beispiel?
Brückmann: Etwa, indem wir gemeinsam mit den jetzigen Heimleitungen Gesprächskreise organisiert haben oder den ehemaligen Heimkindern Einsicht in ihre Akten ermöglichten. Wir standen immer wieder mit Informationen zur Verfügung, zum Beispiel in der Breitenau. Das wird auch gern genutzt. Seit der Ankündigung der Entschuldigung haben wir viele Rückmeldungen ehemaliger Heimkinder bekommen, die sagen: "Das finden wir gut". Wichtig ist mir auch die Feststellung, dass die Aufarbeitung bei uns nicht erst jetzt begonnen hat: Bereits 1988 haben wir eine Untersuchung der Heimerziehung in den Nachkriegsjahren veranlasst und diese auch publiziert.
An wen können sich ehemalige Heimkinder wenden, die ihre Biografien aufarbeiten wollen?
Brückmann: Am besten an unseren zuständigen Mitarbeiter, Klaus Lehning, unter Tel. 0561 / 10 04-23 86. Inzwischen hört man in der Diskussion die Forderung nach einem Fonds, um den Misshandelten auch finanziell helfen zu können.
Werden Sie so etwas einrichten?
Brückmann: Die Problematik von möglichen Schadensersatzforderungen stellt sich schwierig dar. Das lässt sich nur im Einzelfall rechtlich klären. Es kommen auch immer wieder Nachfragen, wenn es um Rentenansprüche geht. Wir sind da behilflich, aber letztendlich entscheiden die Rentenversicherungsträger darüber, ob sie die gearbeitete Zeit im Nachhinein anerkennen.
Die Grünen im Schwalm-Eder-Kreis haben es gefordert, Buchautor Wensierski hat es angeregt: Wird in der Breitenau ein Museum eingerichtet, das an die Heimkinder der Zeit bis 1970 erinnert?
Brückmann: Die Überlegungen gibt es bei uns schon länger. Wir haben für den 9. Juni zu einer Fachtagung in den Kalmenhof nach Idstein eingeladen und haben schon über 100 Anmeldungen. Dort werden der Staatssekretär aus dem hessischen Sozialministerium, Vertreter hessischer Jugendämter, des Bundesfamilienministeriums sowie Wissenschaftler gemeinsam mit Betroffenen über die Aufarbeitung der Heimerziehung in den 50er- und 60er-Jahren diskutieren. In diesem breiten Forum wollen wir auch darüber sprechen, ob eine Ausstellung erarbeitet werden soll, wie sie inhaltlich gestaltet werden könnte und ob eine Angliederung an die Gedenkstätte Breitenau sinnvoll wäre.
Welche Art von Heimen gibt es heute in der Trägerschaft des LWV?
Brückmann: Wir haben noch zwei Jugendheime. Eines in Wabern und eines in Idstein. Die Platzzahlen in den Heimen wie auch in den Gruppen liegen aber deutlich unter denen vor 30 Jahren. Seit der Reform ab 1969 ist man auf Alternativen umgestiegen, weg von der stationären Versorgung und zum Beispiel hin zu Erziehungsstellen in Familien. Auch gibt es Modelle von dezentralen Wohngruppen, teilstationäre und ambulante Angebote. Das ist in vielen Fällen nicht nur kostengünstiger, sondern auch besser für die Kinder und Jugendlichen. Wir versuchen, immer mehr dahin zu kommen, dass die Hilfe zu den Betroffenen geht anstatt umgekehrt.
Die Misshandlungen, die heute angeprangert werden, waren damals nur möglich, weil niemand hingesehen hat. Wie werden die Heime heutzutage kontrolliert?
Brückmann: Die Kontrolle fehlte damals, Teilen des Personals fehlte die fachliche Qualifikation, und die Gesellschaft insgesamt war viel autoritärer als heute. Heute sind in den Heimen qualifizierte Pädagogen tätig. Die Heimaufsicht liegt bei den Jugendämtern, Kinder und Jugendliche werden gezielt über ihre Rechte aufgeklärt. Ich selbst bin sehr sensibel, wenn ich Hinweise aus den Einrichtungen bekommen sollte, gehe ich auch persönlich darauf ein.
Von Bettina Sangerhausen
31.03.2006

Wiesbadener Kurier - Prügel waren an der Tagesordnung -

Eine heute 49-Jährige erinnert sich an die Verletzungen ihrer Kindheit
Vom 30.03.2006

WIESBADEN Das Gefühl, etwas verpasst zu haben, bestimmt das Leben von Ursula G.: Sie vermisste als Kind die liebende Mutter, ein Defizit, unter dem sie heute noch leidet. Jetzt beginnt sie ihre Kindheit aufzuarbeiten.  
Von Christoph Cuntz

Als Kind hat Ursula G. gelitten unter der zu Hause herrschenden Enge und Strenge. Sie galt als frech und aufsässig, wurde ein Fall fürs Jugendamt. Weil ihre Mutter sie misshandelte, ermittelte die Polizei. Die heute 49-Jährige hat sich ihre Akten geben lassen - und fragt sich, warum die Behörden so lange still hielten.

Sie war zwei Wochen auf der Welt, als das Jugendamt den ersten Vermerk in ihrer Sache schrieb. Der letzte datiert wenige Tage vor ihrem 18. Geburtstag, als Ursula G. gerade eine Schwesternausbildung an einer Wiesbadener Klinik begonnen hatte.

Enge und StrengeDick ist die Akte, die im Laufe der Jahre gewachsen ist. Ursula G. hält sie jetzt in Händen. Auf den Inhalt war sie vorbereitet, sagt sie. Sie habe das alles ja erlebt: Die Schläge, die Strenge und die Enge. "Aber ich wusste nicht, dass mein Opa schon Sorge um mich hatte, als ich noch ein Baby war. Und entsetzt hat mich, dass die Behörden nicht eingeschritten sind".

Ursula G. war Tochter einer allein Erziehenden, wuchs in der Zwei-Zimmer-Wohnung der Großeltern auf, in der auch ihre Mutter und ihre später geborene Schwester lebten. Sie war noch kein Jahr alt, als der Großvater beim Jugendamt vorgesprochen hatte, von den "Tobsuchtsanfällen" seiner Tochter - "der Kindesmutter" - berichtete. In der Akte heißt es: Die Mutter sei "nach Aussagen ihres Großvaters nicht in der Lage, das Kind selbst zu erziehen".

Wenig später beschrieb das Gesundheitsamt die Kindesmutter als "geistig etwas minderwertig" und "nicht in der Lage, ihr Kind allein zu pflegen und zu erziehen". Die Erkenntnis blieb folgenlos. Es vergingen zehn lange Jahre, bis der nächste Eintrag die Akte von Ursula G. füllte. Das Kind sei "frech und ungezogen", hieß es jetzt. Sie bereite Schwierigkeiten. Die allerdings seien "mehr in der Persönlichkeit der Mutter begründet". Die Behörden holten eine Beurteilung der Schule ein, die nicht sehr freundlich ausfällt. Die mittlerweile Zwölfjährige sei "weithin farblos, abwesend, passiv, undurchsichtig, unlebendig, schwerfällig-träge".

Ursula G. erinnert sich an die damalige Zeit: "Prügel mit dem Kochlöffel aus nichtigen Anlässen waren an der Tagesordnung". Bedrückt und aggressiv sei die Stimmung zu Hause gewesen. Ihre Mutter habe sie spüren lassen, "dass sie mich abgrundtief hasst".

Eine Psychologin, die im Februar 1970 im Auftrag des Jugendamtes den Fall untersuchte, notierte: Die Mutter mache einen "auffallend starren Eindruck", sei "eher hart in ihren Äußerungen". Sie sage über ihre Tochter: "Manchmal kommt sie mir vor wie ein Mongole" - ohne dass es für die Psychologin möglich war, zu erfahren, was die Mutter damit meint. Ihre Einschätzung: Ursula G. werde "ständig kontrolliert und reglementiert". Im Interesse des Mädchens könne nur geraten werden, sie rasch aus der Familie heraus zu nehmen. Schließlich seien die Wohnverhältnisse "untragbar", sie provozierten "seelische Fehlentwicklungen".

Den Mahnungen der Psychologin zum Trotz bleibt die 13-Jährige vorerst bei der Mutter. Die Behörden ließen es zur Eskalation kommen. In einer Notiz des "Staatlichen Kriminalkommissariates Wiesbaden" heißt es: Anlässlich eines Streites zwischen Mutter und Tochter "übergoss die Mutter die Tochter mit kochender Suppe und brachte ihr Verbrennungen 2. Grades bei". Die Polizei ermittelte wegen einfacher Körperverletzung. Bei der polizeilichen Vernehmung wurde Ursula G. gefragt: "Sei mal ganz ehrlich, warst du nicht doch einen großen Teil schuld, dass die Mutter oft so erregt wurde und sich jetzt vergessen hat?"

"Wie kann man einem 13 Jahre alten Kind die Schuld zuweisen?", fragt Ursula G. heute. Ihr in den Akten geschildertes, angeblich freches Verhalten wäre damals gar nicht möglich gewesen. "Da wäre man geschlagen worden."

Ursula G. muss als Kind im wahrsten Sinne des Wortes ein "dickes Fell" gehabt haben. Die Ärztin, die Ursula G. behandelte, gab zu Protokoll, es sei unerklärlich, "dass sie kaum über Schmerzen klagt" und den Eindruck erwecke, "als wenn sie das nicht sehr beeindruckt habe".

Erst nach der Eskalation bekam Ursula G. einen Platz in einem Jugendheim. Vieles wurde anders, aber nicht unbedingt besser. "Wir wurden im Heim selten geschlagen", sagt sie heute. "Das war auch nicht nötig, der Psychodrill reichte schon aus, um uns gefügig zu machen". Sie erinnert sich an Postzensur und Ausgangs-Verbot. "Wie im Gefängnis" sei es gewesen. "Wir mussten um sechs Uhr morgens aufstehen, um noch vor der Schule unseren Putzdienst zu absolvieren."

Kein "Traumprinz"Das Jugendheim selbst gab zunächst eine verheerende Einschätzung über das Mädchen ab. "Starke Egozentrik", "Hang zum Angeben", "Dankbarkeit kante sie nicht". Als sie vor der Entlassung steht - Ursula G. hatte inzwischen einen Realschulabschluss - klingt das Urteil versöhnlicher. Die Probleme zu Hause versuche sie "soweit wie möglich ohne Hilfe zu lösen". Sie sei selbständiger und kritischer geworden und für die Ausbildung zur Krankenschwester "sehr geeignet", da sie zuverlässig arbeite und ein gutes Einfühlungsvermögen habe.

Ursula G. erinnert sich an die Zeit, als sie ins eigenverantwortete Leben entlassen wurde. Sie wollte heiraten, Kinder bekommen, den Traumprinzen finden, der "alles wieder gut" macht. Es kam anders. "Ich hatte große Schwierigkeiten, mit Menschen und Beziehungen in meiner Umgebung klar zu kommen". Sie fand zwar einen Mann, von dem sie ein Kind hat. Von Dauer war die Beziehung nicht. Ursula G. ist - wie ihre Mutter es war - allein erziehend.

Täglicher Anzeiger Holzminden -Wenn Du nicht brav bist, kommst Du ins Heim-

Kreis Holzminden (25.03.06). Sie sollen in einer Gesellschaft bestehen, die ihnen das Rüstzeug dafür verweigert hat: Zuneigung haben sie nicht erfahren, Vertrauen nicht aufbauen können. Michael-Peter Schiltsky muss, weil er aus Vahlbruch ist, der Ankerpunkt dieser TAH-Reportage sein, obwohl er darin eigentlich gar nicht auftauchen möchte. Doch Schiltsky ist Heimkind der Wirtschaftswunderzeit, ein geschundenes, ein missbrauchtes Kind. Und er hat, als einer von ganz, ganz wenigen, das Abitur geschafft und studiert. Gesprochen hat er über das, was ihm in seiner Jugend passierte, lange Zeit nicht. Jetzt aber ist er Sprachrohr und Anlaufstelle des jungen Vereins ehemaliger Heimkinder, tourt durch Talkshows (am 30. März bei Johannes B. Kerner), mahnt in Radiosendungen die Pflicht von Staat und Kirche als Betreiber der Heime an, die Betroffenen - es sind mehrere 100.000 - als Opfer eines lange verschwiegenen, unrühmlichen Kapitels deutscher Heimerziehungs-Geschichte anzuerkennen.

Der Mann mit dem Zopf, der obligatorischen Fliege und der stets korrekt zugeknöpften Weste ist Germanist und Künstler. Sein Zuhause haben er und seine Familie in Vahlbruch gefunden. Ein altes Fachwerkgehöft hält als Wohndomizil, Künstlerwerkstatt und jetzt auch als Büro für den Verein ehemaliger Heimkinder her. Die Zimmer sind niedrig, kaum zu heizen. Kalt bleibt’s, egal, wie viele Scheite Schiltsky in den bollernden Kaminofen schiebt. Es ist, als will dieser Raum wiedergeben, was Michael-Peter Schiltsky in all den Jahren nach dem Heim nicht ablegen konnte: diese Ahnung von der Erfahrung menschlicher Kälte, diese ständige Angst, allein gelassen zu werden. „Es fehlt, was man normalerweise mit Urvertrauen bezeichnet”, sagt der Mann, der mit 14, neu im Heim, in seiner ersten Nacht erfahren musste, dass menschliche Nähe schlimm, schmerzhaft, unerträglich sein kann.
„Nicht jeder hat die Möglichkeit, über seine Arbeit das Ventil zu finden, um sein Leid herauszuschreien”, sagt Bildhauer Michael-Peter Schiltsky, der sein Leben sehr viel besser in den Griff bekommen hat, als viele seiner Leidensgenossen. Deshalb formuliert er für sie, was sie erleiden mussten, was sich fortsetzt bis zum heutigen Tag: Wer in seiner Kindheit, in seiner Jugend als dumm bezeichnet wurde, so in den Akten landete, der muss auch heute noch erfahren, dass es schwer ist, der Bürokratie das Gegenteil zu beweisen.
„Wenn Du nicht brav bist, dann kommst Du ins Heim!”, diesen Satz haben in den 50er und 60er Jahren Millionen junger Menschen zu hören bekommen. Am Ende waren es einige hunderttausend Kinder und Jugendliche, die tatsächlich hinter den Mauern der staatlichen und kirchlichen Erziehungsanstalten zu „Zucht und Ordnung” erzogen wurden. „Für sie fiel eine schwere Tür ins Schloss, hinter der sie die ganz anderen, die dunklen fünfziger Jahre erlebten”, schreibt Peter Wensierski in seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik”.
Der Spiegel-Autor hat mit seinem Buch die Intitialzündung geschafft: Endlich ist das Schicksal der ehemaligen Heimkinder Thema. Gemeinsam mit Michael-Peter Schiltsky und weiteren Betroffenen, sie sich aus der Deckung wagen, spricht er offen aus, was lange tabu war: „Wer in die Heime kam, war selten ein Waisenkind oder Krimineller. Es waren meist nichtige Gründe, die zur Einweisung in die Erziehungsanstalten führten - Gründe, die ein gesellschaftliches Kartell bestimmte, zu dem Jugendbehörden, Gerichte, Lehrer, Nachbarn, Eltern und vor allem die damals noch einflussreichen Kirchen gehörten”. In den Heimen wurde geprügelt, mit Lederriemen und Gummischläuchen, zwangsmedikamentiert, gab es sexuellen Missbrauch und Zwangsarbeit, in den Heimen war die Liste der Erniedrigungen, Demütigungen und Verletzungen endlos lang. Das, weiß Schiltsky, lag auch daran, dass die kirchlichen Mitarbeiter für die Arbeit, die sie machen mussten, nicht ausgebildet waren. Pädagogik wurde durch Härte ersetzt. Statt Nächstenliebe gab es Gebete.
Heute versucht Michael-Peter Schiltsky, mit den Heimträgern von damals ins Gespräch zu kommen. Briefe aus Vahlbruch gehen an den Bundestag und den Bundespräsidenten, an die Bundeskanzlerin, die Kirchenleitungen und die Länder. „Wir bitten (…) um eine Erklärung, in der die Ereignisse von damals unmissverständlich als geschehenes Unrecht benannt werden”. Eine unmissverständliche Entschuldigung verlangen die Betroffenen. „Es ist an der Zeit, uns nicht weiter mit unseren Problemen allein zu lassen. Eine große Zahl ehemaliger Heimkinder leidet bis heute unter den Folgen der menschenverachtenden Behandlung, der sie als Kinder und Jugendliche ausgesetzt gewesen waren”, appelliert er an die Oberen in Staat und Kirche.
Schiltsky wird täglich mit den Folgen der Heimzeit konfrontiert. Bei sich selbst - „schlimm sind diese Flashbacks, manchmal nur Kleinigkeiten. Es sind Farben, Bilder, Gerüche, die einen zurückversetzen”, noch heute geht er nicht ins Gasthaus. Das Besteck-Klappern, die Tischreihen… - Und bei den Menschen, die sich an ihn als Leiter Anlaufstelle des Vereins wenden. Langsam, vorsichtig, wagen sie, die nicht einmal ihrem Lebenspartner etwas von ihrem Heimschicksal erzählt haben, sich vor. „Jeden Tag erreichen mich zehn, 20 Mails von Betroffenen. Viele haben niemandem etwas erzählt. Das bedeutet gleichzeitig, dass sie allein sind mit ihrer Geschichte”. Eine Geschichte, die lange niemand hören wollte. „Das Problem ist, wir können alle nicht beweisen, was mit uns passiert ist. Nur durch die Vielzahl der Berichte ergibt sich ein Gesamtbild, das die einzelnen subjektiven Aussagen als Ganzes objektiviert”.
Wenn sie dann ein wenig Vertrauen fassen, bricht ein Damm. Michael-Peter Schiltsky kennt das aus vielen Gesprächen, täglichen Telefonaten: „Wenn es mir gelingt, dass sie am Schluss langsamer atmen, beruhigter sind, habe ich viel erreicht. Es ist ganz wichtig, dass auf der anderen Seite jemand sitzt, der auch betroffen ist. Nur so kann Vertrauen aufgebaut werden”, sagt er von sich und seiner Arbeit in der Anlaufstelle.
Es ist eine Sisyphusarbeit, die Ausdauer verlangt. Doch Schiltsky folgt beharrlich seinem Ziel: Er will einen Weg finden, dass die Betroffenen als Opfer eines unrühmlichen Kapitels der Heimerziehungs-Geschichte anerkannt werden, er will eine Anhörung im Bundestag mit einer „Vorlesestunde” der Betroffenen zu ihren Heim-er-Lebensgeschichten. Und er will, dass im Bundestag eine Ausstellung über die Lebens- und Leidensgeschichte ehemaliger Heimkinder ausgerichtet wird. Schließlich will er ein Eingeständnis der Schuld und die Bitte um Vergebung durch die Verantwortlichen oder deren Rechtsnachfolger. Das wäre, so Schiltsky, „ein hilfreicher Akt, den steinigen Weg der Bewältigung des erlittenen Leides gangbarer zu machen”.
Verein ehemaliger Heimkinder. 37647 Vahlbruch. E-Mail: Anlaufstelle@vehev.org. „Heimseite”: www.vehev.org.
bs

24.03.2006

Grenzland Nachrichten - Erneute Vorwürfe
Donnerstag, 23. März 2006,

von:
THOMAS HOFFMANN

Kategorie: Startseite, Brüggen, Grenzland
Dilborn/Dernbach. Wieder Vorwürfe: Es geht um Gewalt, es geht um ein Kinderheim. Sie richten sich gegen die Armen Dienstmägde Jesu Christi, die bis vor einigen Jahren die Jugendhilfeeinrichtung „Schloss Dilborn“ unter ihrer Obhut hatten. Und die Anschuldigungen sind massiv - nur dem Dernbacher Orden allerdings bis zum Anruf der Grenzland-Nachrichten völlig neu.

