Harry Z.

Der Truppenübungsplatz im Kinderzimmer
oder wenn ich könnte, wie ich wollte

Inhaltsübersicht
1. Die Vorgeschichte
2. Einzelne Kinderheime
2.1. »Haus in der Sonne«, St. Peter Ording, ca. 1972-1974
2.2. »Villa Ludi«, Nienbergen/Niedersachsen, ca. 1976-1978
2.3. Rauhe Sitten im »Rauhen Haus«, Hamburg-Horn, ca. 1979/80
3. Weitere Lebensgeschichte
4. Spätfolgen
5. Vergessen und vergeben

1. Die Vorgeschichte
Ich war ein Heimkind mit Erfahrung vom ersten Tag an, denn mein Leben begann im Babyheim, und wäre ich dort geblieben, ginge es mir heute vielleicht besser. Doch die Dinge kamen anders, und wenn ich daran denke, ergreift mich das kalte Entsetzen. Die Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Bei mir hat das noch nicht gewirkt.
Die Liebe ist, so sagt man, die einzige wirklich unüberwindliche Kraft unter der Sonne. Aber sie kann auch eine schreckliche Macht sein, eine fürchterliche Grausamkeit. Die Frau, die meine Mutter sein wollte aber selbst die Rolle meiner Pflegemutter nicht ausfüllen konnte, war ausgerechnet Deutschlehrerin. Sie liebte meinen Vater, einst ihren Schüler, aber er sie nicht. Also adoptierte sie mich direkt aus dem Babyheim, seinen unehelichen Sohn, als Ersatz für den unerreichbaren Mann, und versuchte aus mir zu machen, was sie selbst nie zuwege brachte: der Regensburger Domspatz, zum Beispiel. Der bin ich nie geworden. Dafür hasse ich heute Weihnachtslieder, jedenfalls, wenn ich sie singen soll. Auch bin ich kein Tennisspieler geworden, dafür verachte ich den Sport. Verwunden hat sie das nie. Ich auch nicht.
Der Dreck, die Gewalt, die Scheiße auf der Straße, all das ist mir nach dreißig Jahren noch immer in lebhafter Erinnerung und doch nur die halbe Wahrheit, denn man gewöhnt sich daran. Abrißhäuser finde ich heute sogar romantisch. Viel schlimmer ist das Gefühl des Verlassenseins: der Brief an Mami mit dem Hilferuf, der zurückkommt – mit allen Rechtschreibfehlern korrigiert wie eine Klassenarbeit, zum Beispiel. Oder daß ich Jahre gebraucht habe sie dahin zu kriegen, nicht mein körperliches Wachstum nach dem Duschen zu kommentieren sondern zu respektieren, daß ich lieber ungesehen nackig bin. Oder das Schweigespiel, das in ausschließlicher Kommunikation über Zettel besteht, wochenlang wie Fremde unter einem Dach – mit Essens- und Toilettenzeitplan, so daß man sich auch nicht zufällig begegnet. Damals habe ich das für selbstverständlich gehalten, wie auch daß Mami jene, zu denen sie mich schickt anweist, wie sie meinen Willen zu brechen hätten – und zwar in einem Brief, den sie mir mitgibt: ein Kind mit Gewaltanleitung.
Zweimal habe ich versucht zu sterben, einmal als Hilferuf und einmal ernsthaft (und beinahe erfolgreich). Beide Male hat sie mir das nicht mal geglaubt. Dafür hatte sie, das muß ich anerkennen, immer Geld mich rauszuhauen, wenn ich wieder irgendwas angestellt hatte, und das war nicht gerade selten. Geld gab es immer. Bittere Geschenke...
2. Einzelne Kinderheime
Ich beschreibe in dem hier gegebenen Rahmen nur einige Vorkommnisse; viele weitere würden mir einfallen. Ich schreibe auch nur über einige Heime, in denen ich längere Zeit zubrachte – in manchen anderen war ich nur ein paar Wochen. Insgesamt war ich bis zu meinem 18. Lebensjahr in acht verschiedenen Heimen. Dies ist das erste Mal, daß ich öffentlich darüber schreibe.
2.1. »Haus in der Sonne«, St. Peter Ording, ca. 1972-1974