„In einer Nacht - es war der Nikolausabend - wurde mir die Nase blutig geschlagen“, erinnert sich Ricardo Bertrams, „an meinem Bett hatte jemand gewartet, der in einem Moment, als ich kurz aufblickte, sofort zuschlug.“ „Und an den Kartoffelsalat“, gibt er an, „erinnere ich mich: Ich konnte ihn nicht essen. Die Schwestern aber zwangen mich, dies zu tun. Das hatte zur Folge, dass ich brechen musste. Daraufhin musste ich das Erbrochene essen.“
Bertrams war in den 60er Jahren als Kind auf Schloss Dilborn. Das dortige Kinderheim war seinerzeit in der Obhut der „Armen Dienstmägde Jesu Christi.“ Von 1961 bis 1978 war Petra Fongern als Kind dort. Sie berichtet wie Bertrams - im gleichen Wortlaut, in identischen Sätzen. Sie fügt hinzu: „Es wurde auch mit Essens- und Nahrungsentzug gearbeitet.“ Christa Boeken, von 1966 bis 1981 Dilbornerin, spricht von Missbrauch, der ihr widerfahren sei.
Auf die Drei verweist Hermine Schneider, die seit Jahren gegen ein Kinderheim in Eschweiler ins Feld zieht. Mit ähnlichen Vorwürfen wie Boeken, Fongern und Bertrams. Auch das Heim war einst in Trägerschaft der Armen Dienstmägde. Vor Gericht allerdings scheiterte die Aachenerin.
Dr. Gernot Fritz ist Anwalt in einer Bonner Kanzlei. Im Auftrag der Schwestern aus Dernbach recherchierte die seinerzeit in Sachen „Eschweiler“. Sprach mit Ehemaligen, sichtete Dokumente. „Wir haben das intensiv, zeitaufwändig und neutral getan“, weiß Fritz: „Aber: Es gab keinen Hinweis, der die Vorwürfe bestätigte.“
Heute ist Peter Döpgen kommissarischer Chef im Schloss. „Die Vorwürfe höre ich zum ersten Mal“, sagt er: „Ich kann dazu nichts sagen. Weder hatte ich, noch der heutige Träger damals hier was zu sagen.“ Auch die „Armen Dienstmägde“ hörten zum ersten Mal durch den GN-Anruf von den neuerlichen Vorwürfen. Deren Provinz-Oberin Schwester Salesiana versichert glaubhaft: „Davon habe ich noch nichts gehört. Die Namen, die Sie nennen, sind mir neu. Bisher hat keiner von ihnen mit mir gesprochen und uns von den Vorwürfen berichtet. Sollte das aber jemand tun, werden wir, so gut wir können, recherchieren. Um herauszufinden, was sich damals zugetragen hat.“

Grenzland Nachrichten - Liebe, Wärme und Geborgenheit
Donnerstag, 23. März 2006, 14:43 Uhr
von:
THOMAS HOFFMANN

Kategorie: Schwalmtal
Waldniel. Die Vorwürfe waren hart. Johann Lambert Beckers wirft auf einer Internet-Seite den Dominikanerinnen von Bethanien vor, seine „Kindheit zerstört zu haben“. Als Kind lebte der Mönchengladbacher im Kinderdorf in Dalheim-Rödgen, das die Schwestern seinerzeit trugen (die Grenzland-Nachrichten berichteten). Die heute in Waldniel lebenden Dominikanerinnen suchen das Gespräch mit dem „Ehemaligen“, versuchen gemeinsam mit ihm die Frage zu beantworten: „Wie kann ihm geholfen werden?“ Aber andere Stimmen werden laut. Stimmen anderer „Bethanien-Ehemaliger“. Und die haben ganz andere Erinnerungen an ihre Kinderdorf-Zeit als Beckers.

Elisabeth Brunen: „Ich kam mit 15 Jahren zu den Dominikanerinnen von Bethanien - so hatten meine Geschwister und ich die Möglichkeit, zusammenzuleben. Und ich bin froh, dass ich da war. Von den Schwestern habe ich immer alle Unterstützungen bekommen, die man im Lauf des Lebens braucht. Ich habe von ihnen soviel Wärme, Liebe und Verständnis bekommen, wie kaum ein anderer Jugendlicher. Also mit den Behauptungen von Beckers Homepage kann ich mich so gar nicht identifizieren.“
 
Gertrud Tariaki: „Liebe, Wärme und Verständnis - das sind die Dinge, die ich im Waldnieler Kinderdorf erfahren habe. Ohne das Dorf der Dominikanerinnen von Bethanien wäre ich nicht das geworden, was ich heute bin. Was ich dort erlebt habe, war einfach super. Anders kann man das nicht beschreiben. Nicht umsonst ist unsere ‘Hocka’ die ‘Oma’ meiner Kinder. Ich würde ohnehin gerne noch soviel Gutes jetzt über die Zeit sagen - das fasse ich jetzt einfach mal mit einem Wort zusammen: Danke!“
 
Gerhard Quantius: „Manch einer, der in einer sogenannten ‘richtigen’ Familie groß geworden ist, wäre dankbar für das, was ich im Bethanien-Dorf erlebt habe. Ich hatte wirklich eine gute Kindheit und eine gute Jugend. Wir bekamen viel geboten und ich bin wirklich dankbar für die Zeit im Bethanien-Dorf.“
 
Warum kann man das, was Johann Lambert Beckers auf seiner Internet-Seite behauptet, nicht so stehen lassen? Es sprechen nun andere ehemalige Bethanien-Kinder.
 
Brigitte Thiel: „Mein Gott, so viele von uns haben im Kinderdorf zum ersten Mal in ihrem Leben erfahren, was Liebe ist, und dann so ein Artikel. Das ist nicht nur ungerecht, das ist eine Schweinerei. Hans Berts Erfahrungen in allen Ehren, für mich spricht er nicht. Ich sehe es als den Glücksfall meines Lebens an, dass ich im Kinderdorf groß werden durfte.“
 
Henriette Wolfshohl: „Ich war gerne im Waldnieler Bethanien-Dorf, ich kam damals mit drei Jahren dorthin. Mir konnte damals nichts besseres passieren. Wenn es uns allen damals dort nicht so gut gegangen wäre, hätten ich, mein Mann und meine Kinder heute etwa noch so regelmäßigen und liebevollen Kontakt zu unserer alten Kinderdorfmutter Schwester Veronika?“
 
Josef Wolfshohl: „Ich kam schon im Alter von fünf Monaten ins Kinderdorf der Dominikanerinnen von Bethanien. Und Erlebnisse, wie Sie Johann Lambert Beckers gemacht hat, habe ich nie gemacht. Im Gegenteil: Wir sind immer liebevoll behandelt worden. Wörtlich ist das zuverstehen: Voller Liebe gingen die Schwestern damals mit uns um. Noch heute kennen mich alle älteren Dominikanerinnen, die noch in Waldniel leben.“

NDR-Fernsehen 20.3.2006 - 22.30 Uhr - Kulturjournal
"Schläge im Namen des Herrn"

Vor drei Jahren erzählte der Kinofilm "Die unbarmherzigen Schwestern" bewegend und eindrucksvoll vom schlimmen Schicksal irischer Mädchen in einem kirchlichen Heim. Und brach damit ein jahrzehntelanges Tabu.
Doch auch in Deutschland gab es in den 50er und 60er Jahren solche Heime - für Mädchen und Jungen.
Prügel an der Tagesordnung
Michael-Peter Schiltsky, ehemaliges Heimkind, erinnert sich an seine Anstalt: "Es war ein Heim, das Selbstversorger war und wo die Kinder jeden Tag arbeiten mussten. Es war ein Heim, in dem geschlagen worden ist, in dem geprügelt worden ist, in dem auch verschiedenste Formen von Demütigungen stattgefunden haben, die einem immer in Erinnerung bleiben."
Endstation Kindheit
Michael-Peter Schiltsky kam 1957 mit neun Jahren in ein Heim. Sein Vater war schwerkrank und die Mutter kam nicht mehr mit dem Jungen zurecht. Letzter Ausweg schien die Einweisung ins Kinderheim.
Michel-Peter Schiltsky: "Du hast irgendwas gemacht, was ganz banal sein konnte. Du bist einfach irgendwo rumgelaufen, an einer Stelle, wo man an dem Tag gerade nicht rumlaufen durfte. Dann hat man eine gescheuert bekommen. Oder man hat eine Kissenschlacht gemacht und dann gab es richtig mit Lederriemen Schläge."
Sadisten trieben ihr Unwesen
Der Peter Wensierski, Journalist für den "Spiegel" hat erstmals die verdrängte Geschichte der Heimkinder für sein Buch "Schläge im Namen des Herrn" recherchiert.
Peter Wensierski, Autor: "Es ist das größte Unrecht, auf das ich da gestoßen bin, das jungen Menschen in Deutschland, in Westdeutschland angetan wurde in den drei Jahrzehnten nach dem Krieg. Dass man sie weggesperrt hat in Heime und dort Menschenrechte verletzt hat, Kinder und Jugendliche allein sich selbst überlassen hat, teilweise sadistischen Erziehern, teilweise einer völlig unkontrollierten sogenannten Erziehung, die sie fürs Leben lang geschädigt hat."
"Widerworte" reichten aus
In rund 3.000 kirchlichen und staatlichen Heimen mit mehr als 200.000 Plätzen wurden in den 50er und 60er Jahren deutsche Kinder und Jugendliche mehr misshandelt als erzogen. Die Gründe für eine Heimeinweisung waren oft nichtig und aus heutiger Sicht geradezu lächerlich: Armut, Denunziation der Nachbarn, Widerworte oder auch ein neuer Stiefvater konnten zur Heimeinweisung führen. Unter den Folgen leiden ehemalige Zöglinge noch heute.
Psychopharmaka waren die Regel
Peter Wensierksi: "Ich bin in den Akten darauf gestoßen, das selbst Psychopharmaka wie Valium den Kindern routinemäßig gegeben wurde, damit die Erzieher ihre Ruhe hatten. Manche bekamen das über Jahre und sind tablettensüchtig geblieben. Dass man diese schrecklichen Erlebnisse versucht zu verdrängen, ist einerseits verständlich, andererseits hat es bei vielen zu psychosomatischen Beschwerden geführt: Depressionen, Panikattacken. Kinder, die mal eingesperrt worden sind in den dunklen Besinnungszimmern, wie es so schön heißt, die leiden oft noch unter Panikattacken."
Vergitterte Einzelhaft zur "Besinnung"
In Besinnungszimmern oder Arrestzellen wie in dieser in der niedersächsischen Diakonie Freistatt - einer evangelischen Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche. Und wer nicht nach Prügel oder Arbeit spurte, landete für einige Tage in der vergitterten Zelle. Das war selbst für neue Erzieher seinerzeit ein Schock.
Dieter Grünenbaum, ehemaliger Erzieher: "Den Jugendlichen muss das Rückgrat gebrochen werden, sie müssen ganz unten sein und werden sie dann ganz unten sind, dann kann man sie langsam wieder aufbauen. Das war ganz grob gesagt, die Devise."
Peter Gossing, ehemaliger Erzieher: "Da gab es keine Theorie, von der man lernen konnte, sondern wir lernten am Objekt. Das heißt, man nahm uns mit, zur Arbeit, zu irgendwelchen Sachen, wo die Jugendlichen waren. Und von da aus sollten wir gucken, wie das gemacht wird."
"Ora et Labora"
"Bete und arbeite" - diese alte Mönchsregel wurde in der niedersächsischen Diakonie Freistatt nahe Diepholz brutal umgesetzt. 14 - 21 jährige Jungs mussten im Moor und in der Landwirtschaft arbeiten - für Gotteslohn.
Bis heute haben sich die Amtskirchen nicht für das Unrecht entschuldigt, von dem ihre einstigen Schützlinge noch immer eingeholt werden.
Vergangenheit ist gegenwärtig
Für den ehemaligen "Heimzögling" Michael-Peter Schiltsky ist die traumatische Erinnerung ständiger Begleiter: "... immer wieder. Und zwar ohne dass man eine Möglichkeit hat, sich davor zu schützen, Situationen gibt's, die einen in die Heimzeit zurückbannen. Durch Gerüche, Bilder, durch verschiedenste Dinge, die einem begegnen. Man sieht einen Film und in dem Film kommt irgendeine Kleinigkeit vor. Man sitzt plötzlich da und merkt, dass einem das Wasser aus dem Gesicht läuft und man weiß nicht warum."

Sonntagsblatt- Bayern - Ausgabe: 12 - vom: 19.03.2006
Schläge im Namen des Herrn?
Innere Mission sucht ehemalige Heimkinder aus den 50er- bis 70er-Jahren

Die Innere Mission München (IMM) sucht ehemalige Heimkinder, die über Umstände und Erziehungsmethoden aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er-Jahre hinein berichten können.

Heimalltag um 1948: Ein Foto aus dem Kinderheim Feldkirchen, das zur Inneren Mission gehört.
Ein Buchautor hatte jüngst schwere Vorwürfe gegen Betreiber kirchlicher Heime erhoben. IM-Geschäftsführer Günther Bauer: »Momentan ist da in der Geschichte ein großer weißer Fleck. Wir wollen herausfinden, ob solche Vorfälle möglicherweise auch in unseren Heimen passiert sind.«
In seinem Mitte Februar erschienenen Buch »Schläge im Namen des Herrn« erhebt der Journalist Peter Wensierski schwere Vorwürfe gegen die Betreiber kirchlicher Kinderheime: In den 50er-, 60er- und 70er-Jahren seien viele Kinder und Jugendliche mit brutalen Erziehungsmethoden systematisch gedemütigt und als billige Arbeitskräfte ausgenutzt worden. Millionen Kinder seien in diesen Jahren schutzlos ihren vermeintlichen Betreuern - Nonnen, Pfarrern und Diakonen - ausgeliefert gewesen.
Bei der Inneren Mission München sind keine Vorfälle dieser Art aus den Heimen in Pasing, Lochhausen (zwischenzeitlich geschlossen) und Feldkirchen bekannt. Die Aufzeichnungen aus dieser Zeit - Jahresberichte der Heimleiter sowie die Personalakten der Kinder - sind aber naturgemäß aus der Sicht der Erwachsenen geschrieben. Gesucht werden deshalb nun Berichte von ehemaligen Heimkindern; ebenso erwünscht sind Bilder aus dieser Zeit.
 Kontakt über die Innere Mission München, Telefon (089) 126991-121. Anfragen werden vertraulich behandelt.
kh

Deutschlandradio Kultur - 14.03.2006

Eine glückliche Kindheit hat so manches Heimkind nicht erlebt. (Bild: dradio.de)
Sadistische Lust
Peter Wensierski: "Schläge im Namen des Herrn"
Rezensiert von Barbara Dobrick
500 Briefe erhielt "Spiegel"-Autor Peter Wensierski, nachdem 2003 sein Artikel über Praktiken in Kinder- und Jugendheimen erschienen war. Die vielen Betroffenen waren nicht nur durch körperliche und seelische Verletzungen gezeichnet, sondern auch durch das Tabu, ihr Leid publik zu machen. Wensierski recherchierte weiter. "Schläge im Namen des Herrn" ist ein wichtiges Buch und eine erste, wenn auch späte Hilfe für die Betroffenen.

"Es bleibt immer das Gefühl, als Mensch nichts wert zu sein. Dieses Gefühl sagt mir immer: Versteck dich, verkriech dich in eine Ecke, wo dich niemand sieht!"

Der Künstler Michael-Peter Schiltsky lebte von 1957 bis 1962 in einem Heim. So wie ihm wurde Hundertausenden Kindern das Gefühl, nichts wert zu sein, eingebläut. Über 3000 Kin-der- und Jugendheime gab es in den 50er und 60er Jahren; ganz überwiegend waren sie in kirchlicher Hand. Bei Diakonissinnen, Nonnen und Priestern herrschte die Vorstellung vor, die Zöglinge durch Züchtigungen und Drill zu gottgefälligen Menschen machen zu können und zu müssen. Selbst wenn man konzediert, dass Schläge auch in vielen Familien in jener Zeit gang und gäbe waren, so ist das, was den Heimzöglingen angetan wurde, entsetzliches Unrecht - auch im strafrechtlichen Sinne.

Kinder kamen damals schnell ins Heim. Oft reichte es, dass tagsüber kein Erwachsener zu Hause sein konnte, denn außerschulische Betreuungsmöglichkeiten gab es praktisch nicht. Und wehe, ein Kind war unehelich. Das allein galt als Verwahrlosungssymptom bei Mutter und Kind.

Viele versuchten zu fliehen, aber bis zur Volljährigkeit mit 21 gab es aus den Heimen nur selten ein Entkommen. Wer dort seit früher Kindheit wohnen musste, wurde gezeichnet fürs ganze Leben.

"Schlimmer als der Schmerz der körperlichen Züchtigungen selbst war ... das ständige Ge-fühl der Angst, die jeden Einzelnen von morgens bis abends begleitete. Dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, der Verlassenheit ... verfolgt sie bis heute."

500 Briefe erhielt der Spiegel-Autor Peter Wensierski, nachdem 2003 sein Artikel über die Jahrzehnte langen Praktiken in Kinder- und Jugendheimen erschienen war. Die Briefflut zeig-te, dass die vielen Betroffenen nicht nur durch körperliche und seelische Verletzungen ge-zeichnet sind, sondern auch durch das Tabu, ihr Leid publik zu machen. Oft haben sie ihre Vergangenheit als Heimkind sogar in der eigenen Familie verschwiegen, denn diese Herkunft war ein Stigma ersten Ranges. Die verantwortlichen Ämter und die Heimbetreiber, allen voran die großen christlichen Kirchen, hatten auch deshalb Erfolg damit, ihre traumatisierende, ihre "Schwarze Pädagogik" zu verschleiern. Nur in seltenen Ausnahmen stellen sich Einzelne ihrer persönlichen Schuld oder der Geschichte ihrer Institutionen.

Das mag auch damit zusammenhängen, dass ein Ende des Schreckens nicht durch eigene Erkenntnis bewirkt wurde, sondern von außen, von den 68ern, von Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und politisierten Studenten, für die die so genannten "Kinderknäste" ein besonders eklatantes Beispiel unhaltbarer gesellschaftlicher Zustände waren. Einige der damals befreiten Heimkinder, Peter-Jürgen Book beispielsweise, wurden später selbst gewalttätige Mitglieder der terroristischen RAF.

Peter Wensierski erzählt am Ende seines Buches auch von diesem Teil der Geschichte. Vor allem aber bündelt er Interviews mit ehemaligen Heimkindern. Es sind Berichte über unglaubliche Brutalität und erschütternde Gefühllosigkeit, über Kinder, die mit sadistischer Lust mit Schläuchen und Knüppeln geschlagen werden, die für Tage allein in Arrestzellen ohne Fenster und Matratzen landen, die gezwungen werden, erbrochenes Essen zu sich zu nehmen, über Kinder, denen jegliche Intimsphäre vorenthalten wird, die nicht mal einen Teddy mit ins Bett nehmen dürfen.

Die Heimkinder mussten lernen, in Reih und Glied zu marschieren und weder beim Essen noch bei der Arbeit zu sprechen. Manche wurden über Jahre mit Psychopharmaka ruhiggestellt. All das geschah, weil jede menschliche Regung als Schwäche oder Sünde galt. All das geschah im Namen des christlichen Gottes. Schwere psychische Erkrankungen waren in vielen Fällen die Folge, nicht nur bei Josef Doll.

"Wenn bei Josef eine, wie er sagt 'christliche Psychose' beginnt, zieht es ihn unweigerlich in eine Münchner Kirche. Dort sitzt er dann so lange in einer Bank, bis die Angst nachlässt. Diese Angst hat mit seiner Kindheit und Jugend zu tun: Josef Doll, Jahrgang 1952, verbrachte die ersten 18 Lebensjahre in katholischen Kinderheimen. Der einzige Ort, wo ihn die Nonnen nicht schlugen, war die Kirche."

Peter Wensierskis wichtiges Buch ist eine erste, wenn auch späte Hilfe für die Betroffenen. Endlich wird ihnen bestätigt, dass sie nicht selbst Schuld hatten, sondern dass ihnen schlimmstes Unrecht angetan wurde. Für alle anderen frischt das Buch die Erinnerung an Zeiten auf, in denen Staat und Kirchen weitgehend übereinstimmten in ihrem Bestreben, Kinder zu entrechten und zu beugen - nicht nur Heimkinder.

Taz - Die Tageszeitung -taz Magazin Nr. 7919 vom 11.3.2006-
Wie die Zucht, so die Frucht -
Nach langen Jahren brechen die Heimkinder der frühen Bundesrepublik ihr Schweigen. Dietmar Krone war eines von ihnen: und dann auch noch schwul
VON MARTIN REICHERT
......
Dietmar Krone ............ möchte erzählen, endlich, solange er noch kann: von der schlimmsten Zeit seines Lebens, als er geschlagen wurde und bespuckt, eingesperrt und zur Zwangsarbeit gezwungen. Von der Zeit, die ihn zu dem gemacht hat, was er jetzt ist. Eigentlich: vom Beginn seines Sterbens. Seit vor wenigen Wochen Peter Wensierskis Buch "Schläge im Namen des Herrn" erschien, in dem der Journalist Bericht ablegt über die unfassbaren Zustände in den Kinderheimen der frühen Bundesrepublik, gleich ob konfessionell oder staatlich, wird endlich thematisiert, was bisher einfach verdrängt wurde: die Menschenrechtsverletzungen in der frühen Bundesrepublik. Wensierskis Buch ist eine Sammlung des Grauens, der Erinnerungen von unzähligen Heimkindern, die an Leib und Seele regelrecht gefoltert worden waren von Erziehern, die ganz selbstverständlich in dem Glauben lebten, mit unerbittlicher Härte das Richtige für ihre Schutzbefohlenen zu tun. Alles im Namen einer schwarzen Straf- und Besserungspädagogik, generiert im 19. Jahrhundert und "verfeinert" durch die Nationalsozialisten. Dietmar Krone kennt das Buch noch nicht, aber er hat seine Erinnerungen selbst mühsam zu Papier gebracht. Sie werden bei Books on Demand erscheinen, er hat dafür bezahlt, 1.000 Euro. Aber dank Wensierski kommt nun endlich jemand von der Zeitung, um auch ihm zuzuhören.

Mit der bestickten Decke hat eigentlich alles angefangen. Sticken, das hatte ihm seine Großmutter beigebracht, damals in Remscheid, Bergisches Land. Fußball spielen hatte ihn nie interessiert. Doch die Großmutter starb früh, und die Mutter, eine ehemalige BDM-Führerin, allein erziehend nach dem Tod des Vaters, hatte außer Prügeln nur einen Kommentar für ihn übrig, als sie ihm "auf die Schliche" gekommen war, dass er Bilder von halb nackten Männern aus dem Versandhauskatalog unter dem Bett versteckt hatte: "So was wie dich hätte man früher in der Latrine ersäuft." Seit knapp acht Wochen ist sie nun tot, sie wollte ihn noch einmal sehen, ihm etwas sagen. "Zu spät", sagt Krone knapp und streicht mit einer harten Bewegung über die Stickrose auf der Tischdecke. Seine Mutter hatte sich immer mehr für Männer interessiert als für ihn, für "richtige Männer".
Mit vierzehn hatte er sich zum ersten Mal verliebt, in einen dreißigjährigen Mann, Richard, sein ein und alles. Um Sexualität sei es ihm eigentlich gar nicht gegangen, eher um Nähe und Wärme, doch in den Köpfen der anderen sah das ganz anders aus: Seine Mutter denunzierte ihn, die Polizei stürmte fünf Mann hoch in Richards Wohnung, um "das schwule Nest auszuheben". Ein Jahr Knast für Richard und "Verwahrung in einer Erziehungsanstalt bis zum 21. Lebensjahr" für Dietmar Krone. Dort angekommen, hatte der Junge tatsächlich seinen "ersten Analverkehr": Der Anstaltsarzt untersuchte mit grobem, behandschuhtem Finger, ob sein Schließmuskel noch intakt war. Homosexualität als Krankheit gedacht, tiefstes 19. Jahrhundert. Dabei schrieb man das Jahr 1968, und der Homo-Paragraf 175, aus der Nazi-Zeit nahtlos übernommen, galt noch immer. Auch wenn sich in Berlin bereits die APO formierte: Peter Wensierskis Buch "Schläge im Namen des Herrn" kann auch als ein im Nachhinein verfasstes Ruhmesblatt der heute gern gescholtenen 68er gelesen werden, und Wensierski formuliert das auch so: Seht her, was wir geleistet haben. Stimmt auch. Nur leider zu spät für Dietmar Krone. Und die Homosexuellen haben sich auch eher selbst befreit, als dass sie von der studentischen, bürgerlichen Jugend befreit worden wären.
Dietmar Krone wurde als nicht strafmündiger Minderjähriger zunächst mit der gleichen Begründung ins Heim eingewiesen wie zahllose Mädchen, die sich das Recht herausgenommen hatten, eine eigenständige Sexualität zu leben - oder auch nur in den Ruf geraten waren: "sittliche Verwahrlosung", ein in der Adenauer-Zeit reetablierter Sittlichkeitsbegriff, der die junge bundesrepublikanische Gesellschaft zum einen von den "moralischen Ausschweifungen" der "gottlosen" NS-Zeit abgrenzen sollte - Sitte und Moral also statt Schuld und Verantwortung - und zum anderen auf Traditionen der Vorkriegszeit verwies. "Schmutz- und Schundkampagnen" zum Schutz der Jugend waren bereits in den Zwanzigerjahren populär, und zwar quer durch alle Milieus, das sozialdemokratische eingeschlossen.
Dietmar Krone stand jedoch, das ist das Besondere, jahrelang einer doppelte Front gegenüber. Der Heimleiter, ein ehemaliger HJ-Führer, stellte ihn den anderen Zöglingen mit den Worten vor: "Das ist ein Homosexueller, also nehmt euch vor ihm in Acht." Die "schwule Sau" - so nannte man ihn fortan öffentlich in den Fluren des Heims - war nun nicht nur den brutalen Methoden ehemaliger Nazi-Pädagogen ausgeliefert, sondern auch den Attacken seiner aufgehetzten Schicksalsgenossen. Er wurde gedemütigt, missbraucht, geschlagen, bespuckt und gequält. Nicht schön, nachts in einem Bett zu schlafen, in das die Mitbewohner aus dem Gruppenschlafsaal vorher gemeinschaftlich uriniert haben. Sexuell konnotierte gewalttätige Jungsrituale, mit deren Hilfe Distanz zu den eigenen juvenil-homoerotischen (Not-)Handlungen hergestellt wurde, auf Kosten des einzigen erkennbar Schwulen. In der Hitlerjugend lief das nicht anders; Männergesellschaften funktionieren so, wenn man ihnen den Riegel vorschiebt und sie von Frauen beziehungsweise Mädchen isoliert: Sie verrohen.
"Dem Schwulen musst du die Würstchen klein schneiden, sonst schiebt er sie sich in den Arsch", hieß es im Speisesaal - an die Sprüche gewöhnt man sich, aber die fortgesetzten Schläge von den Erziehern und Mitzöglingen, die tagelange Einzelhaft im Karzer, das hat Dietmar Krone zugesetzt: "Noch heute zucke ich zusammen, wenn ich ein Schlüsselbund klappern höre." Zur Zwangsarbeit ging es aufs Feld bei den umliegenden Bauernhöfen, für sieben Pfennig die Stunde Kartoffeln ausgraben - mit denen der Bauer gezielt auf das Rückgrat zielte, wenn die Jungen nicht schnell genug arbeiteten. Akkordarbeit für einen namhaften deutschen Rasierapparatehersteller mussten sie leisten, das alles mit kurz geschorenen Haaren und in grauer Heimkleidung.
Ein Verdienst von Peter Wensierskis Buch besteht darin, auch auf dieses Unrecht hinzuweisen: Von einer Entschädigung ganz zu schweigen, wurde diese Zwangsarbeit nicht einmal auf die Rente angerechnet. 230 Euro Rente bezieht der schwer kranke Dietmar Krone heute, den Rest zahlt das Sozialamt.
Eigentlich hat Krone so ziemlich alles am eigenen Leibe erfahren, was Wensierski in seinem Buch zusammengetragen hat, auch seine Geschichte hört sich an wie ein Schauermärchen, fast schon unwirklich. Da gab es den katholischen Priester, der sonntags von der Kanzel aus zu den Zöglingen predigte, dass sie "des Teufels Kinder" seien und der bei der anschließenden Beichte die Soutane hob, um sich oral befriedigen zu lassen. Die Akten aus dem Heim in Süchteln sind angeblich "vernichtet", man bedrohte Krone aufgrund seiner hartnäckigen Nachfragen in Bezug auf den Priester mit dem "langen Arm der Kirche", sodass er sogar Polizeischutz beantragen musste. Wie als Beleg für Wensierskis mahnende Erinnerung an die vielen Suizidopfer unter den Heimzöglingen wirkt das Schicksal von Dietmar Krones einzigem Freund im Heim: Tommy.
Tommy mit dem Transistorradio, mit dessen Hilfe sie zusammen Radio Luxemburg gehört hatten: "Ganz in Weiß" von Roy Black und "All you need is love" von den Beatles. Kurz vor seinem Tod hatte Tommy das Radio an Dietmar verschenkt. "Ich bekomme ja ein neues", hatte er gesagt. Das war gelogen, Tommy der Stotterer, wegen seines Defekts von allen gehänselt und gequält, hatte sich im Waschsaal an einem Heizungsrohr erhängt. "Wissen Sie, wie das aussieht? Ganz blau und geschwollen ragt die Zunge aus dem Hals", erzählt Dietmar Krone, er erzählt das jetzt einfach, damals musste er schweigen, alle haben geschwiegen, als der Leichenwagen kam, und Krone kam direkt danach in die benachbarte Psychiatrie, weil er "durchgedreht" war.

Als er das Bewusstsein wiedererlangte, war er auf einem Bett fixiert, und man injizierte ihm Psychopharmaka. Ein Horrortrip à la "Einer flog über das Kuckucksnest", forensische Abteilung, schließlich galt es, den jungen Homosexuellen zurück in die Bahnen von Recht und Ordnung zu lenken. Ein wahr gewordener Albtraum, der Krone noch heute im Schlaf verfolgt, "diese verzerrten Fratzen, die näher kommen und mich berühren, während ich gefesselt bin". Ein schlechter Film, in dem es auch einen Guten gab, einen Helden. Er hieß Martin und arbeitete als Pfleger. Er hat sich um den verstörten jungen Mann - damals gerade siebzehn - gekümmert. Und sich später bei den offiziellen Stellen darum bemüht, dass Krone nach dem Aufenthalt in der Psychiatrie nicht mehr ins Heim zurückmusste, sondern stattdessen als Arbeitnehmer in das händeringend nach Zuziehenden suchende Berlin gehen durfte - damals bereits eine als akzeptabel geltende Lösung: Alle Verrückten nach Westberlin. Als er im Heim seine Sachen abholte, wurden ihm die Briefe ausgehändigt, die ihm seine große Liebe Richard aus dem Gefängnis geschrieben hatte. Und sämtliche Briefe, die Dietmar Krone an ihn verfasst hatte. Richard hatte sie nie erhalten. BRD, nicht DDR. Erstaunlich, wie halbherzig die Demokratisierung der Bundesrepublik auch noch in den Siebzigerjahren vorangeschritten war: Man hatte die Briefe nicht vernichtet, aber auch nicht versandt.
1973 fängt Dietmar Krone bei Wertheim am Kurfürstendamm als Verkäufer an. Doch immer noch ist kein Happy End in Sicht. Krone ist in seinem Selbstbewusstsein so zerstört, dass er kaum in der Lage ist, mit Kundenverkehr zurechtzukommen. Er fühlt sich bei jeder Kleinigkeit zutiefst beleidigt und gekränkt. "Gay Pride" als Rettung? "Ich habe, ehrlich gesagt, nie den Mut gehabt. Ich würde mich heute noch nicht trauen, mit einem Mann Hand in Hand auf der Straße spazieren zu gehen."
Verstanden hat er das Ganze nicht, bis heute nicht: "Warum das alles eigentlich, ich wollte doch nur Liebe, Wärme, auch Körperwärme". Er hat Lesungen in Schulen veranstaltet, macht Lesestunden bei der Beratungsstelle des schwulen Überfalltelefons "Maneo" in Berlin-Schöneberg, Geld verdienen möchte er damit nicht, "das würde ja sowieso das Sozialamt behalten". Aber es soll nicht alles umsonst gewesen sein. "Wie die Zucht, so die Frucht", dieser Spruch hatte bei seiner Mutter im Wohnzimmer gehangen. Wohl wahr. Dietmar Krone ist ein zerstörter Mensch.
Neulich wurde mal wieder ein Stück Darm rausgeschnitten. Die Narben überall auf dem Körper, die kaputtgeschlagenen Knochen. Wer will denn so etwas hören oder gar lesen. "Sind Sie eigentlich glücklich?", fragt Dietmar Krone und schenkt Kaffee aus der Thermoskanne nach.

Dietmar Krones Buch "Teufels Kinder" erscheint demnächst bei "Books on Demand". Krone schrieb es mit Marco Pulver von der Schwulenberatung Berlin. Peter Wensierskis Buch "Schläge im Namen des Herrn" erscheint im Spiegel-Buchverlag/DVA, 240 Seiten, 19,90 Euro

MARTIN REICHERT, 33, ist Autor für taz zwei und taz.mag. Er lebt in Berlin
taz Magazin Nr. 7919 vom 11.3.2006, 340 Zeilen, MARTIN REICHERT

Pressemitteilung Die Grünen Kreisverband Schwalm Eder
08.03.2006
Gedenkstätte Breitenau: um die Heimerziehung in der Nachkriegszeit erweitern.
Den Opfern jetzt helfen.

Im Februar erschien das Buch „Schläge im Namen des Herren- Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ von dem Spiegel-Autor Peter Wensierski in dem auch das Landesfürsorgeheim in Guxhage -Breitenau im Schwalm-Eder-Kreis in seiner unrühmlichen Nachkriegsgeschichte aufgenommen ist.
Was den mehr als 500.000 Kindern in den 3000 Heimen in Deutschland bis Anfang der 70er Jahre angetan wurde, nennt der Autor das größte Verbrechen der Nachkriegszeit. Noch heute sind viele Menschen davon gezeichnet. Menschen die als Kinder Zwangsarbeit verrichten mussten, denen medizinische Versorgung weitgehend vorenthalten wurden, die erniedrigt und gedemütigt, misshandelt und missbraucht wurden. Geringste Anlässe wurden genutzt, um junge Menschen oft jahrelang einzusperren. Obwohl schwere Menschenrechtsverletzungen in den nach außen abgeschirmten kirchlichen und staatlichen Heimen vorkamen, griff die Heimaufsicht nicht ein, sie hat versagt.
Am 2. März 2006 haben drei Fraktionen im Landeswohlfahrtsverband, darunter Bündnis90/Die Grünen eine Resolution verfasst in der sie sich bei den ehemaligen Heimkindern entschuldigten. Das war ein guter Anfang.
Der Kreisverband Schwalm-Eder unterstützt die Bestrebungen und Forderungen
Die jetzigen Gedenkstätte Breitenau um das Thema Heimkinder in der Nachkriegszeit zu erweitern. Dies insbesondere weil Breitenau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Kontinuität der Gewalt aufweist und das so genannte Mädchenheim noch heute fast unverändert erhalten geblieben ist.
Die Forschung über dieses dunkle Kapitel der Nachkriegszeit aufzubauen und zu finanzieren. Obwohl die Zustände der Heimerziehung 1969 durch Ulrike Meinhof in einer hr-Sendung öffentlich gemacht wurden, ist bis heute keine nennenswerte Forschung darüber erfolgt.
Daneben darf aber nicht die Situation der mehrfach geschädigten Menschen aus dem Blick geraden:
Für Sie muss es eine Entschuldigung aller Heimträger geben, verbunden mit die Errichtung eines Fonds, aus dem den bis heute benachteiligen Menschen in häufigen Notsituationen geholfen werden kann.
Eine Anerkennung ihrer Arbeitszeit bei der Rentenberechnung, ggf. sind die Sozialversicherungsbeiträge von den Trägern nach zu entrichten.
Eine Entschädigung für ihre Arbeitsleistung, für ihre gesundheitlichen Schäden und die verhinderte schulische und berufliche Ausbildung.
Eine finanzielle und organisatorische Unterstützung bei der therapeutischen Betreuung der traumatisierten Menschen. Sicherstellung, dass die Krankenkassen gerade diese akut notwendige therapeutische Unterstützung finanzieren, da durch die Medienveröffentlichung bei vielen Menschen eine Retraumatisierung eingetreten ist. Auch die fachliche Begleitung von Selbshilfegruppen ist finanziell zu sichern.

Kreisverband Schwalm Eder

Wilhelm-Busch-Str. 5
34305 Niedenstein T 0 56 24 / 92 13 12
E gruene-schwalm-eder@web.de Lars Werner
Pressesprecher Kreisverband Schwalm Eder

Die Welt - 7. März 2006 - Ehemalige Heimkinder fordern Wiedergutmachung

Berlin - Ehemalige Heimkinder aus katholischen Einrichtungen haben die Deutsche Bischofskonferenz zur Aufarbeitung der dort bis in die 70er Jahre üblichen Erziehungspraxis aufgefordert. "Geben Sie den ehemaligen Heimkindern ihre Würde zurück!", wandte sich der Verein ehemaliger Heimkinder (Vehev) an den Konferenz-Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann. Die Bischofskonferenz solle dafür Sorge tragen, daß in beteiligten Einrichtungen keine Akten vernichtet würden. Laut einem vor wenigen Wochen erschienenen Buch von "Spiegel"-Autor Peter Wensierski wurden bis Mitte der 60er Jahre hunderttausende Kinder und Jugendliche auch in kirchlichen Heimen schikaniert. KNA

Frankfurter Rundschau 7. März 2006
„Wir wollen nichts beschönigen“

Fälle, wie der Spiegel-Autor Peter Wensierski beschreibt, gab es auch bei der Diakonie, bestätigt deren Präsident

––– Frankfurter Rundschau: Herr Gohde, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie das soeben erschienene Buch, „Schläge im Namen des Herrn“ von Peter Wensierski gelesen haben? Hatten Sie Mitleid mit den Zöglingen in den geschlossenen Kinder und Jugendheimen der 50er und 60er Jahre?

Jürgen Gohde: Ja, natürlich. Ich bedauere sehr, was in der Vergangenheit auch in Heimen der Diakonie Schlimmes geschehen ist. Das Buch bricht Tabu. Es gehört für mich zu den erstaunlichsten Phänomenen, dass das Thema immer mal wieder hochgekommen ist, aber es ist politisch nie systematisch bearbeitet worden.

––– Wie sollte das Geschehen?

Wir müssen uns fragen, wie konnte es damals zu solchen Ausgrenzungen junger Menschen und Übergriffen kommen? Da waren auch Richter beteiligt, Lehrer, Jugendämter, Nachbarn und Eltern. Dahinter steckt ein ganzes Wertgefüge. Die Erzieher beispielsweise waren junge Leute, die aus dem Krieg zurückkamen, häufig ohne gute Ausbildung und viele sicher traumatisiert, was aber niemand interessierte. Sie mussten bis zu 80 Stunden in der Woche arbeiten. Die Pädagogik orientierte sich an Anpassung und Disziplinierung. Es war die Rückkehr in eine wilhelminische Erziehungstradition. Verhaltensweisen Jugendlicher, die wir heute für selbstverständlich hielten, wurden bestraft.

––– Aber was ist mit den Opfern dieser schwarzen Pädagogik?

Das Seltsame ist, dass bei allen Reformen, die wir inzwischen erfolgreich eingeleitet und umgesetzt haben, nie die Frage gestellt worden ist, welche Traumata damals bei den jungen Leuten ausgelöst worden sind. Es ist das Verdienst des Buches, dass es all die Biografien aus der Anonymität herausgeholt hat. Ich wünsche mir, dass wir die Scham überwinden, über die Gewalttraditionen in der Erziehung zu reden. Dafür brauchen wir die Berichte der Opfer und Erzieher.

––– Bleiben wir bei den Opfern. Sie haben häufig auch materielle Einbußen erlitten. Die Jugendlichen mussten hart arbeiten, bekamen jedoch keinen oder kaum Lohn dafür. Rentenanwartschaften haben sie auch nicht erworben. Werden das Diakonische Werk oder die Evangelische Kirche Entschädigungen zahlen?

Das sind Fragen, die man ohne eine systematische Aufarbeitung nicht beantworten kann. Arbeit war ja nicht der Zweck des Aufenthaltes in diesen Heimen. Aber sie war als Mittel zum Zweck gedacht, die jungen Menschen zu einer persönlichen Stärke führen sollte. Das Gegenteil geschah. Außerdem: Es gab nicht geügend Ausbildungsplätze für Jugendliche in den Einrichtungen wie auch außerhalb.

––– Wollen Sie damit sagen, das war eine verkappte Ausbildung?

Nein, nein, ganz im Gegenteil. Es sollte eine Hilfe zur Schaffung einer Tagesstruktur sein – so würden wir das heute nennen. Aber das war es natürlich nicht. Wenn Arbeit der Zweck für den Aufenenthalt in einem Heimen [sic] gewesen wäre, dann müsste man über Entschädigung nachdenken. Das alles muss jetzt sehr sorgfältig untersucht werden.

––– Sorgfalt braucht Zeit, aber die Opfer sind nicht mehr die Jüngsten. Wann wird die Aufarbeitung beginnen?

Wir untersuchen bereits historisches Material. Die Archive sind lange offen. Wir bereiten derzeit eine Tagung zu dem Thema vor, auf der alle Beteiligten zu Wort kommen müssen. Wir bereiten auch eine Studie vor. Die wird unabhängig sein. Wir haben ja schon Erfahrung in der Aufarbeitung der Zwangsarbeit oder mit dem Thema der Jugendlichen bis 1945. Wir wollen nichts beschönigen, verharmlosen oder ungeschehen machen.

––– Das heißt konkret?

Wir als Kirche, als Diakonie können eine Plattform bilden, wo Opfer den Respekt und die Anerkennung wiedergewinnen, die man ihnen so lange vorenthalten hat. Sehr lange wurden ihnen ja ihre Geschichten, die sie erzählen wollten, gar nicht geglaubt. Das ist eine offene Wunde.

––– Wie ist sie zu schliessen?

Indem wir persönliche Begegnungen vor Ort möglich machen. In diesem Rahmen sind auch Entschuldigungen zu sagen und zu hören. Wichtig in diesem Zusammenhang ist mir allerdings zu betonen: Ich habe momentan keinen Anhaltspunkt dafür, dass die jungen Menschen systematisch und auf Weisung der Diakonieleitungen oder der Kirche gequält worden sind.

––– Warum haben die Diakonie und die Kirchen das Tabu nicht selbst gebrochen?

Wir beschäftigen uns schon sehr lange mit den Problemen. Das Thema taucht seit 1960 regelmäßig intern und extern auf. Allerdings waren wir alle konzentriert auf die Reform der Strukturen und Konzepte und offenbar war ja auch das öffentliche Interesse an einer Aufarbeitung nicht recht vorhanden. Es kommt jetzt aber darauf an, diese Scham über das eigene Tun zu überwinden und mit den Opfern und Tätern eine neue Perspektive zu suchen.

Interview: Katharina Sperber

Die Katholische Nachrichten Agentur meldete am 6. März 2006 :

Ehemalige Heimkinder stellen Forderungen an Bischöfe

Berlin (KNA) Ehemalige Heimkinder aus katholischen Einrichtungen haben die Deutsche Bischofskonferenz zur Aufarbeitung der dort bis in die 70er Jahre üblichen Erziehungspraxis aufgefordert. "Geben Sie den ehemaligen Heimkindern ihre Würde zurück!", heisst es in einem am Montag in Berlin veröffentlichten Offenen Brief. Damit wandte sich der 2004 gegründete Verein ehemaliger Heimkinder (Vehev) an den Konferenz-Vorsitzenden Kardinal Karl Lehmann. Es gehe um eine "längst fällige" Auf- arbeitung unter Einbeziehung der Betroffenen.

Die Bischofskonferenz solle dafür Sorge tragen, dass in beteiligten Einrichtungen keine Akten vernichtet würden. Der Verein fordert zudem, dass Betroffenen auf Anfrage freie Einsicht in ihre Akten gewährt werde. Zudem sollten die Einrichtungen, in denen Jugendliche erzwungene unbezahlte Arbeit hätten leisten müssen, dies entsprechend bescheinigen. Solche Arbeit wäre nach heutiger Sichtweise sozialversicherungs- pflichtig gewesen. Mit einer Bescheinigung könnten ehemalige Heimkinder die Korrektur des Versicherungsverlaufes bei den zuständigen staatlichen Stellen beantragen.

Engagement der Caritas

Laut einem vor wenigen Wochen erschienenen Buch von "Spiegel"-Autor Peter Wensierski wurden bis Mitte der 60er Jahre hunderttausende Kinder und Jugendliche auch in kirchlichen Heimen schikaniert. Ältere Jugendliche hätten für minimale Löhne arbeiten müssen und seien nicht sozialversichert gewesen, heisstes in der Veröffentlichung "Schläge im Namen des Herrn". Daraufhin hatte der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Peter Neher, Unterstützung für ehemalige Heimkinder bei der Aufarbeitung angekündigt. Es sollten auch alle Möglichkeiten erkundet werden, nachgewiesene Arbeitszeiten bei der Berechnung der Renten- ansprüche zu berücksichtigen. Der Verein der Heimkinder verweist in seinem Schreiben an die Bischöfe nun auf die Ankündigung des Prälaten.
- - -
Offener Brief an die Deutsche Bischofskonferenz am 6. März 2006

Appell des Vereins ehemaliger Heimkinder e. V. an die Deutsche Bischofs- konferenz

Sehr geehrte Bischöfe,

in einem Resolutionsantrag des Landeswohlfahrtsverband Hessen heisst es u. a.: "Der Landeswohlfahrtsverband Hessen erkennt an, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die ... aus heutiger Sicht erschütternd ist.
Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche auch in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren.
Der Landeswohlfahrtsverband spricht sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei denjenigen ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben. Der LWV wird sich weiterhin offensiv mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit auseinandersetzen und sich den Fragen und Unterstützungs- ersuchen ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner stellen sowie die in seinen Möglichkeiten liegende Unterstützung leisten."

Der Verein ehemaliger Heimkinder e. V. bittet die Deutsche Bischofskonferenz, auch Bezug nehmend auf das vorangegangene Schreiben an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz Karl Kardinal Lehmann, eine entsprechende Erklärung abzugeben, die Heime betreffend, die dem damaligen Verantwortungsbereich der katholischen Kirche und ihrer Unterorganisationen zuzuordnen sind.

Tragen Sie Sorge dafür, dass keine Akten mehr vernichtet werden und den Betroffenen auf Anfrage freie Einsicht in Ihre Akten gewährt wird.

Fordern Sie die Einrichtungen, in welchen Jugendliche erzwungene, unbezahlte Arbeit haben leisten müssen, die nach heutiger Sichtweise sozialversicherungspflichtig gewesen wäre auf, Bescheinigungen auszustellen, in welchen dieser Tatbestand benannt wird. Damit geben Sie den Betroffenen eine Möglichkeit, die Korrektur des Versicherungsverlaufes bei LVA oder BfA beantragen zu können. (Seitens der Caritas Deutschland ist eine entsprechende Empfehlung bereits durch Monsignore Dr. Peter Neher ausgesprochen worden.)

Finden Sie eine Lösung für das Problem, wie mit der Tatache umzugehen ist, dass Kinder (bis 14 Jahre) zu täglicher, mehrstündiger Kinderarbeit gezwungen wurden. (Gemeint ist Arbeit, die von korrekt bezahlten Arbeitskräften hätte geleistet werden müssen, wäre sie nicht von den Kindern ausgeführt worden.) Kinderarbeit war auch nach damaliger Rechtsordnung verboten!

Kinder und Jugendliche, welche in den 50er-70er Jahren der Fürsorge von Staat und Kirche unterstellt wurden, fanden nicht die Barmherzigkeit des Samariters, von dem Benedikt XVI in seiner Enzyklika DEUS CARITAS EST unter Punkt 25 spricht, sondern viel zu häufig Missachtung und Misshandlung.

Die Universalität der Liebe, der Dienst der Liebe wurde ihnen nicht zu Teil. In vielen Fällen wurden sie so behandelt, wie es Karl Kardinal Lehmann in seinen Ausführungen im SWR vom 9. März 2003 zum Thema „Folter und Menschenwürde“ benannt hat: Ihnen wurden vorsätzlich grosse körperliche und seelische Schmerzen zugefügt. Ihnen widerfuhr unsägliches Leid. Ihnen wurde ihre Würde genommen!

Die Fähigkeit zur Vergebung ist, abgesehen davon, dass ihr im Christentum ein hoher Wert zugemessen wird, ein wesentlicher Schritt auf dem Weg, das Leid, dass einem Menschen zugefügt wurde, in sich zu lindern, es gar zu überwinden, denn Vergebung befreit und öffnet neue Horizonte. Doch es bedarf schon der Kraft eines Heiligen, vergeben zu können, ohne die Reue oder die Einsicht des ehemaligen Peinigers in sein schuldhaftes Verhalten vermittelt zu bekommen. Da Heimkinder in diesem Sinne aber nur fehlbare Menschen und somit gewiss keine Heiligen sind, wäre das Eingeständnis der Schuld und die Bitte um Vergebung durch die Verantwortlichen beziehungsweise deren Rechtsnachfolger ein hilfreicher Akt, den steinigen Weg der Bewältigung des erlittenen Leides gangbarer zu machen.

Eine Erklärung von höchster Stelle tut Not, damit die in der kirchlichen Hirarchie weiter unten angesiedelten Institutionten und Personen - zum Beispiel die Orden - erkennen können, dass es auch für Sie, als direkt Beteiligte an den damaligen Ereignissen, an der Zeit ist, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Von dort kommt bisher, von rühmlichen Einzelfällen abgesehen, die Aussage: „Das können wir nicht entscheiden, das muss an höherer Stelle entschieden werden.“
In diesem Sinne fordert der Verein ehemaliger Heimkinder e.V. die Deutsche Bischofskonferenz auf: Folgen Sie im Verlauf Ihrer Frühjahrskonferenz 2006 dem Beispiel des LWV Hessen, helfen Sie den ehemaligen Heimkindern bei ihrer Suche, einen Weg zu finden, vergeben zu können und sich von dem, nach wie vor auf ihnen lastenden Leidensdruck und dem weiterhin andauernden Stigma „Verwahrlost“ und „Heimkind“ zu sein, zu befreien!

Geben Sie den ehemaligen Heimkindern ihre Würde zurück!

Setzen Sie sich sodann mit uns und den anderen Verantwortlichen in Staat und Bruderkirche an den „Runden Tisch“, damit wir miteinander einen Weg finden können, den Betroffenen, bei der Bewältigung ihrer Traumata und ihrer Alltagsprobleme zu helfen und die längst fällige Wissenschaftliche Aufarbeitung unter Einbeziehung der Betroffenen zu ermöglichen. Fordern Sie mit uns und fördern Sie für uns die Einrichtung einer entsprechenden bundesweiten Stiftung.

Mit freundlichem Gruss
und besten Wünschen zur Arbeit

Michael-Peter Schiltsky

Im Auftrag des Vorstandes

Kobinet - 03.03.2006 - Unrecht an Heimkindern soll Thema werden.k@Kobinet - 03.03.2006 - Unrecht an Heimkindern soll Thema werden.

Kassel (kobinet) Anlässlich der Enthüllungen über die Misshandlungen von Heimkindern, die aktuell in dem Buch "Schläge im Namen des Herrn" von Peter Wensierski aufgedeckt wurden, bekennen sich die LWV-Fraktionen von CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP zu der Verantwortung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen (LWV), der in dieser Zeit unter anderem Heime in Biedenkopf, Wabern, Guxhagen und Idstein betrieben hat.

In einem jetzt eingebrachten Resolutionsantrag der drei Fraktionen in die Verbandsversammlung des LWV heißt es: "Der Landeswohlfahrtsverband Hessen erkennt an, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die den damaligen gesellschaftlichen Werte- und Rechtsvorstellungen entsprochen hat, die aber aus heutiger Sicht erschütternd ist. Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche auch in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren. Der Landeswohlfahrtsverband spricht sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei denjenigen ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern, die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben. Der Landeswohlfahrtsverband Hessen wird sich weiterhin offensiv mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit auseinandersetzen und sich den Fragen und Unterstützungsersuchen ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner stellen sowie die in seinen Möglichkeiten liegende Unterstützung leisten."

Die Fraktionsvorsitzenden Fritz Kramer (CDU), Holger Heupel (Grüne) und Ferdinand Walther (FDP) gehen davon aus, dass dieser Antrag in der nächsten Sitzung der Verbandsversammlung einstimmig verabschiedet wird.

Heute Abend findet im Kasseler Haus der Jugend eine Lesung mit anschließender Diskussion mit dem Autor des Buches "Schläge im Namen des Herrn", Peter Wensierski, statt. omp 

Leserbriefe zu diesem Artikel:.
Heinz A. schrieb am 06.03.2006, 21:20 :
Lächerliche
Entsprach die Aussetzung von körperlicher und psychischer Gewalt tatsächlich den moralischen und rechtlichen (kirchlichen) Vorstellungen dieser Zeit? Für mich persönlichen als Betroffener war diese Praxis schon damals als erschütternd und menschenrechtsverletzend erkennbar. Existierte denn damals nicht schon das Grundgesetz mit seiner Froderung nach Achtung der Menschenwürde und das Gebot christl Nächstenliebe?
Hans Dr. Fiedler schrieb am 08.03.2006, 11:15 :
Populismus
Anlässlich einer Besprechnung des Buches in unserer Heimatzeitung habe ich nachstehenden Brief geschrieben:

Sehr verehrte Frau Wörmann.

Sie haben das Buch von Peter Wensierski: „Schläge im Namen des Herrn“ in ihrem Artikel kommentiert und somit auch die damaligen Zustände in den Fürsorgeerziehungheimen – mit allen Auswüchsen – wiedergegeben.

Was mich bei Wensierski stört, ist die Tatsache, dass er allein die konfessionellen Heime für die Zustände verantwortlich macht.
Diese Feststellung ist unrichtig, denn es gab und gibt auch staatliche Heime, die in der damaligen Zeit unter gleichen Bedingungen arbeiten mussten, Fehler machten und es gab immer eine Heimaufsicht als staatliche Kontrolle.
Davon ist keine Rede in seinem Buch. Auch werden die „Werkhöfe“ der damaligen DDR, in denen noch bis 1990 schlimme Zustände herrschten, nicht erwähnt.

Als intimer Kenner der Heimerziehung vermisse ich ebenfalls die Schilderung der damaligen Situation.
Es gab keine ausgebildeten Erzieher oder Sozialpädagogen, es gab einen staatlichen Pflegesatz den man heute unter dem Existenzminimum bezeichnen würde.
Ebenso wird die Nachkriegssituation mit Zwang als Erziehungsmittel – obwohl seit ca. 1850 praktiziert – nur dem damaligen, hilflosen Personal angelastet.
Es fehlen z.B. Hinweise auf die Pflicht der Jugendämter, wissenschaftliche Untersuchungen von den ansässigen Psychiatern durchführen zu lassen, die in der Regel negative Attribute, bis zum „Psychopaten oder unwertes Leben“ als Ergebnis hatten.
Wie sollten Ordensfrauen oder Kriegsteilnehmer, die als Erzieher eine Anstellung fanden, ein positives Menschenbild entwickeln.
Hinzu kommt natürlich noch der von Priestern vorgebrachte Hinweis, auf die Erbsünde, die im Menschen „gebrochen“ werden muss, um Christ zu werden.

Wensierski macht es sich einfach, wenn er Negativbeispiele, die der Wahrheit entsprechen, aneinandereiht. (Ich habe Dutzende Beispiele der damaligen Fehlentwicklung öffentlich dokumentiert)
Bei diesen Anschuldigungen und dem Leid, das vielen Kindern zugefügt wurde, dürfen wir jedoch nicht die vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den damaligen Heimen vergessen, die aus einem tiefen Mitgefühl geholfen haben das Elend der Kinder in der Nachkriegszeit zu lindern.

Herr Wensierski scheint sich auf die kirchlichen Einrichtungen und deren Vertreter „eingeschossen“ zu haben. (Buch über Priesterkinder) Es ist sicher unsere Pflicht Missstände sichtbar zu machen, dabei darf man jedoch nicht die Objektivität verlieren und persönliche Aversionen sichtbar machen.

Auch stimmt der Hinweis auf die RAF nicht, die durch Heimkampagnen für Änderungen gesorgt hat. Es gab damals eine große Bewegung von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern der „ersten Stunde“, die besonders in der Heimarbeit Perspektiven erarbeitet und gesetzliche Änderungen erwirkt haben. Ich selbst habe z.B. Fr. Meinhof im Beirat des AFET (Allgemeiner Fürsorgeerziehungstag) erlebt, die keinen konstruktiven B
Hans Dieter L schrieb am 09.03.2006, 15:46 :
Unrecht an Heimkindern
Ich bin eine Betroffener der damaligen Heimerziehung .War auch von 1957 bis 1974 in konfessionelle Heime. Das Buch,"Schläge im Namen des Herren" von Peter Wensierski,trifft den Nagel auf dem Kopf. Wir waren ja schon als Erbsünde an gesehen ,nur weil wir keine Eltern mehr hatten.
Nächstenliebe habe ich nicht erfahren aber dafür tägliche schwere Misshandlungen die heute sogar als Folter bewertet würden, ausgesetzt war.
Wer diese Kindheit nicht so erlebt hat , der sollte sich am besten überhaupt nicht da zu äußern. Ich leide noch heute an den Folgen und kann nur jedem sagen:"Seid froh nicht hinter diesen Mauern 20 Jahre eingesperrt und dem "UN"gebildetem Personal hilflos ausgeliefert gewesen zu sein!" Die Wechsel in andere Heime hatte System, bis hin zur Versklavung.
Mir fehlen 6 Jahre in meinem Rentenbescheid von 1967 bis 1974.
Hans Dieter
Heinz A. schrieb am 12.03.2006, 11:34 :
Antwort auf den Brief von Dr. Fiedler

Dass Wensierski primär die entsetzlichen Zustände in den kirchlichen Heimen thematisiert, liegt natürlich daran, dass die meisten damaligen Erziehungsanstalten unter kirchlicher Verantwortung geleitet wurden. Man muss auch nicht ausgebildeter Pädagoge sein, um Kindsmisshandlungen (die Sie als "Fehler" bezeichnen) zu ächten, damals wie heute. Ebenso wenig ist die Beachtung der Menschenwürde eine finanzielle Frage, wie Sie indirekt unterstellen. Armut verdient aus weltlicher wie kirchlicher Sicht keine Schläge sondern Unterstützung, Dass die Jugendämter genau wie die von Ihnen gelobte staatliche Heimaufsicht als staatliche Kontrolle versagte, ist offenkundig. Den betroffenen Priester und Nonnen wünsche ich, erst ihre eigene Erbsünde brechen, um gute Christen zu werden - hierauf fehlt auch bei Ihnen ein entsprechender Hinweis.
Gertrud Zovkic schrieb am 30.03.2006, 19:38 :
Unrecht an Heimkindern
Grundsätzlich ist zu begrüßen, dass der LWV-Hessen sich bei den ehemaligen Heimkindern entschuldigt. Die Behauptung, dass die
Gertrud Zovkic schrieb am 30.03.2006, 20:06 :
Unrecht an Heimkindern soll Thema werden
Grundsätzlich ist zu begrüßen. dass der LWV- Hessen sich bei den ehemaligen Heimkindern für das zugefügte Unrecht entschuldigt.
Die Entschuldigung ist jedoch halbherzig, denn die Behauptung, dass die damals angewandten Erziehungsmethoden den gesellschaftlichen Werte-und Rechtsvorstellungen entsprochen haben, stimmt nicht, denn es gab das Grundgesetz und sowohl die Prügelstrafe wie auch die Anwendung körperlicher Gewalt in der öffentlichen Erziehung waren verboten. Ich habe als Psychologin und Kindertherapeutin von 1966 bis 1970 im Heilerziehungsheim Kalmenhof in Idstein gearbeitet und in dieser Zeit permanent für die Rechte der Kinder gekämpft und das Unrecht wie auch die Mißstände angeprangert. Weil man nicht bereit war die Mißstände zu beheben, betrachtete man mich als "Sand im Getriebe" und wurde wegen" Störung des Betriebsfrieden"entlassen.

Gertrud Zovkic
Diplom Psychologin
Heinz Peter Junge schrieb am 04.04.2006, 16:59 :
H.P.Junge
Wie ich dem Artikel von omp entnehme, soll am 5.4.06 über die Resolution abgestimmt werden. Das was hier als Resolution vor lieg ist doch eine Verhöhnung der ehemahligen Insassen der Heime. Für mich als betroffener, der schwere Prügel bekommen hat und Gedehmüdigt wurde eine Beleitigung, auch den anderen gegenüber die leiden mussten.

Da heißt es, "Der Landeswohlfahrtsverband Hessen erkennt an, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die den damaligen gesellschaftlichen Werte- und Rechtsvorstellungen entsprochen hat, die aber aus heutiger Sicht erschütternd ist.

Hat man gar vergessen das es schon ab 1949 Menschenrechte gab, und Kinderarbeit verboten war, sowie auch Schläge, misshandlungen und missbrauch an Kinder und Jugendlichen.

Die Zeit in dem Erziehungsheim war für das schlimmste was was erlebt habe, und was mein halbes Leben zerstört hat. Diese aussage in der Resolution empfinde ich als eine Beleitigung.

Ich sehe dies verhältnis, was bisher ein gutes war, als gefährtet an. Man sieht wider mal wie weit weg die Politik von der wirklichkeit ist, und noch immer nicht begriffen hat was wir ehemaligen empfinden.
H.P.Junge
Inge Grimmig schrieb am 19.04.2006, 13:46 :
Staatliche Heime
Was mich bei der ganzen, durchaus wichtigen und längst nötigen Veröffentlichung stört ist die Tatsache, dass nur von kirchlichen Heimen berichtet wird. Ich war sehr lange in unterschiedlichen staatlichen Heimen, von 1961 - 1974. 1961 wurde ich vor meinem Elterhaus in Braunschweig von Mitarbeitern des Jugendamtes "eingeladen" und in ein Kinderheim nach Frankenberg/Eder gebracht. Meine erste Erinnerung: Ich wachte in einem fremden Bett auf, hatte eingenässt und eine fremde Frau verprügelt mich daraufhin mit einem Handfeger. Danach musste ich das Bett neu beziehen und die Wäsche waschen. Ich war vier Jahre alt! Ich bekam Prügel, weil ich "unachtsamerweise" in einen Teich fiel, hier sollte ein durchnässtes und verängstigtes Kind doch eher getröstet werden? Waren diese Methoden früher rechtens? Wenn meine Schwester Prügel bezog, machte sie sich vor Angst oft in die Hose mit dem Ergebnis, dass sie vorher zur Toilette geschickt wurde. Sie wusste also dass sie Schläge bekam, wenn eine Erzieherin sie zur Toilette schickte. Ich könnte Romane über meine Erlebnisse in staatlichen Heimen schreiben. Ich wurde zuletzt in ein Heim für schwer erziehbare Mädchen in osnabrück eingelifert, weil mein Stiefvater übergriffig wurde und ich darüber redete, man mir jedoch nicht glaubte. Die damalige gängige Praxis. (1972) Warum gilt die Aufmerksamkeit nur den kirchlichen Einrichtungen????

Neuss-Grevenbroicher Zeitung 28. 02. 2006

Heimkinder klagen an

Von Petra Schiffer

Ehemalige Bewohner des Raphaelshauses erheben schwere Vorwürfe . Sie kritisieren die Erziehungsmethoden in den fünfziger und sechziger Jahren und verlangen eine Entschuldiung.
Noch heute fällt es Günter Danek schwer, in der Kapelle des Dormagener Raphaelshauses zu beten. „Zu viele negative Erinnerungen“, sagt er. Als Zwölfjähriger kam er 1958 in das Heim - und erhebt heute schwere Vorwürfe, klagt die damaligen Erziehungsmethoden an. Vor wenigen Wochen erschien das Buch „Schläge im Namen des Herrn“, in dem Autor Peter Wensierksi zahlreiche Beispiele von Kindern zusammen getragen hat, die bis in die siebziger Jahre in Heimen in kirchlicher Trägerschaft gelitten haben. Es hat eine bundesweite Debatte ausgelöst, der sich das Raphaelshaus stellen will.

INFO
Verdrängte Geschichte
Der Autor des Buches „Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik “, Peter Wensierski, ist Journalist und arbeitet im Deutschland-Ressort des Nachrichtenmagazins „Spiegel“.
„Wir bemühen uns um einen guten Kontakt zu ehemaligen Bewohnern unseres Hauses, wollen über die Zeit von damals sprechen und zeigen, wie Jugendhilfe heute aussieht“, sagt Leiter Hans Scholten. Mit der Schande der „Kapitänsparade“ habe er jahrelang zu kämpfen gehabt, berichtet Danek: Bettnässer hätten Ende der fünfziger Jahre im Raphaelshaus ihr Betttuch am nächsten Morgen um den Hals wickeln und es quer durch das Haus durch den Mädchentrakt in die Waschküche bringen müssen. „Das war entwürdigend“, erklärt der Sozialpädagoge, der in einem Gefängnis arbeitet. Aus gutem Grund: Nach zahlreichen Heimaufenthalten war er als junger Mann selbst auf die schiefe Bahn geraten, 1969 zu einer Haftstrafe verurteilt worden.
Danach begann er, sich mit seinen Fehlern, seinem Leben und seiner Kindheit auseinander zu setzen. „Das war eine Erziehung zu Gewalt, Rücksichtslosigkeit und Kriminalität“, sagt er heute. - Harte Worte, die Herbert Kuth für das Raphaelshaus in dieser Deutlichkeit nicht unterschreiben würde. „In diesem Heim habe ich mich noch am wohlsten gefühlt“, sagt er. Anfang der sechziger Jahre wohnte er als Neunjähriger drei Jahre in Dormagen, kehrte später zurück, um dort eine Ausbildung als Melker zu machen. Doch auch er durchlief mehrere Heimstationen - und manches Erlebnis lässt ihm noch heute die Tränen in die Augen schießen, wenn er erzählt.
Beispielsweise die Geschichte, wie es zu dem Vermerk „Tierquäler“ kam, der bis heute in seiner Akte steht: Der Neunjährige sollte sich in einem Neusser Heim um eine Schildkröte kümmern, und Kuth baute ihr aus Ziegelsteinen ein Haus, damit sie sich wohl fühlt. Doch dieser Bau stürzte ein, das Tier starb. „Ich war tieftraurig, aber keiner wollte meine Version der Geschichte hören, es wurde einfach behauptet, ich hätte die Schildkröte zu Tode gequält“, berichtet er. Dass die Meinung von Kindern nicht gefragt war, bestätigt auch Hildegard Weissenberg. Mit vier Jahren kam sie gemeinsam mit ihrer Schwester in eine Pflegefamilie, die vom Raphaelshaus aus betreut wurde.
Besonders gut seien sie nicht behandelt worden, Prügel hätte es fast täglich gegeben. „Das wollte aber niemand wissen“, sagt sie. „Die Pflegeeltern wurden gefragt, wie wir uns benehmen, keiner hat uns gefragt, wie wir uns fühlen.“ Scholten will die Erziehungsmethoden nicht entschuldigen, aber er sucht Erklärungsversuche und mahnt, mit dem Thema differenziert umzugehen. „Natürlich gab es verbiesterte, ungerechte Nonnen, aber es gab auch fürsorgliche Betreuerinnen, die das Beste für die Kinder wollten“, betont er. Viele seien überfordert gewesen, hätten Tag und Nacht in den Gruppen gelebt, ohne jeden Ausgleich. „Wo früher 30 Betten standen, werden heute zehn Kinder von genauso vielen Pädagogen betreut“, sagt Scholten.
Bei nicht wenigen Betreuerinnen, die oft schlecht ausgebildet gewesen seien, hätten bis in die fünfziger Jahre hinein außerdem „Erziehungsideale“ der dreißiger Jahre überlebt. Danek ist froh, dass es jetzt eine öffentliche Auseinandersetzung gibt. „Früher wurden Heimkinder, die Kritik äußerten, als Lügner dargestellt“, erklärt er. „Jetzt besteht die Chance, dass sie rehabilitiert werden und Vertrauen zurückgewinnen, wenn die Verantwortlichen ganz offen zugeben: Ja, so war es, da haben wir Schaden angerichtet.“ Noch mehr fordert er jedoch, aus den Fehlern von damals zu lernen. „Wenn ich in aktuellen Diskussionen höre, dass problematische Jugendliche in der Jugendhilfe wieder härter angepackt und mehr bestraft werden sollten, wird mit angst und bange“, sagt er. Interview Es hat Unrecht Gegeben Zur Sache Recht auf Fragen
© ngz-online,

Die Welt - 27. Februar 2006

"...solche Quälereien in vielen Heimen eher Regel als Ausnahme waren"

Unbarmherzige Schwestern

Bis in die siebziger Jahre wurden in bundesdeutschen Heimen Kinder mißhandelt und ausgebeutet. Viele Opfer schweigen bis heute aus Scham
von Ulrich Baron
Wenn der Insasse K71 des Idsteiner Kalmenhofs den Befehl "Lappen, Eimer, Schrubber! Mitkommen!" hörte, wußte er, daß wieder Blut geflossen war: "Manchmal mußte er eine Bürste mitnehmen. Wenn die Wände oder Möbel blutverschmiert waren, weil die Kinder mit dem Kopf dagegen geflogen waren." Im "Katakombenkeller" entdeckte er ein Mädchen, das mit dem Hals in einer Schlaufe an eine Wand gebunden war. Die Hände hatte man ihr auf den Rücken gefesselt. K71 war damals gerade elf Jahre alt und hieß eigentlich Volker. Erst zehn war sein Schicksalsgenosse Michael, der eines Nachts seinen Teddy, das einzige, was ihn an sein Zuhause erinnerte, zerstückelt auf seinem Bett vorfand.

Schon bei den geringsten Verfehlungen wie unerlaubtem Sprechen, Weinen oder Erbrechen "hagelte es Schläge oder andere Strafen. Geprügelt wurde mit allem, was zur Hand war - mit Teppichklopfern oder Besenstielen. Zwischendurch gab es Boxhiebe in Rücken und Körper." Eine Neunjährige mußte sich nachts im Garten ein Grab schaufeln.

All dies geschah nicht in den Folterlagern eines totalitären Systems. Es sind Erlebnisberichte aus der bundesdeutschen Heimerziehung, die der "Spiegel"-Redakteur Peter Wensierski zusammengetragen hat, Stimmen aus einem Paralleluniversum konfessioneller und staatlicher Anstalten, von denen es in den 1960er Jahren rund 3000 mit über 200 000 Plätzen gab. Deren Insassen waren keine Verbrecher. Sie hatten nur das Pech, ihre Eltern verloren oder von ihnen verlassen worden zu sein; oder sie waren "auffällig" geworden: "Umhertreiben", "Verlogenheit", "aggressive Auffälligkeit", "Leistungsschwäche", "Arbeitsbummelei" oder "Kinderfehler" wie Bettnässen oder Stottern, Naschsucht oder Nägelkauen genügten, um die Jugendämter auf den Plan zu rufen. Viele wissen bis heute nicht, warum man sie ins Heim brachte. Als Kinder fühlten sie sich mitschuldig. Den Erwachsenen könnte die Einsicht in ihre Akten zumindest erklären, was damals mit ihnen geschah. Manchen mag es ein später Trost sein, daß ihre Eltern, anders als man ihnen eingeredet hatte, sich doch um sie bemüht haben.

Jugendämter und Vormundschaftsgerichte entschieden oft nach Aktenlage, ohne die Kinder anzusehen: "Oft habe ich den Antrag auf Fürsorgeerziehung morgens zum Gericht gebracht und konnte gleich warten, bis ich den Beschluß in der Tasche hatte", berichtet ein Mitarbeiter des Paderborner Jugendamtes: "Am frühen Nachmittag wurden die Kinder schon abgeholt." Man holte sie ohne Vorwarnung manchmal direkt vom Spielplatz. "Du kriegst auf der Fahrt ein Eis" oder "es wird dir im Heim gut gefallen" waren übliche Versprechungen.

Vom Rock'n'Roll, von engen Hosen und vom Sozius eines Motorrads bis zur "sittlichen Verwahrlosung", die eine Einweisung rechtfertigte, war es damals nicht weit. Das mußte die 1945 geborene Gisela Nurthen feststellen. 1961 landete sie bei den Nonnen im Dortmunder Vincenzheim. Noch heute hat sie das Schreckensregiment der "Barmherzigen Schwestern" nicht verwunden, die ständige Überwachung, die Verletzung aller Schamgrenzen, die Isolierhaft in der "Klabause", die sie für das Singen eines Elvis-Songs bekommen hatte. Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter hatte sie das Gymnasium besucht; nach Meinung der Nonnen reichte auch ein Volksschulabschluß. Mit den anderen Mädchen mußte sie in der heimeigenen Großwäscherei schuften. Um Gotteslohn und ohne, daß jemals Sozialbeiträge entrichtet worden wären. "Wir waren jugendliche Zwangsarbeiter", sagt sie heute. Das nahende Rentenalter läßt bei vielen ihrer Schicksalsgenossinnen und Genossen bittere Erinnerungen an diese verlorenen Jahre hochkommen.
Störende Zöglinge wurden mit Valium und anderen Beruhigungsmitteln stillgestellt. Er habe solche Vorwürfe zunächst nicht glauben wollen, sagt Wensierski, bis er in den Akten auf die Bestätigung gestoßen sei. Viele Heiminsassen leiden noch heute an Spätfolgen ihrer traumatischen Erlebnisse: Angst, Panikattacken, chronische Schmerzen in Kopf, Rücken und Nerven, Tabletten- oder Alkoholabhängigkeit, Eßstörungen, Aggressionen gegen sich und andere. Suizidgedanken.

Wie konnte es angehen, daß solche Quälereien in vielen Heimen eher Regel als Ausnahme waren - und das unter Aufsicht von Jugendämtern und kirchlichen Trägern? Viele müssen der fatalen Maxime gefolgt sein, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg setzte man auf alte Autoritäten und auf teilweise schon zu NS-Zeiten tätige Anstalten. Kinder, erst recht uneheliche, hatten nichts zu melden. 1959 beschäftigte allein die katholische Kirche in 1500 Heimen 11 261 Ordensfrauen und 11 127 Laien, die "aus innerster Berufung und mit der ganzen seelischen Hingabe der erziehungsbedürftigen Jugend dienen wollen". Was das oft hieß, hatte Jahrzehnte zuvor die Festschrift "Hundert Jahre Fürsorge an der katholischen weiblichen Jugend - 1829-1929" beschrieben: "Gleich wilden Tieren, die bis jetzt noch zurückgehalten wurden und im Stillen groß geworden, suchen sich die sich entwickelnden Leidenschaften, Folgen der Erbsünde, Bahn zu brechen."

Während die Jugend draußen zunehmend rebellischer wurde, regierte hinter den Mauern der Heime ein ehernes Moralgesetz, zumal es an pädagogischen Kenntnissen mangelte. Der Arbeitsbericht des Düsseldorfer Dorotheenheimes der Diakonissen aus dem Jahre 1955 zeigte, daß man sich an der Front eines Kampfes zwischen Gut und Böse wähnte: "Der Kontrast zwischen dem Leben, der Welt ohne Bindung an Gesetz und Sitte und dem unter Gottes Ordnung und Gebot stehenden Leben wird immer krasser und unüberbrückbarer." So wurden Kinder, die als "schwierig" galten, nicht auf das Leben außerhalb der Heime vorbereitet, sondern daran gehindert.

Ungezogene Kinder mußten mit nackten Beinen auf scharfkantigen Holzscheiten knien. Sie wurden in einen Kartoffelsack eingebunden und in den dunklen Keller gestellt. Sie mußten in Badewannen mit kaltem Wasser sitzen und wurden gewaltsam untergetaucht. Mädchen mit Kindern wurde das Stillen verboten. Immer wieder, nicht nur in Wensierskis Buch, auch in Berichten aus Krankenhäusern und "Erholungsheimen", ist von gezielten Demütigungen die Rede. "Der Wille muß erst gebrochen werden" sagt ein Erzieher: "Das Prinzip war, der Jugendliche muß erst ganz unten sein". Den Weg nach oben haben danach nur wenige gefunden. Die meisten verschweigen ihre Leiden bis heute, weil niemand wissen soll, daß sie Heimkinder waren.

Im katholischen Kinderheim Kallmütz bei Regensburg bekamen Bettnässer einen Schweineschwanz umgebunden, mußten mit einem Schild "Ich bin das/ größte Schwein/ im ganzen/ Kinderheim" über die Flure gehen und durften von allen angespuckt werden. Kinder, die die oft ekelhafte Nahrung erbrachen, wurden gezwungen, sie ein zweites Mal herunterzuwürgen. Wer aufmuckte, dem wurde gedroht, ihn in ein noch schlimmeres Heim abzuschieben. Oft genügten die Erinnerungen an die Vorgeschichte einiger Heime aus der NS-Zeit. Früher, so sagte man jenem K71, "sei es den Bettnässern noch schlimmer ergangen. Da habe man die Kinder einfach ,weggemacht'."

Solche Fälle mögen die - viel zu vielen - Ausnahmen gewesen sein, doch wo sie nicht geahndet wurden, und sie scheinen kaum je geahndet worden zu sein, haben sich viele gutmeinende Menschen mitschuldig gemacht. Aus Autoritätshörigkeit und aus Angst. "Mir wurde", schrieb eine Nonne in einem anonymen Brief an Peter Wensierski, "von meinen Vorgesetzten deutlich gemacht, daß ich bei meiner erzieherischen Tätigkeit den Kindern gegenüber keine Mitgefühle zulassen dürfe, das heißt im Klartext, ich sollte Kinder nicht auf den Arm oder auf den Schoß nehmen, nicht mit ihnen schmusen - eben Dinge, die eine Mutter und eigentlich auch eine Heimerzieherin selbstverständlich tun sollte, um eine Beziehung zu schaffen." Wenn solcher Liebesentzug das Prinzip der Heimerziehung gewesen ist, dann hat er schreckliche Früchte getragen. Partner von Heimkindern, sagt ein ehemaliger Zögling, "leben mit Menschen zusammen, die jegliches Vertrauen verloren haben" und ständig Angst hätten, verlassen zu werden. In Konfliktsituationen reagierten sie oft unkontrolliert: "Das Furchtbare dabei ist: diese Gewalt richtet sich gegen die Menschen, die sie lieben."
Inzwischen sind viele der alten Heime geschlossen und viele Akten angeblich verschwunden. Manche Orte des Schreckens haben einen freundlichen Anstrich bekommen. Aber erlittenes Leid läßt sich nicht übertünchen. "Ich habe als Kind wohl zur falschen Zeit gelebt", sagte eine Betroffene beim Besuch ihres einstigen, nun zur "Kindervilla Scherfede" gewordenen - "Heims".
Ehemalige Heimkinder haben kürzlich den "Verein ehemaliger Heimkinder" gegründet, um Kontakt zu weiteren Opfern zu suchen und ihre Geschichte zu dokumentieren.

Evangelische Akademie Bad Boll -Stellungnahme 24.02.06

Das Leid der frühen Jahre
Zur kirchlichen Heimerziehung in der Nachkriegszeit

Peter Wensierski hat in der Deutschen Verlagsanstalt München 2006 das Buch veröffentlicht „Schläge im Namen des Herrn“. Seine Forschung ist knapp dargestellt in einem Dossier der „Zeit“ Nr. 7 vom 9.2.2006.

Seine These: Hunderttausende von Kindern wurden in Heimen der jungen Bundesrepublik misshandelt. Die größte Verantwortung trifft die Kirche. Liest man diesen Artikel, ist man schockiert von der Gewalt, die im Namen „christlicher Nächstenliebe“ jugendlichen Heimbewohnern angetan wurde. Den größten Anteil hat offenkundig die katholische Kirche durch ihre Caritas-Heime. Aber auch die evangelische Diakonie ist betroffen. Kritisch wird vermerkt, dass sich die Kirchen vor dem offiziellen Eingeständnis ihrer Schuld gegenüber den ehemaligen Heimkindern drücken, wenn sie auch Vorwürfe nicht mehr einfach abwehren. Doch es reicht nicht aus, was der Präsident des Diakonischen Werkes, Jürgen Gohde, reichlich gewunden formuliert hat: „An dieser Stelle müssen wir feststellen, dass das zu dem Teil der Geschichte gehört, mit dem wir leben müssen.“ Immerhin benennt er die obrigkeitsstaatliche Tradition der Erziehung, von der auch die Kirche nicht frei gewesen ist.

Meines Erachtens ist eine ökumenische Anstrengung nötig, um diese dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten. Ansätze sind etwa Äußerungen von Günter Matschke, der Anfang der sechziger Jahre als junger Diakon in einem Knabenheim gearbeitet hatte: „Unser ganzer Stil war im Grunde gewalttätig“. Der Caritas-Abteilungsleiter im Erzbistum Paderborn Theo Breuel, hat sogar gegenüber ihm persönlich bekannten Betroffenen ein Schuldbekenntnis abgelegt, wie es die Kirchen insgesamt tun sollten: „Wir bedauern zutiefst, dass Derartiges vorgekommen ist“. Von den einst 3000 Kinderheimen werden heute noch etwa 400 genutzt. Die heutigen Leiter und Mitarbeiter können sich kaum an das erinnern, was sich vor drei oder vier Jahrzehnten in ihrem Haus einmal abgespielt hat. Die Opfer allerdings erinnern sich sehr wohl.

Da die Anzahl der auffällig gewordenen Kinder und Jugendlichen wieder zunimmt, verlangen Einige wieder das „Wegsperren“ und ein härteres Durchgreifen.

Interessant ist, dass ein positiver Wechsel erst nach 1968 durch die „Heimkampagne“ der APO eingeleitet wurde. Ein bleibendes Verdienst kommt hier der Journalistin Ulrike Marie Meinhof zu. Es ist tragisch, dass diese begabte Frau später in den Terrorismus sich verlor.

Die Evangelische Akademie Bad Boll plant dazu Veranstaltungen. Wer sich dafür interessiert, möge sich melden. Ich denke, dass diese Leidgeschichte ökumenisch aufgearbeitet werden sollte. Und wenn sich die Kirchenleitungen nicht bei den Opfern entschuldigen und, sofern möglich, für Wiedergutmachung sorgen, will ich es tun.
Wolfgang Wagner

Evangelische Kirche im Rheinland 14.02.2006
Heimerziehung
Diakonie bedauert Geschehnisse zutiefst
„Schläge im Namen des Herrn“ heißt ein Buch, das dieser Tage erscheint und schon Wellen schlägt. Angeklagt wird auch die Diakonie: Es geht um den traumatisierenden Umgang mit Mädchen und Jungen in kirchlichen Heimen in den fünfziger und sechziger Jahren.

Der Autor des Buchs „Schläge im Namen des Herrn“, "Spiegel"-Redakteur Peter Wensierski, hat in der „Zeit“ 7/2006 seine Recherchen in einem Dossier zusammen gefasst. Der „Express“ hat mehrere Betroffene zu Wort kommen lassen, darunter einen Mann, der in der Kreuznacher Diakonie „drakonische Strafen“ über sich ergehen lassen musste, wie er erzählt.
In den evangelisch getragenen Heimen habe es Missstände und Fehler gegeben, räumt Diakonie-Präsident Pfarrer Dr. h.c. Jürgen Gohde gegenüber EKiR.de ein. „Dazu stehen wir.“ Außerdem bekennt Gohde: "Mir tun die Folgen für jeden einzelnen Menschen leid."
Diakonie Rheinland: Unmenschlich behandelt
Ergänzend zu dem Interview mit Diakonie-Präsident Gohde erklärt der Theologische Direktor und Vorstandssprecher des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR), Pfarrer Uwe Becker: „Der Tatbestand, dass auch in Heimen der Inneren Mission / Diakonie in den 50er bis 70er Jahren Kinder und Jugendliche unmenschlich behandelt und auch an Leib und Seele gequält wurden, lässt sich auf Grund neuerer Veröffentlichungen nicht leugnen.“ Das Diakonische Werk im Rheinland bedauere zutiefst, „was damals in Einrichtungen von Innerer Mission / Diakonie geschehen ist - auch im Bereich unseres Werkes“.
Seinen Mitgliedseinrichtungen der Kinder-, Jugend- und Erzieherischen Hilfen empfiehlt das Diakonische Werk im Rheinland, dem Beispiel des Neukirchener Erziehungsvereins zu folgen, der sich mit seiner Geschichte dieser Jahrzehnte kritisch auseinandergesetzt und die Ergebnisse jetzt veröffentlicht hat.
Geschichte aufarbeiten
Das Diakonische Werk im Rheinland regt daher an, die Geschichte der Anwendung von Gewalt auch in der diakonischen Heimerziehung sorgfältig aufzuarbeiten – „um der Opfer von damals Willen, die noch heute unter den Folgen der ,Schläge im Namen des Herrn’ leiden“.
Im Blick auf den vom "Express" zitierten Mann hat der Sprecher der kreuznacher diakonie, Georg Scheffler-Borngässer, zugesagt, den Vorwürfen nachzugehen und den Kontakt mit Geschädigten zu suchen. "So etwas kann man nicht wieder gutmachen", so Scheffler-Borngässer. Aber die kreuznacher diakonie werde mit Missständen in der Vergangenheit offensiv umgehen.

 
Spiegel-online 14. Februar 2006
 HEIMKINDER-SCHICKSALE - "Es tut mir leid"

Tausende Kinder durchlitten in den fünfziger und sechziger Jahren die Schrecken staatlicher und kirchlicher Heimerziehung. Im Interview mit dem SPIEGEL fordert der Präsident der deutschen Caritas, Peter Neher, einen offeneren Umgang mit einem dunklen Kapitel deutscher Geschichte.

SPIEGEL: Ehemalige Heimkinder leiden noch immer unter den Folgen der Erziehung in den zumeist konfessionellen Heimen der fünfziger und sechziger Jahre. Trägt die Caritas heute dafür Mitverantwortung?

Neher: Natürlich sind wir als Gesamtverband davon betroffen. Es gab zwar nicht nur katholisch geführte Heime, sondern auch Heime anderer Konfessionen und staatliche Träger mit Nonnen und Ordensbrüdern als Heimpersonal, die nicht Mitglied im Caritasverband waren. Dennoch wollen wir den Betroffenen der Heimerziehung helfen, dieses dunkle Kapitel der jüngsten deutschen Vergangenheit gemeinsam aufzuarbeiten. Wir wollen die heute Erwachsenen nicht mit den in ihrer Kindheit entstandenen Traumatisierungen alleine lassen.

SPIEGEL: Was ist bisher bei Caritas und Kirche über die Schrecken der Heimerziehung bekannt?
Neher: Ich habe Verständnis für den Wunsch der Menschen, jetzt endlich diese Erlebnisse öffentlich zu machen. Was da bekannt wird, finde ich schlimm und es tut mir leid, wenn solche Dinge bedauerlicherweise auch in katholischen Heimen geschehen sind. Wir müssen uns aber noch einen genauen Überblick verschaffen und differenzieren. Einige Einrichtungen haben schon seit längerem Kontakte zu ihren ehemals Anvertrauten aufgenommen und werden diese weiterführen. Generell raten wir als Caritas allen katholischen Einrichtungen zu einem offenen Umgang mit den Betroffenen. Die Einrichtungen sollen offensiv damit umgehen und - wo möglich - den ehemaligen Heimbewohnern Einsicht in ihre Akten gewähren. Die Einsicht in die eigene Akte ist ein wichtiger Teil der persönlichen Aufarbeitung. Ich lege den Einrichtungen ans Herz, auch nach Ablauf von Fristen heute noch vorhandene Akten aufzubewahren und Einsichtnahmen zu ermöglichen.
SPIEGEL: Hängen die Schrecken der Heimerziehung mit kirchlichen Erziehungsvorstellungen zusammen?

Neher: Ich glaube nicht, dass es zur Systematik katholischer Einrichtungen gehört hat. Es muss noch genauer geprüft werden, ob möglicherweise konfessionelle Prägungen einen ohnehin praktizierten Erziehungsstil weiter verschärft haben. Wir werden deshalb der wissenschaftlichen Erforschung dieser Zeit mehr Raum geben und sind im Gespräch mit Hochschulen und Caritas-Experten, um wissenschaftliche Arbeiten über diese Zeit und die Folgen der Heimerziehung anzuregen. Wir schlagen auch vor, auf Konferenzen und anderen Veranstaltungen aktiv mit diesem Thema umzugehen

SPIEGEL: Viele beklagen sich, dass sie in den Heimen als 14- bis 21-Jährige arbeiten mussten, kaum entlohnt und ohne Anmeldung bei der Sozialversicherung.
Neher: Arbeitsverhältnisse in den Heimen wurden in der Regel erst nach 1972 als sozialversicherungspflichtig behandelt. Für die Zeit davor ist das in der Tat ein Problem. Wir plädieren dafür, nach Absprache und Prüfung mit der BfA und anderen Rentenversicherungsträgern, alle Möglichkeiten zu erkunden, dass solche nachgewiesenen Arbeitszeiten aus den früheren Jahren ebenfalls entsprechend berücksichtigt werden.
SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung für den harten Stil der Nonnen und Brüder in den Erziehungsheimen der fünfziger und sechziger Jahre?

Neher: Nach dem Kriegsende hat sich die Pädagogik gegenüber den zwanziger und dreißiger Jahren in den Heimen zunächst kaum verändert. Erst Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre kam es wirklich zu einer Revolution in der Erziehung in Deutschland. Einer der Punkte, die wir selbstkritisch sehen ist, dass häufig die Schwestern und Brüder ohne fachspezifische Qualifikation in den Heimen arbeiteten. Viele Erfahrungen, die von den Kindern und Jugendlichen gemacht wurden, liegen auch an einer Überforderung der Heimleiter und Erziehenden. Bei allen Bemühungen der überwiegend engagierten Mitarbeitenden in diesen Jahren hat es zu lange gedauert, bis eine qualifizierte Arbeit im Interesse der Kinder Fuß gefasst hat.

SPIEGEL: Die Betroffenen verlangen ein Wort der Entschuldigung.
Neher: Ich kann das Empfinden von Unrecht verstehen und wünsche mir, dass die Auseinandersetzung darüber in einem breiten Rahmen geschieht. Ich denke etwa daran, dass minderjährige, schwangere Mädchen, die damals teilweise zwangsweise eingewiesen wurden, dies heute zu Recht als Unrecht empfinden. Allerdings haben diese Zwangseinweisungen staatliche Stellen veranlasst. Ich halte für wichtig, dass in den jeweiligen Einrichtungen im individuellen Gespräch Entschuldigungen ausgesprochen werden.
Das Interview führte Peter Wensierski

Peter Neher, 50, ist katholischer Theologe und leitet seit September 2003 den Deutschen Caritasverband. Mit rund 490.000 Mitarbeitern ist der Verein der größte private Arbeitgeber in Deutschland. Neher gilt als Reformer und setzt sich vor allem für die Belange von Kindern ein.

Kölnische Rundschau 13.02.06 - Bei Wasser und Brot in die „Klabause“ -
VON BIANCA POHLMANN

Es war vor wenigen Wochen, da besuchte Regina Eppert nach mehr als 40 Jahren den Ort, an dem sie einen Teil ihrer Jugend verbracht hat. In Dortmund stand sie zwei alten Nonnen gegenüber, die Anfang der 60er Jahre für die Erziehung der damals 18-Jährigen und ihrer Schwester verantwortlich waren. Als sei es gestern gewesen, erinnerte sich die heute 62-Jährige, wie ihre Schwester damals für das Erzählen eines Witzes drei Tage lang bei Wasser und Brot in die „Klabause“, einen kleinen, schmalen Raum mit Pritsche und einem Eimer, gesperrt wurde. „Und auf einmal war ich wieder das kleine Mädchen“, sagt Regina Eppert.
Das Gefühl, nichts
wert zu sein
Mit einem Mal war sie wieder da, die Angst, die damals täglich empfunden wurde. Michael-Peter Schiltsky kennt es genau. Eine Filmszene, Gerüche - kleine Details reichen aus, um den 58-Jährigen - wie viele Betroffene - in die Zeit zurück zu versetzen, in der er das Knabenheim Westuffeln in Werl besuchte. An den Schmerz in der Wange, wenn einer der Diakone hineinkniff und den Jungen daran in die Luft hob. An die Demütigung, wenn ein Bettnässer das nasse Laken über den nackten Körper gelegt bekam, es so in die Waschküche tragen musste.
Lange wurden viele dieser Erinnerungen verdrängt, doch es sind keine Einzelfälle, wie der Journalist Peter Wensierski nachdrücklich betont. 3000 Heime gab es in den 60er Jahren in der Bundesrepublik, rund 200 000 Plätze standen zur Verfügung, recherchierte er in den vergangenen drei Jahren. Die Vielzahl der Fälle, die er aufdeckte, haben den Journalisten selbst überrascht. Vielen der Betroffenen wurde ein lebenslanger Makel aufgesetzt; mit Schlägen, Arbeit und Marienliedern sollten ihnen das Böse ausgetrieben werden. Und viele sind bis heute traumatisiert. Jetzt veröffentlichte Wensierski seine Recherchen in dem Buch „Schläge im Namen des Herrn“. Zwischen 600 000 und einer Million Betroffene wurden drei Jahrzehnte lang durch die Erziehungsanstalten geschleust. 80 Prozent dieser Kinder- und Jugendheime waren in kirchlicher Hand, davon wiederum rund die Hälfte in katholischer Obhut. Die Kinder, die dort landeten, galten den Nonnen, Patern und Diakonen oft als verlorene Seelen. „Sie vermittelten uns, wir seien es nicht wert, dass man sich mit uns beschäftige“, sagt Michael-Peter Schiltsky.
Die Gründe, die teilweise zur Einweisung ins Heim führten, waren geradezu nichtig. „Mädchen, die Mini-Röcke oder Hosen trugen, Rock? Michael-Peter Schiltsky war Halbwaise. Die Frau, bei der er untergebracht war, hatte nicht genug zu essen. 1957 gab seine Mutter ihn in dem evangelischen Kinderheim in Werl ab. Demütigungen und Schläge mit Stock und Lederriemen gehörten dort zum Alltag. Konflikte wurden gewalttätig gelöst, so lernte es der Teenager. „Es fehlt einem später jegliches Grundvertrauen, auch Menschen gegenüber, die einen lieben“, weiß er heute. Seine Frau und seine Kinder haben es zu spüren bekommen, wie es Angehörige ehemaliger Heimkinder häufig passiert. Sie halten trotzdem noch heute zu ihm, mit ihnen hat er es geschafft, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Schiltsky ist erfolgreicher Künstler, hatte zwei Gastprofessuren, Werke von ihm stehen in mehreren deutschen Museen. Dennoch sagt ihm sein Gefühl auch heute noch manchmal: „Du bist niemand“.
Regina Eppert ist heute eine gestandene Frau, leitete mehrere Geschäfte. Bis 2003 hatte sie ihre Jugenderinnerungen verdrängt, auch mit ihrer Schwester nie darüber gesprochen. Sie war 18, verheiratet mit einem 20-Jährigen und Mutter einer kleinen Tochter, als das Jugendamt sie 1960 ins Heim einwies.
„Wir waren
nicht verkommen“
Eine gemeinsame Wohnung mit ihrem Mann hatte sie nicht. Zudem befand man die 18-Jährige als „unreif“ für die Ehe. So landeten Regina Eppert und ihre Schwester in dem katholischen Kinderheim in Dortmund. Für die Arbeit in der Näh- und Mangelstube waren sie reif genug. Das eigene Kind musste Eppert abgeben, sehen konnte sie es in der Woche nur heimlich. Zu Mutter und Ehemann hatte sie gar keinen Kontakt. Demütigungen und Züchtigungen gehörten auch zu ihrem Alltag. „Wir waren nicht verkommen, wir waren nicht verwahrlost. Man hat uns keine Chance gegeben“, sagt sie heute. Warum sie so lange geschwiegen habe, werde sie manchmal gefragt. „Auch als erwachsene Frau hatte ich so eine Angst.“ Heute setzt sie sich im Verein für ehemalige Heimkinder für deren Rechte ein: Dafür, dass die unentgeltliche Arbeit heute für die Rentenjahre mitangerechnet wird. Und dafür, dass ihre Geschichten gehört werden, damit Kindern so etwas nicht mehr angetan wird.
Die Nonnen, denen Regina Eppert wieder gegenüberstand, haben jegliche Verantwortung für ihr Handeln abgestritten. Regina Eppert hat ihre Geschichte aufgeschrieben und den Nonnen diese überreicht - damit das Verdrängen auf beiden Seiten ein Ende hat.
Peter Wensierski, Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, DVA.
Verein ehemaliger Heimkinder e.V.:  www.vehev.org
(KR)

SPIEGEL ONLINE -11. Februar 2006, 17:09
URL: http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,400215,00.html
HEIMKINDER-SCHICKSALE
"Wie geprügelte Hunde"

DIE ZEIT 09.02.2006 Nr.7
Das Leid der frühen Jahre
Hunderttausende von Kindern wurden in Heimen der jungen Bundesrepublik misshandelt. Die größte Verantwortung trifft die Kirche Von Peter Wensierski
Er ist der Pater der Herzen. Das haben die Zeitungen über ihn geschrieben. Er hat ein Bundesverdienstkreuz bekommen, den Verdienstorden von Berlin, gibt gern Interviews und stellt sich vor die Fernsehkameras. Er ist ein regionaler Medienstar, der in Talkshows sitzt. 30 Jahre lang hat der Salvatorianerpater Vincens im Berliner Knast Tegel »schwere Jungs« betreut, da kann er viel erzählen. Was davor war, hat ihn kaum einer gefragt.
Gerald Hartford lebt 300 Kilometer entfernt bei Hildesheim und ist ein schweigsamer Mensch. Er verlässt selten seine Wohnung. Der Fernseher ist sein Tor zur Außenwelt. Und in diesem Tor hat er zufällig seinen früheren Heimerzieher wiedererkannt. Pater Vincens gilt ihm als »Peiniger seiner Jugendjahre«. Hartford hat lange mit sich gerungen, ob er es durchhalten würde, die ungewohnt lange Fahrt, die Konfrontation mit dem cholerischen katholischen Priester.
Nun stehen sich die beiden gegenüber. Auf der gepflasterten Terrasse seines schmucken Alterssitzes, des Salvatorianerklosters Berlin-Lankwitz, gibt der Gottesmann nur zögerlich zu, vor seiner Berliner Zeit in einem Erziehungsheim gearbeitet zu haben. Gerald Hartford hält in der einen Hand ein Foto, das ihn mit 18 Jahren zeigt, in der anderen eine Zeichnung des berüchtigten »Bunkers«. Einer dunklen Zelle im Keller des Salvator-Kollegs Klausheide im westfälischen Örtchen Hövelhof. Hier wurden die Kinder eingesperrt, wenn ihre Erzieher sie abstrafen wollten.
Pater Vincens, sonst immer eine Spur zu laut, hat es die Sprache verschlagen. Der Mann ist offenbar erschrocken über die unverhoffte Begegnung mit der verdrängten Vergangenheit. Ob er noch wisse, fragt ihn Hartford, was er mit ihm damals gemacht habe? Der Pater schaut auf das Bild seines früheren Zöglings, nimmt es in die Hand. Plötzlich scheint er sich an etwas zu erinnern, will das Foto loswerden. Er hält es angewidert von sich, als sei es verseucht von den Erinnerungen, die er nicht hochkommen lassen will. »Nehmen Sie mal? Bitte, hier! Nehmen Sie’s mal ab!«
Der strenge Pater verweigert seinem ehemaligen Zögling das Gespräch
Nein, über die Zeit, bevor er nach Berlin kam, mag der Pater nicht sprechen. Hartford zittert am ganzen Körper, sagt aber ruhig, dass ihn der Pater damals immer wieder eingesperrt habe. Ja, räumt der Mönch schließlich ein, man habe schon mal Störenfriede in einen »Besinnungsraum« gesteckt. »Aber nur kurz.« Besinnungsraum? Oder Bunker? Gerald Hartford erinnert sein Gegenüber daran, dass er viele Wochen in dieser Zelle, auf einer Holzpritsche ohne Matratze, in der Ecke ein Eimer für die Notdurft, zubringen musste. Der Jugendliche hatte vergeblich versucht, dem Arbeitszwang, den ständigen Schlägen und Demütigungen der Salvatorianerbrüder durch Flucht zu entkommen. Er will endlich über diese Zeit mit den Verantwortlichen sprechen. Er hofft auf eine kleine Geste der Entschuldigung.
»Das hatte ich nicht zu verantworten«, verteidigt sich Pater Vincens, der Geralds Gruppe unter sich hatte. Er sieht sich nach den Nonnen am Eingang um, die interessiert herüberschauen, dann wirft er energisch seinen Kopf in den Nacken und sagt: »Deswegen muss ich jetzt wohl das Gespräch beenden.« Pater Vincens lässt Hartford einfach stehen. An der Klosterpforte dreht er sich noch mal um und ruft: »Und bitte, verlassen Sie das Grundstück.«
Bevor Gerald Hartford nach Berlin kam, hatte er sich zum ersten Mal seit 33 Jahren wieder in sein ehemaliges Kinderheim hineingewagt. Die Baracken, in denen er einst schuftete, sind penibel renoviert. Der Strafbunker und seine früheren Schlafräume blieben tabu, weil das ehemalige Heimkind die heutigen Heimkinder hätte stören können, hieß es. Immerhin förderte man einen angegilbten Ordner aus dem Archiv des Heimes zutage. Hartford, der kurz darin blättern durfte, war fassungslos. Die Akte enthält sein einziges Jugendfoto. Es prangt auf einem Formular, auf dem fett gedruckt »Beobachtungsbogen« steht.
Rund hundert Dokumente belegen, wie nichtig damals die Gründe für seine Heimeinweisung waren. »Arbeitsbummelei« steht da. Beim Umblättern erkennt er auf einer Seite die Handschrift seiner Mutter. Es sind Briefe von ihr an das Heim, von denen er bis zu diesen Tag nichts wusste. Auch eine Art Gutachten seines letzten Lehrers findet sich. Der schrieb: »Wenn Gerald nun in ein gutes Milieuumfeld hineinkommt, hat er alle Chancen, ein gutes und erfolgreiches Leben zu führen.«
Nur zehn Prozent der Familien galten nach dem Krieg als »heil«
Hartford kamen Tränen, der Mann von der Heimleitung guckte betreten und nahm ihm die Akte wieder ab. Er verlangte einen »ordentlichen« Antrag auf Akteneinsicht. Hartford stellte ihn an Ort und Stelle schriftlich – doch das reichte nicht. Am nächsten Tag wurde das Heim vom zuständigen Hausjuristen der Caritas in Paderborn gerüffelt. Die Einsicht in die Akte »hätte nicht geschehen dürfen«, sagte der Kirchenadvokat, »es könnte ja Negatives für die Erzieher drinstehen«. Für Hartford begann ein langer Kampf um seine Akte.
So weit wie er sind viele andere ehemalige Heimkinder noch längst nicht gekommen. Dabei teilten sein Schicksal in den Gründerjahren der Bundesrepublik Tausende von Gleichaltrigen. In den sechziger Jahren drillten staatliche, katholische und evangelische Erzieher Kinder und Jugendliche in rund 3000 Heimen mit mehr als 200000 Plätzen. Gut die Hälfte der Kinder war zwei bis vier Jahre lang in solchen Heimen. Andere verbrachten ihre ganze Kindheit und Jugend in den oft hermetisch abgeschlossenen Häusern.
Rund 80 Prozent der Heime waren in konfessioneller Hand. Insbesondere die katholischen Frauen- und Männerorden führten jahrzehntelang zahlreiche Erziehungsanstalten. Sie hießen »Zum Guten Hirten« oder waren nach Heiligen und Ordensgründern benannt: Don-Bosco-Heim, St. Vincenzheim, St. Hedwig oder Marienheim.
Heute leben aus dieser Zeit noch mindestens eine halbe, wahrscheinlich aber sogar mehr als eine Million Menschen unter uns, die zwischen 1945 und 1975 in den westdeutschen Heimen groß wurden. Sie sind jetzt zwischen 40 und 65 Jahre alt. Doch seltsam: In einer aufgeklärten Gesellschaft, die scheinbar keine Tabus mehr kennt, ist es für viele von ihnen bis heute nicht möglich, darüber zu sprechen. Selbst nahen Angehörigen offenbaren sie sich mitunter nicht – aus Scham. Sie fürchten sich vor dem diskriminierenden Etikett »Heimkind«, als hätten sie im Zuchthaus gesessen.
Kaum einer hat damals genauer hingeschaut. Die Vormundschaftsrichter nicht, die Fürsorger und Jugendämter nicht, die Schulen, Eltern und Nachbarn nicht, die mit ihren Denunziationen über einen angeblich unsittlichen Lebenswandel insbesondere bei jungen Mädchen oft entscheidend zur Einweisung ins Heim beitrugen. Dabei waren die Heranwachsenden in den fünfziger Jahren besonders belastet: Mehr als 1,5 Millionen Kinder hatten ihren Vater im Krieg verloren, rund 14 Millionen waren aus dem Osten geflohen und hatten Schwierigkeiten bei der Integration.
In den Jahren nach 1945 zogen mehr als 100000 Kinder und Jugendliche bindungs-, heimat-, berufs- und arbeitslos durch Deutschland. Viele Familien waren zerrissen, weil die Väter erst nach Jahren aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrten. Soziologische Studien kommen zu dem Urteil, dass nur zehn Prozent der Familien Ende der vierziger Jahre »heil« waren. Die Wohnungen waren häufig eng, eigene Zimmer hatten die wenigsten Kinder. Das Durchschnittseinkommen einer Familie betrug 1955 nur 280 Mark im Monat. Ein Kind ins Heim zu geben war eine vergleichsweise bequeme und billige Lösung.
Fast zwei Jahrzehnte, von 1949 bis 1967, war das geistig-politische Klima im Westen Deutschlands vor allem von den Konservativen bestimmt. Familienminister Franz-Josef Wuermeling (CDU) etwa organisierte »Kampagnen gegen Schmutz und Schund«. Er wetterte gegen Sexualität und deren Thematisierung in Kunst und Literatur. Es waren auch die Jahre des fleißigen Wiederaufbaus. Und die aufmüpfigen Jugendlichen der fünfziger Jahre mit ihrem Wunsch, anders zu leben, waren die Vorboten massiver Veränderungen der Gesellschaft. Umso verbissener hielt diese Gesellschaft an den überkommenen Idealen und Strukturen fest. Wer wagte, aus der elterlichen Wohnung auszubrechen, und sich neue Freiräume in der Freizeit suchte, riskierte rasch, ins Blickfeld der Jugendfürsorge zu geraten.
Ende der fünfziger Jahre gab es eine zunehmende Zahl von Doppelverdienern, die oft nur noch materielle Ziele hatten: neue Möbel, endlich eine Musiktruhe, Telefon, den ersten Fernseher. Für die Kinder war kaum Zeit. Die Erziehung wurde an Großeltern abgegeben, immer mehr Kinder lebten als »Schlüsselkinder«. Es war so, als hätte sich ganz Deutschland abgesprochen. Die einen feierten ihr Wirtschaftswunder, die anderen verdrängten die Nazizeit.
Sexuelle Gefahren witterten die Erwachsenen überall
Zum Verhängnis wurde Gisela Nurthen ein Tanzabend mit amerikanischer Musik im Februar 1961, zu dem das Jugendheim in Lemgo eingeladen hatte. Die Mutter hatte ihr verboten, dort hinzugehen. Irgendwie entwischte die Tochter ihr doch. Stundenlang tanzte die 15-Jährige an diesem Abend zu »ihrer« Musik. Plötzlich war es schon zehn, sehr spät für damalige Verhältnisse. Das Mädchen fürchtete sich, nach Hause zu gehen. Sie und der Junge, mit dem sie den Abend über getanzt hatte, beschlossen, lieber nach Hannover zu fahren, in die nächstgelegene Großstadt. Was sie da wollten, wussten beide nicht so genau. Sie liefen in der Nähe des Hauptbahnhofes durch die Straßen, tranken noch irgendwo etwas, langsam wurde es hell. Als sie zurücktrampen wollten, hielt nach ein paar Minuten ein Streifenwagen der Polizei neben ihnen. 24 Stunden später folgte ein Richter, der sich Gisela nicht einmal ansah, dem Vorschlag ihres Vormunds beim Jugendamt und schickte sie in das geschlossene Vincenzheim in Dortmund – »weil sonst weitere Verwahrlosung droht«.
Ihre Erziehung besorgten fortan Nonnen, die »Barmherzigen Schwestern«, Vincentinerinnen aus Paderborn. Auch wenn, wie in ihrem Fall, »nichts« passiert war: Sexuelle Gefahren witterten die Erwachsenen überall. Insbesondere in der Musik aus Amerika. Erwachsene und Jugendliche, das waren zwei Welten, die nicht miteinander sprachen. »Es gehört sich nicht«, sagten die Alten. »Das versteht ihr nicht«, erwiderten die Jungen. Die neue Musik aus Amerika verband die Jugendlichen untereinander, es war ihre Sprache. Rock ’n’ Roll, Dixieland, Boogie-Woogie.
»Verstehst du die Texte denn überhaupt?«, wurde Gisela einmal von ihrer Schwester gefragt. »Das ist nicht zum Verstehen, das ist zum Fühlen«, war ihre Antwort. Wenn ihr Idol Elvis im Radio zu hören war, drehte Gisela den Apparat laut und stellte sich ans offene Fenster. Doch das kurze Glück hatte seinen Preis: »Die Nachbarn riefen beim Jugendamt an, weil sie der Meinung waren, dass ich zu laut Musik höre. Und am nächsten Tag kam die Fürsorgerin.«
Giselas alleinerziehende Mutter hatte Angst vor der Frau vom Amt, die häufig unangemeldet in die Wohnung kam. Auch Gisela hatte Respekt vor der Dame mit dem Haarknoten im Nacken und der umgehängten schweren Ledertasche. »So etwas gehört sich nicht für ein Mädchen!«, lautete auch ihre Standardermahnung. Genauso bedrohlich wie die Frau vom Jugendamt waren die Nachbarinnen, denn sie verbrachten anscheinend ihre ganze Freizeit damit, hinter den Gardinen der Fenster die Straße zu beobachten. Das Mädchen verabredete sich deshalb möglichst außerhalb ihrer Sichtweite. Sie mochte die frechen Jungs mit ihren Mopeds: »Mir ging es richtig gut, wenn wir mit den Mopeds durch die Gegend fuhren und mir der Wind durch die Haare fegte. Ich wusste, dass darauf wieder eine Bestrafung folgen würde.«
Die Akte des Jugendamtes schwoll an. »Ich wollte Opposition, den Kleinstadtmief durchbrechen, ich wollte, wie man heute sagt, cool sein«, erzählt Gisela. »Ich wollte etwas anderes, was das genau sein sollte, wusste ich nicht, nur, dass es anders sein sollte.« Die Stadt, in der sie lebte, war in den Augen der Teenager eine langweilige Beamtenstadt, aus der man eines Tages irgendwie entkommen müsste. Die Streifenwagen der Polizei durchkämmten abends die Straßen. Die Beamten leuchteten mit Taschenlampen in die Gesichter der Pärchen auf den Parkbänken, stets auf der Suche nach Minderjährigen, die sich in Büschen oder Hausecken herumdrückten.
Vier Jahre dauerte Giselas unbarmherzige Zeit bei den »Barmherzigen Schwestern« im Dortmunder Vincenzheim, von 1961 bis 1965. In dieser Zeit war sie ohnmächtig einem perfiden Repressionssystem frommer Schwestern ausgeliefert, die sie mit Prügel zu Gebet, Arbeit und Schweigen zwangen. Schon bei geringsten »Verfehlungen« wie unerlaubtem Sprechen oder Weinen, erinnert sich Gisela, hagelte es Schläge oder andere Strafen, obwohl es per Erlass des Sozialministeriums von Nordrhein-Westfalen schon seit 1947 verboten war, in Mädchenheimen zu schlagen, seit 1950 auch in den Heimen für Jungen. Dennoch: Geprügelt wurde oft mit allem, was gerade zur Hand war – mit Teppichklopfern oder Besenstielen. Zwischendurch gab es Boxhiebe in Rücken und Rippen.
Telefonieren war streng verboten, jegliche ein- und ausgehende Post wurde von den Nonnen gelesen und zensiert, viele Briefe kamen niemals an. Gisela durfte ohnehin nur alle vier Wochen schreiben. Die Nonnen strichen ganze Passagen durch und schrieben sogar Bemerkungen in die Briefe der Mädchen an die Eltern, wenn ihnen der Inhalt nicht passte. Besuch war einmal im Monat gestattet, die Gespräche wurden belauscht. Oft saß eine Nonne direkt am Tisch.
»Ich verlor meinen Namen, wurde wie die anderen nummeriert. Wir durften nur schön ordentlich, nach den Nummern sortiert, in Zweierreihen durchs Haus marschieren – zur Arbeit, zur Kirche, zur Toilette, zum Essen.« An jeder Tür musste die Mädchenkolonne schweigend warten, bis die Nonnen auf- und zugeschlossen hatten. An die Wand lehnen war streng verboten. Wer beim gemeinsamen Toilettengang zu lange brauchte, bei dem hämmerten die Nonnen lautstark gegen die Türen. »Alles musste im Blitztempo geschehen.« Nur der Gottesdienst in der Hauskapelle nicht. Neulinge nahmen auf der Empore Platz. Unten im Kirchenschiff saß oft eine ganze Reihe von Mädchen mit kurz geschorenen Haaren, die Köpfe gesenkt, in grauer Kleidung – Heiminsassinnen, die versucht hatten auszureißen.
Uneheliche Kinder hatten für die Nonnen einen besonderen Makel
Für die Nonnen waren ihre Zöglinge nichts als eine Herde von Sünderinnen. Bei jeder Gelegenheit mussten sie sich immer wieder die gleiche Litanei anhören: »Ihr seid nichts wert, ihr seid nicht rein, aus euch kann ohne uns nichts werden.« Alle unehelichen Kinder hatten für die Nonnen einen besonderen Makel. Reinheit und Unversehrtheit der Mädchen waren den »Barmherzigen Schwestern« überaus wichtig. Die Unversehrtheit überprüfte ein alter Frauenarzt, dessen Hände zitterten, auf einem noch älteren Untersuchungsstuhl. Während der gynäkologischen Untersuchungen setzten sich die Nonnen vor den Stuhl und schauten ungeniert zu, egal, wie sehr sich die Mädchen schämten.
»Jede Minute des Tages wurden wir bewacht, auch während des Entkleidens zur Nacht oder beim Waschen. Sämtliche Schamgrenzen wurden dabei verletzt. Die Nonnen standen um uns herum, spielten mit Schlüsseln oder Rosenkränzen, die seitlich an ihren Bäuchen herunterhingen, und fixierten unsere jungen Körper. Was dachten sie bloß dabei?«
Im Waschraum wurde ihnen ein Eimer gereicht, den sie mit warmem Wasser füllten. Dazu Handtuch und Schmierseife. Dann musste jede in eine Toilettenkabine. Nun gingen die Nonnen auf und ab, sie glotzten unter jeden Türspalt, ob die Beine auch weit genug auseinander standen und das Wasser plätscherte, denn das »Unaussprechliche« musste von allem Schmutz und von aller Unkeuschheit gesäubert werden.
Einmal war die Stimmung abends im Schlafsaal etwas ausgelassener, weil die wachhabende Nonne nicht an ihrem Platz war. Das Licht war schon aus. In dem dunklen Raum scherzten die Mädchen über ihre Lieblingslieder. Gisela sang in die Dunkelheit hinein hingebungsvoll einen Song von Elvis Presley. Sie hatte die Nonne nicht hereinkommen hören. Mit einem Ruck wurde sie aus dem Bett gerissen, über den Boden geschleift, den Flur entlang bis zur »Klabause«, jener gefürchteten Zelle mit Glasbausteinen anstelle von Fenstern. Die Ausstattung bestand nur aus einer Holzpritsche, einer groben Decke und einem Blecheimer mit Deckel als Toilette.
Mädchen versuchten, ihren Qualen durch Suizid ein Ende zu setzen
Etwas mehr als die Hälfte aller Heime in der Bundesrepublik war in der Nachkriegszeit allein in katholischer Hand. Die katholische Kirche, insbesondere die daran beteiligten Orden und Gemeinschaften, trifft deswegen die größte Verantwortung für diese unselige Ära öffentlicher Erziehung in der westdeutschen Geschichte. Auf einer Tagung zum Thema »Katholische Heimerziehung in unserer Zeit«, 1959 in Stuttgart, begrüßte Monsignore Alois Hennerfeind, ein Münchner Heimdirektor, die Teilnehmer mit dem Hinweis, dass nach einer Statistik des Deutschen Caritasverbandes 11261 katholische Ordensfrauen und 11127 katholische Laien in den Heimen »aus innerer Berufung und mit der ganzen seelischen Hingabe der erziehungsbedürftigen Jugend dienen wollen«. Der Prälat stolz: »Welch unendlicher Wert an Liebe ist in den 22400 Personen dargestellt, die in unseren 1500 Heimen Tag für Tag erzieherisch wirken!«
In den USA, Kanada und Irland haben ehemalige Opfer dieser Liebe inzwischen das Recht auf Entschuldigung und Wiedergutmachung. Sollten auch die deutschen Heimkinder solche Ansprüche anmelden, müssen sie sich wohl auf einen schweren Kampf gegen die Institution Kirche einrichten. Bei der Deutschen Bischofskonferenz, den Ordensgemeinschaften, bei Caritas und Diakonie weiß man fast nichts darüber, was jahrzehntelang in den konfessionellen Heimen geschehen ist. Man wollte es wohl nicht wissen. Beschwerden wurden meist abgeblockt.
Kein Orden, der Kinderheime unterhielt, hat je eine kritische Untersuchung der dort praktizierten Erziehung veröffentlicht. Die Jubiläumsbroschüren der konfessionellen Heime zum 75- oder 100-jährigen Bestehen überspringen in der Regel diese Zeit. Dabei exekutierten viele Heimleiter und Erzieher nach 1945 zunächst wenig verändert und unreflektiert eine um die Jahrhundertwende ausgeklügelte und vom NS-Regime fortentwickelte Straf- und Besserungspädagogik. Mehr als zwei Jahrzehnte lang interessierte kaum jemanden, was hinter den dicken Mauern geschah.
Elke Page war mit ihrer Schwester Regina 1960 ins Vincenzheim eingewiesen worden. Die 18-jährige Regina musste zusammen mit ihrer knapp einjährigen Tochter Christine kommen. Sie war zwar mit einem 20-Jährigen verheiratet, doch das Jugendamt beanstandete die fehlende gemeinsame Wohnung und hielt sie für eine ordentliche Ehe noch für zu unreif. Ihren Säugling durfte sie jedoch nur einmal in der Woche, am Sonntag, für ein paar Stunden sehen. Obwohl Regina für die Nonnen täglich in einem Saal der Kinderabteilung des Vincenzhauses andere Säuglinge pflegen musste, hatten die Schwestern es dem Fürsorgezögling untersagt, sich im direkt angrenzenden Raum um ihre eigene Tochter zu sorgen. An den Wochentagen konnte sie den Kontakt zu ihrem Kind nur heimlich bewerkstelligen, wenn ihre Freundin Lissy an der Eingangstür »Schmiere« stand.
Die jungen Mädchen im Vincenzheim empfanden es schon als Wohltat, statt in die Wäscherei zur Arbeit in die Großküche abkommandiert zu werden, denn dort hielten sich nur wenige Nonnen auf. Man konnte miteinander flüstern, wenigstens bis die rasselnden Schlüsselbunde der verhassten »Spitzhauben« zu hören waren. Immer wieder versuchten Mädchen, durch Suizid ihren Qualen im Heim ein Ende zu setzen, indem sie aus den oberen Stockwerken sprangen. Recht häufig verletzten sie sich auch absichtlich, in der Hoffnung, dann wenigstens ins Krankenhaus zu kommen. Ein »beliebter« Versuch war es, in der Näherei Stecknadeln zu schlucken. Doch anstelle des erhofften Krankenhausaufenthaltes setzten die Nonnen den Mädchen oft nur eine große Schüssel Sauerkraut vor, das sollte helfen.
Es waren meist nichtige Gründe, die zur Einweisung in die Erziehungsanstalten führten – Gründe, die ein gesellschaftliches Kartell bestimmte, zu dem Jugendbehörden, Gerichte, Lehrer, Nachbarn, Eltern und vor allem die damals noch einflussreichen Kirchen gehörten. Sie legten fest, was gut und böse, wer brav und wer ungezogen war und ab wann ein Mädchen als »sexuell verwahrlost« zu gelten hatte. Sie verkündeten als eine Art Naturgesetz, dass die uneheliche Geburt eine Schande sei.
Gisela hatte als kleines Kind immer darüber gegrübelt, was es denn heiße, »unehrlich« geboren zu sein. Sie hatte das Wort »unehelich« falsch verstanden und einen Begriff gesucht, den sie kannte: unehrlich. Irgendetwas stimmt mit mir nicht, dachte sie, auf ihrer Geburt müsse wohl eine Lüge lasten, wie ein schwarzer Schatten. Das Missverständnis bestand lange, denn sie spürte, dass sie besser niemanden danach fragte. Wen auch? Ihre Mutter nicht, die Nachbarin nicht, die Mitschüler nicht. Bis sie eines Tages als junger Teenager begriff. Was die Sache nicht besser machte.
Der ehemalige Jugendamtsmitarbeiter aus Paderborn Rudolf Mette erinnert sich noch gut an die jahrelang vorherrschende Praxis: »Die Vormundschaftsrichter haben sich die Kinder praktisch nie angesehen. Sie haben nach Aktenlage sehr schnell entschieden, ohne Auseinandersetzungen, ohne großes Hin und Her. Oft habe ich den Antrag auf Fürsorgeerziehung morgens zum Gericht gebracht und konnte gleich warten, bis ich den Beschluss in der Tasche hatte. Der war zwar vorläufig und musste nach Ablauf von sechs Wochen noch einmal bestätigt werden, aber das war Routine. Eine kritische Betrachtung der Einweisungen fand überhaupt nicht statt. Die Richter haben immer für die Heimeinweisung des Kindes entschieden. Immer. So habe ich das erlebt, und so war es überall im Lande.«
Die Gesellschaft wollte mit Wegsperren und Ausgrenzen die drohende weitere »Verwahrlosung« der Jugendlichen bekämpfen. Doch was war das eigentlich? »Beim Jugendamt haben Lehrer angerufen und auf Schulversäumnisse oder häufiges Zuspätkommen hingewiesen«, sagt Rudolph Mette. »Nachbarn berichteten, dass ein Kind einer alleinerziehenden Mutter unpassend gekleidet sei oder mit 15 schon einen Freund oder Freundin hatte, auf Tanzveranstaltungen ging und die Schule schwänzte. Unpassend gekleidet konnte heißen: mit knisterndem Petticoat oder mit engen Hosen, weitem Pullover, offenen langen Haaren oder Pferdeschwanz.«
In Bad Schwalbach schickte 1964 das Amtsgericht den siebenjährigen Thomas sowie seinen neunjährigen Bruder in die geschlossene Fürsorgeerziehung und setzte als »Gründe« unter sein Urteil: »Die Anhörung der Mutter hat ergeben, dass sie mit den beiden Kindern nicht fertig wird. Tatsache ist jedenfalls, das hat die gehörte Mutter selbst zugegeben, dass die Kinder keinen Respekt vor ihrer Mutter haben. Bei Belehrungen lachen sie sie an oder speien aus. Es ist auch schon vorgekommen, daß sie sie u. a. &Mac221;blöde Kuh&Mac220; nennen.« Das reichte.
Den Opfern ist es heute ein Bedürfnis, sich endlich freizureden
Wer dann in einem evangelischen Heim von Diakonissen oder in einem katholischen von Mönchen und Nonnen erzogen wurde, erlebte, dass Reden und Handeln weit auseinander klaffen können: Da die frommen Sprüche der Schwestern und Brüder, hier die unbarmherzige Behandlung, die das Kind am eigenen Leib zu spüren bekam. Die ihnen Anvertrauten galten vielen Ordensbrüdern und -schwestern als verlorene Seelen, als wertlose Geschöpfe unter der Sonne Gottes. Sie pflanzten Heimkindern ein tiefes Schuldgefühl ein, das sie bis heute nicht loswurden. Zugleich sollten sie ihren Peinigern auch noch ständig dankbar sein für das, was ihnen im Heim widerfuhr.
Nach Jahrzehnten scheint es den Opfern aber nun ein großes Bedürfnis zu sein, sich endlich freizureden von jenem Gefüge der Unterdrückung. Der Preis des Schweigens waren oftmals Angst, Panikattacken, chronische Schmerzen, Tabletten- oder Alkoholabhängigkeit, Essstörungen, Aggressionen gegen andere und sich selbst bis hin zu Suizidversuchen. Bei vielen ging nicht nur das Selbstvertrauen kaputt, auch die Fähigkeit, einem anderen Menschen zu vertrauen, wurde lebenslänglich zerstört.
Noch drücken sich die Kirchen vor dem offiziellen Eingeständnis ihrer Schuld gegenüber den ehemaligen Heimkindern, sie wehren die Vorwürfe aber auch nicht mehr einfach ab. Jürgen Gohde, Präsident des Diakonischen Werkes, formuliert sehr gewunden: »An dieser Stelle müssen wir feststellen, dass das zu dem Teil der Geschichte gehört, mit dem wir leben müssen.« Der Protestant benennt immerhin die »obrigkeitsstaatliche Tradition der Erziehung, die unsere deutsche Situation mit geprägt hat«, und von der »die Kirche auch nicht frei gewesen« sei.
Auch auf katholischer Seite hat man begonnen, den Vorwürfen nachzugehen. Caritas, einzelne Orden und auch die Deutsche Bischofskonferenz signalisieren seit neuestem Gesprächsbereitschaft. Bislang hatten nur Einzelne der Verantwortlichen den Mut zu reden. »Unser ganzer Stil war im Grunde gewalttätig«, sagt etwa Günter Matschke, der Anfang der sechziger Jahre als junger Diakon im evangelischen Knabenheim Werl gearbeitet hatte. Die Kasernenhof-Pädagogik habe in allen kirchlichen Heimen geherrscht, die er kannte.
Theo Breuel, Caritas-Abteilungsleiter im Erzbistum Paderborn, hat sogar gegenüber ihm persönlich bekannten Betroffenen, darunter Gerald Hartford, ein Schuldbekenntnis abgelegt, wie sie es von den Kirchen insgesamt erwarten. »Wir bedauern zutiefst, dass Derartiges vorgekommen ist«, sagte Breuel angesichts der geschilderten Vorfälle im Vincenzheim und im Salvator-Kolleg. »Dass so etwas möglich war, können wir uns nur dadurch erklären, dass Menschen versagt haben.«
»Jetzt wird uns erst bewusst, was mit uns geschehen ist«, sagten Regina Page und Elke Meister beim ersten Wiedersehen mit dem alten Gemäuer in Dortmund, in das man sie einmal als Teenager bei den »Barmherzigen Schwestern« eingesperrt hatte. »Wir haben ängstlich unsere schrecklichen Erlebnisse in all den Jahren als schwere Last mit uns herumgetragen.«
Die beiden Schwestern sowie Gisela Nurthen, Gerald Hartford und viele ehemalige Heimkinder wollen sich nicht länger dafür schämen, dass sie so aufgewachsen sind. Die Schande der Heimerziehung haben andere zu verantworten – allen voran die Kirchen.
Deshalb machte sich auch Gerald Hartford auf den Weg, nach Berlin zu seinem Pater Vincens. Als Sohn eines englischen Soldaten war Hartford zunächst in England aufgewachsen und – nachdem seine Mutter allein nach Deutschland zurückgekehrt war – in der Schule wegen Sprachschwierigkeiten nicht mitgekommen. Er funktionierte dann auch als Lehrling in den Augen seiner Meister nicht und wurde zu Pater Vincens ins Heim eingewiesen. Im Erziehungsheim der Salvatorianer-Brüder galt die Arbeit als wichtigstes Besserungsmittel. Hartford erinnert sich daran, im Salvator-Kolleg Klausheide Scheinwerfer für die Firma H. und Matratzen für eine Firma aus der Region gefertigt zu haben.
So wie er wurden überall im Land Heimkinder als billige Arbeitskräfte ausgenutzt, ein System mit langer Tradition in den konfessionellen Heimen. Die alte Mönchsregel »Bete und arbeite« erlebte eine perverse Renaissance in einigen Heimen. Auch die frommen Schwestern in Dortmund bekämpften die Sünde vor allem mit akkordähnlicher Arbeit. Gisela Nurthen musste mit Dutzenden von anderen schulentlassenen Mädchen über 14 Jahren unentwegt nähen und stopfen, waschen, mangeln und bügeln. Aufstehen mussten die Jugendlichen morgens um sechs. Strammstehen zum Morgengebet. Dann waschen, ein hastiges Frühstück, Einteilung zur Arbeit. Mittags gab es nach fünf Stunden die erste Pause. Am Nachmittag noch eine kurze Kaffeepause, es gab »Muckefuck«. Bis zu zehn Stunden schuftete die damals 15-Jährige unbezahlt im immer gleichen Takt. Am Samstag mussten sie und die anderen bis mittags arbeiten. Selbst sonntags wurden noch »in der Freizeit« Taschentücher zum Verkauf in der Nähstube umhäkelt.
Bei der Arbeit herrschte Sprechverbot, nur Marienlieder waren erlaubt. »Mein Platz war an der großen Heißmangel. Das stundenlange Stehen in großer Hitze – selbst im Sommer ohne zusätzliche Getränke –, das ständige Falten riesiger Bettwäsche ließ sämtliche Glieder schmerzen. Die Kolonne trottete abends schweigend durch die Gänge zurück wie geprügelte Hunde.« Das aufgeweckte, am Leben interessierte Mädchen verkümmerte bei den Nonnen. Als Gisela von einem Tag auf den anderen ins Heim gesteckt wurde, war sie Quartanerin mit guten Noten im Mädchengymnasium. Ihr Abschlusszeugnis (»Schulbesuch: regelmäßig, häuslicher Fleiß: gut«) trägt den Vermerk: »Gisela verlässt unsere Schule auf Wunsch der Mutter.« Sie hatte gute Noten, doch im Vincenzheim war es mit dem Gymnasium vorbei. Die Nonnen fanden, Volksschule reiche.
Im Heim bot man ihr großzügig eine »Ausbildung« an: Büglerin oder Näherin. Auch sonst gab es wenig Förderung. Bei kurzen Ausflügen aus dem geschlossenen Heim unter strenger Aufsicht der Nonnen in den nahe gelegenen Hoesch-Park mussten die Teenager Bi-Ba-Butzemann, Plumpsack und andere Ringelreihen-Spiele machen, »zum Gespött aller, die uns sahen«, erinnern sich die Geschwister Elke und Regina. Es gab weder Radio noch Zeitungen für die Mädchen, außer einem Kirchenblatt. Von dem, was sich außerhalb der Mauern ihres Heimes zutrug, erfuhren sie so gut wie nichts.
Die hauseigene Großwäscherei war für die Vincentinerinnen offenbar ein lukratives Geschäft. Die Arbeit bringe, so schrieb 1962 der Dortmunder Kirchliche Anzeiger ganz offen, »um die Steuerzahler etwas zu beruhigen«, einen »nicht unerheblichen Teil« der Kosten ein. Hotels, Firmen, Krankenhäuser und viele Privathaushalte zahlten gut – und fragten nicht, wer da fürs Reinwaschen missbraucht wurde. »Die Kunden bekamen uns nie zu sehen, es gab extra einen Abholraum, zu dem war uns der Zutritt streng verboten«, erzählt Gisela. Lohn gab es so wenig wie Taschengeld – mithin auch keinen Rentenanspruch für die Heimjahre. »Wir waren jugendliche Zwangsarbeiter«, sagen ehemalige Heimkinder heute verbittert.
Die Diakonie Freistatt bei Diepholz, eine Zweigstelle der von Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel, hat das »ora et labora!« brutal umgesetzt. Freistatt war mit seiner Presstorfproduktion, mit seinen Schlossereien und Schmieden von Beginn an als reiner Wirtschaftsbetrieb konzipiert, mit billigen Arbeitskräften. Wenn nicht gerade Choräle gesungen wurden, mussten die 14- bis 21-Jährigen im Sommer wie im Winter im Moor Torf stechen und pressen. In den meisten Heimen gab es Produktionswerkstätten für Billigartikel, die eher an die Arbeit hinter Gefängnismauern erinnerten: Es wurden Kugelschreiber, Lackstifte, Verpackungen und Ähnliches produziert. In Don-Bosco-Heimen stellten Minderjährige in zehnstündigen Schichten 4000 Kugelschreiber pro Tag her. Die Entlohnung: »Anerkennungsgutscheine« für fünf Zigaretten oder zwei Flaschen Cola.
Die Kinder mussten hart arbeiten – für einen erbärmlichen Hungerlohn
Im Heim Zum Guten Hirten in Münster herrschte jahrzehntelang das Schweigegebot. Bei der Arbeit, im Speisesaal und in den Schlafsälen war das Sprechen untersagt. Schweigsam, effektiv und einträglich – so sollten die Zöglinge sein. Unterlagen aus dem Guten Hirten in Münster belegen die erbärmliche Bezahlung der Zöglinge selbst noch zu Beginn der siebziger Jahre: »Das Entgelt für eine 40-stündige Arbeit in der Woche schwankt zwischen 2 und 4 DM.« In der Regel erhielten die Kinder und Jugendlichen – trotz harter Arbeit mit bis zu 48 Stunden die Woche – keinen entsprechenden Lohn. Sie waren auch nicht sozialversichert. Die »verlorenen Jahre« sind für die Betroffenen heute noch finanziell ein Debakel. Sie fehlen bei der Rente, die für die meisten ohnehin recht schmal ist.
Lange Zeit galten für Ausreißer, Arbeitsverweigerer und »Versager« besondere Strafen. Diese reichten von spezieller Kleidung über kahl geschorene Köpfe bis hin zum längeren Einsperren: Bis weit in die siebziger Jahre hielten viele Heime an der Praxis fest, Kinder gewaltsam zu isolieren, in den eigens hergerichteten, oft fensterlosen, gefängnisähnlichen Zellen, den »Karzern«, »Klabausen« oder »Bunkern«. In den Hausordnungen hieß das: »Herausnahme aus der Gemeinschaft durch Isolierung in Einzelzimmer«.
Oder wie erinnert sich der Berliner Pater Vincens? »Es gab keine Strafzellen, Besinnungsräume nannten wir das!« Bei einer Untersuchung in drei württembergischen Heimen im Jahre 1967 inspizierte der Erziehungswissenschaftler Hermann Wenzel derartige »Besinnungszellen«. »Hinter einem schmalen Gang, der durch Betonwabenfenster nur spärlich Licht erhält, liegen drei Einzelzellen, die circa 3 Meter lang, 1,50 breit und 2,50 hoch sind. Eine Belüftungsanlage gibt es nicht. In diesen Zellen befinden sich ein an die Wand geschlossenes Klappbett, ein Wandtisch und ein Wandsitz. Die Wände sind dunkel mit Ölfarbe gestrichen, die Türen mit Zinkblech beschlagen und durch Spezialschlösser gesichert. Spärliche Beleuchtung erhalten die Zellen vom Gang her durch ein mit dichtem Maschendraht verkleidetes Stahlgitter, das sich über der Tür befindet.«
Arrest bekam ein Delinquent dort oft aus nichtigem Grund, etwa wenn er versucht hatte, heimlich Briefe an der Zensur vorbeizuschmuggeln – an die Mutter, den Freund oder eine Freundin. Wenzel konstatierte 1967, dass in den ersten drei Tagen der Arreststrafe lediglich »karge Kost« gereicht wurde, in anderen Fällen gab es Wasser und Brot, »wegen oftmals nur geringfügiger Anlässe«, wie »freches Benehmen« oder »Onanieren«.
Erst durch die »Heimkampagne« der Apo kamen Reformen in Gang
Erst die »Heimkampagne« der Apo leitete zu Beginn der siebziger Jahre einen Bewusstseinswandel ein. Die Journalistin Ulrike Marie Meinhof entrüstete sich 1968, dass Familien oft nur »den Heimausweg« wüssten, »weil diese Gesellschaft sich immer noch nicht darauf eingerichtet hat, dass sie zehn Millionen berufstätige Frauen hat und weit über eine Million berufstätige Mütter mit Kindern unter 14. Und weil wir eine Familienpolitik haben, die nichts tut, um die Eltern über Erziehungsfragen aufzuklären, nichts.«
Nach den exemplarischen »Befreiungen« von Heimkindern im Sommer 1969, die an vorderster Stelle von Andreas Baader und Gudrun Ensslin durchgeführt wurden, kamen Reformen in den deutschen Erziehungsanstalten in Gang. Sie besetzten das Büro des Frankfurter Jugendamtsleiters und erzwangen Wohnraum für die befreiten Heimkinder. In vier Wohnungen wurden Wohnkollektive gegründet, nach deren Vorbild die noch heute üblichen »betreuten Jugendwohngemeinschaften« enstanden.
Doch die Kinder, die in den Heimen zuvor gedemütigt und misshandelt worden waren, hatten die Reformer vergessen. Die neuen Erzieher und Heimleiter interessierten sich im anstrengenden Alltag ihrer Arbeit in den achtziger und neunziger Jahren nicht für die Kinder, die vor ihrer Zeit in denselben Räumen geschlagen worden waren.
In der engen und muffigen Zelle, in der die Salvatorianer-Brüder Gerald Hartford bis 1970 einsperrten, hing ein Zettel an der Wand. Darauf stand: »Mein lieber Junge, so wie du es bisher getrieben hast, kann und darf es nicht weitergehen. Die menschliche Gesellschaft mag dich wegen deines schlechten Betragens nicht mehr in ihrer Mitte haben, sie hat dich deshalb in unsere freie und offene Anstalt eingeliefert. Durch die Fortdauer deiner schlechten Führung sieht sich deine Behörde aber leider gezwungen, noch straffere Maßnahmen zu deiner Rettung zu treffen und dir ein Einzelzimmerchen anzuweisen, damit du endlich Einkehr in dich selbst hältst und dein Leben nach den Geboten Gottes einrichtest.« Das Gefühl der Ausgrenzung, der Demütigung und Erniedrigung hat Gerald Hartford bis heute nicht verlassen. Die meisten haben, so wie er, diese Zeit tief in ihrem Inneren weggeschlossen, um überhaupt weiterleben zu können.
Gisela Nurthen hatte ihr Schweigen gebrochen. Dass sich ihre Peinigerinnen bei ihr entschuldigen, wird sie nicht mehr erleben. Sie starb wenige Tage vor Weihnachten.©  DIE ZEIT 09.02.2006 Nr.7

Frontal 21 - Sendung vom 07. Februar 2006
Beitrag: Prügel im Namen Gottes –
Die dunkle Geschichte kirchlicher Jugendheime
von Daniela Schmidt und Eva Schmitz-Gümbel
Anmoderation:
Manchmal wird, nach langer Zeit, aus Geschichte wieder Gegenwart. Zwischen 1950 und 1970 waren bis zu einer Million Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht, und nicht wenige wurden misshandelt, gequält und ausgebeutet. Die oft heimat- und bindungslosen Kinder waren der Willkür ihrer geistlichen Erzieher häufig hilflos ausgesetzt. Die Mauern des Schweigens waren hoch, erst langsam trauen sich die heute Erwachsenen diese Misshandlungen anzuprangern. Daniela Schmidt und Eva Schmitz berichten über die verdrängte Geschichte deutscher Heimkinder. Sie wurden dabei Zeuge einer späten Begegnung mit unbarmherzigen Schwestern.
Text:
Ausbeutung, Demütigungen, Schläge und Misshandlungen, der britische Kinofilm „Die unbarmherzigen Schwestern“ löst auch bei ehemaligen Heimkindern in Deutschland quälende Erinnerungen aus.
Die kleine Carola wurde kurz nach der Geburt in einem katholischen Kinderheim in Eschweiler abgegeben. Die Ordensschwestern peinigten sie im Namen der christlichen Nächstenliebe – 14 Jahre lang.
O-Ton Carola K., ehemaliges Heimkind:
Das Schlimmste war, ich musste mein eigenes Grab graben. Sie hat mich nachts aus dem Bett geholt oder abends, es war dunkel und hat mir das aber auch vorher angekündigt: Ich komm’ dich holen. Ich musste Gummistiefel anziehen, Anorak, sie kam mit und hat gesagt: Jetzt fängst Du an, jetzt hat Dein Stündlein geschlagen. Eine Scheinhinrichtung war
das.
Eine Scheinhinrichtung - da war Carola neun Jahre alt. Schwester Theofridis gehörte dem Orden der „Armen Dienstmägde Jesu Christi“ an, das klingt für Carola wie Hohn.
Die Erfahrungen im Heim hat sie nicht verwunden. Mit 39 Jahren wurde sie arbeitsunfähig – bis heute leidet sie unter Panikattacken und Todesangst – so die behandelnden Ärzte.
Michael-Peter Schiltsky ist neun Jahre, als ihn seine Mutter in das evangelische Knabenheim Westuffeln steckt. Es ist das abrupte Ende seiner Kindheit. Was er in den ersten Nächten erleiden muss, verfolgt ihn bis heute.
O-Ton Michael-Peter Schiltsky, ehemaliges Heimkind:
Das ist der Raum, in dem ich die ersten Nächte verbracht habe hier. Das ist der Raum, in dem sich gleich am Anfang dann jemand zu mir ins Bett gelegt hat. Es passierte etwas, was nicht normal war, was nicht richtig war, was nicht einzuordnen war, wo man nicht wusste, was es soll, was auch weh getan hat, dann nicht mehr und man darf nichts darüber sagen.
Die Vergewaltigungen hören erst auf, als der Junge in den Schlafsaal zu den anderen verlegt wird. Aber Demütigungen und Durchprügeln mit Lederriemen sind weiter an der Tagesordnung.
O-Ton Michael-Peter Schiltsky, ehemaliges Heimkind:
Das war normal, und zwar nicht einfach die Ohrfeige, so mal flink sich eine fangen, sondern tatsächlich das Durchgeprügelt werden, bis hin zu Formen der Prügel, die im Speisesaal regelrecht exekutiert wurde, d. h. vor dem Küchenpersonal den Arsch blank ziehen und sich Schläge
aufzählen lassen.
Zwischen 1950 und 1970 gibt es in Deutschland 3000 Heime, 80 Prozent davon in kirchlicher Hand. Insgesamt werden dort etwa eine Million Kinder und Jugendliche erzogen und gezüchtigt: ohne staatliche Kontrolle, der Willkür ausgeliefert.
So auch die beiden Schwestern Elke und Regina. Im katholischen Fürsorgeheim der barmherzigen Schwestern in Dortmund durchleiden sie, was die Nonnen unter Erziehung verstanden.
Wegen Nichtigkeiten werden sie tagelang in die gefürchteten Einzelzellen weggesperrt, die sogenannten Klabausen.
O-Ton Elke Meister, ehemaliges Heimkind:
Ich bin bald durchgedreht, ich bin diese zweieinhalb Meter, die die vielleicht lang war, auf und ab gelaufen, hab alle Lieder vor mich hingesummt und ein mal eins aufgesagt und solche Dinge, damit ich nicht durchdrehe. Ich hatte nichts, ich hatte kein Buch, kein Nichts, nur kahle Wände, die Pritsche und dann kam jemand mal einmal am Tag oder so
und brachte Wasser und Brot.
Der Autor Peter Wensierski fand Zugang zu Hunderten ehemaliger Heimkinder, sichtete Dokumente und stieß auf ein jahrzehntelang gehütetes Tabu.
O-Ton Peter Wensierski, Buchautor:
Genauso wie viele der Heimkinder diese Zeit verdrängt haben und weggeschlossen haben, sie aber doch immer noch belastet in ihrem Leben, genauso verdrängt haben auch die Täter, die Beteiligten, die Betreiber der Kinderheime, die Erzieher diese Zeit und haben nicht darüber gesprochen. Es
gibt so was wie ein Schweigekartell bisher von beiden Seiten.
Dieses Schweigekartell haben die Kirchen von sich aus bis heute nicht gebrochen. Wir wollten mit der Leitung der katholischen und evangelischen Kirche sprechen und werden weiter verwiesen – an Caritas und Diakonie.
O-Ton Jürgen Gohde, Präsident des Diakonischen Werkes
der EKD:
Wir bedauern das durchaus, dass solche Dinge passiert sind und dass diese Missstände da waren, aber wir sind daran interessiert, dass sie nicht verharmlost werden, dass wir das Leid wahrnehmen dieser Menschen und diesen Prozess mit ihnen zusammen suchen vor Ort, damit es eine gemeinsame Zukunft geben kann.
O-Ton Theo Breuel, Caritas Paderborn:
Was damals gewesen ist, waren die Entgleisungen einzelner Personen und insofern geht es auch um das Einzelschicksal der Betroffenen und nicht um kategoriale Entschuldigungen, die eher wirken wie so was wie, man hat seine Pflicht und Schuldigkeit getan und damit war es das dann auch.
Einzelschicksal? Hunderte Zeugenaussagen belegen: das Ganze hatte Methode.
Das begreifen jetzt die Opfer, finden den Mut, zu reden und die Verantwortlichen zur Rede zu stellen. Wie die beiden Schwestern Elke und Regina. Nach 42 Jahren treffen sie erstmals die damalige Oberin und die geistliche Erzieherin.
Konfrontation.
O-Ton Alburga:
Ich begrüße Sie... Dasselbe Gesicht...ja, wir haben uns mal gehabt, nicht?
O-Ton Elke:
Ja, wir haben uns mal gehabt...
O-Ton Alburga:
Nein, das ist dasselbe Gesicht...
O-Ton Elke Meister, ehemaliges Heimkind:
Ich hab meinen Arm gebrochen gehabt, ich musste an der Knopfannähmaschine sitzen und trotzdem arbeiten und da hat mir eine einen Witz getuschelt und ich musste dann nach vorne kommen und sollte sagen, was die mir erzählt hat. Ich habe das Mädchen nicht verraten und dafür bin ich drei Tage bei Wasser und Brot in die Klabause gekommen.
O-Ton Schwester Alburga:
Das gibt’s doch nicht, also das gibt es doch nicht...
O-Ton Oberin:
Das ist mir auch unbekannt...
O-Ton Alburga:
Nein, also das gibt es nicht...
O-Ton Elke:
Soll ich ihnen Briefe zeigen, wo ich es damals geschrieben habe, damals. Briefe, die ich damals heimlich geschrieben habe und sie können sie von mir aus lesen.
O-Ton Oberin:
Es war doch auch ein Erziehungsheim. Es musste ihnen doch etwas vermittelt werden...
O-Ton Elke (off):
Ein Fürsorgeheim und diese Fürsorge haben wir aber doch nicht erlebt bei ihnen!
O-Ton Regina Eppert, ehemaliges Heimkind:
So wurde uns das doch indoktriniert immer wieder, ihr seid nichts wert, ihr taugt nichts und wartet mal, bis ihr draußen seid, dann wird das wieder passieren und wer weiß, was ihr alles macht.
Ich vergesse es nie, Schwester Vincentine, sie stand neben mir, ich konnte kein Porreegemüse und Schwarte oder so was essen. Sie hat neben mir gestanden, ich musste es essen. Ich hab gebrochen, es hört sich vielleicht gemein an jetzt oder eklig. Ich musste es aufessen, bis der Teller leer war. Warum hat man uns so was angetan?
O-Ton Schwester Arcangela, damalige Oberin: Also, darin zu wühlen hat keinen Zweck mehr (Off: Das istjetzt nur eine Aufklärung). Es schmerzt Sie, es schmerzt uns. Denn ganz gewiss - also ich glaube - ich setze mich für jede Mitschwester ein: Böses gewollt hat sie nicht.
Und so sehen die barmherzigen Schwestern keinen Anlass sich
bei den ehemaligen Heimkindern zu entschuldigen – noch nicht.

Abmoderation:
Es sei doch gut gemeint gewesen, meinte die Nonne eben entschuldigend. Das stimmt sicher in vielen Fällen, gut wird es dadurch aber nicht. Für viele der geschädigten Kinder wird das Heim immer der innere Horror bleiben. Die verantwortlichen Träger haben diese Schuld noch zu begleichen.



Knabenheim Westuffeln