Das Heim war eigentlich als Erholungsort für Stadtkinder gedacht, und alle sechs Wochen wechselten die Insassen, die meist aus Frankfurt/M. kamen. Heimleiterin war eine gewisse L.P., die nach dem Krieg als Flüchtling nach St. Peter gekommen war. Ich war zusammen mit einem Jungen namens J. der einzige „Dauergast“. Sekundärtugenden bildeten das hauptsächliche Erziehungsprogramm, insbesondere Tischsitten. Wie hasse ich dieses Wort, noch heute, Jahrzehnte danach! Vor dem Essen wurde gesungen („hoch auf dem gelben Wagen“), ich hasse solche Lieder bis heute. Hielt ich den Löffel falsch in der Hand („wie eine Schaufel“), mußte ich folgerichtig mit einer wenig sauberen Sandkastenblechschaufel essen, die vom Spielplatz geholt wurde. Auch Zwangsessen war an der Tagesordnung, und bis heute gibt es eine Zahl von Speisen, bei denen ich postwendend erbrechen müßte. Wer nicht aufaß, bekam den gleichen Teller bei der nächsten Malzeit wieder, manchmal ein tagelanges Spiel, bis das alte Essen faulig roch. Am widerlichsten waren ein grauer Grützbrei und heiße Milch mit Haut. Beim Füttern wurde mir die Nase zugehalten, damit ich den Mund aufmache. Für Ellenbogen auf dem Tisch oder einen krummen Rücken gab es Strafen aber selten Hiebe (was nicht heißt, daß ich nicht auch verprügelt worden wäre).
Medizinische Versorgung war (jedenfalls für mich) nicht verfügbar. Einmal hatte ich mir beim Spielen mit einem Holzstück einen Splitter unter einen Fingernagel der rechten Hand gespießt, was höllisch weh tat. Die Heimleiterin wollte das Objekt mit einer Nähnadel (!) unter dem Nagel hervorholen, was ich aus Schmerz und Angst erfolgreich mit viel Gebrüll und Tränen verweigerte; einen Arzt bekam ich dennoch nicht zu sehen. Der Splitter eiterte langsam von selbst nach oben.
Dafür beherrschte man die Briefzensur ganz gut: alle Briefe, die ich schrieb, wurden von der Heimleiterin gelesen und zensiert. Ich mußte Rechtschreibfehler korrigieren und durfte nicht schreiben, was der Heimleiterin nicht gefiel. Manchmal wurden mir meine Briefe an meine Adoptivmutter diktiert. Etwas selbst schreiben, zukleben und abschicken war unmöglich. Die Heimleiterin hütet die Briefmarken und bringt alles selbst zur Post, oder eben auch nicht.
Ich war immer anders als die anderen Kinder, habe mich nicht für Autos interessiert und kein Fußball gespielt. Das hat mir in der Schule oft die Außenseiterrolle eingetragen, und in St. Peter erstmals die Prügel. Das hat mir meine Adoptivmutter nicht geglaubt und die Erzieher haben es ignoriert. Mit Entsetzen denke ich an den Tag zurück als ich auf einem der Deiche mit der dort reichlich vorhandenen Schafscheiße eingeschmiert wurde. Keiner ist mir zu Hilfe gekommen, noch heute prägt mich dieses Erlebnis denn ich kann seither auf nichts und niemanden mehr vertrauen. Aber auch von der Heimleiterin habe ich Schläge kassiert, zum Beispiel einmal dafür, daß ich nicht wußte, wie man das Wort „schnell“ richtig schreibt. Sie schlug entweder mit der Hand zu oder mit einem dünnen Stock, den sie zu diesem Zweck in ihrem Büro aufbewahrt.
Die hygienische Lage war eher schlecht. Es gab nur einen großen kollektiven Waschraum und zwei Toilettenkabinen, vor denen sich nach den Mahlzeiten lange Schlangen bildeten. Es wurde nur ein Mal pro Woche gemeinsam geduscht, was dazu führte, daß einige Kinder wohl etwas rochen. Mir brachte das an der Schule wenig vorteilhafte Spitznamen ein.
Wie alle Kinder liebte ich Süßigkeiten, die mir manchmal von meiner Adoptivmutter per Post geschickt aber bei Eintreffen prompt weggenommen wurden. Solche konfiszierten Leckereien wurden entweder stückchenweise rausgerückt oder unter alle Kinder verteilt. Allerdings brach ich oft nachts in die Speisekammer ein und aß, was mit schmeckte, also sämtliche von allen Kindern konfiszierten Leckereien. Einen diesbezüglichen Nachholbedarf hatte ich noch Jahre später. Ob das etwas damit zu tun hat, daß ich inzwischen Diabetiker bin, weiß ich nicht. Immerhin kümmert man sich insoweit um meine Gesundheit daß man versucht, mir die Leckereien abzugewöhnen. Hierzu spielt man kleine Spielchen mit mir, etwa dieses, daß ich als Einziger zu Weihnachten keinerlei Geschenke kriege, gar nichts, und am nächsten Tag einige wenige Süßigkeiten, die angeblich von den anderen Kindern für mich gesammelt worden sind. Warum man das mit mir macht, habe ich nie erfahren; möglicherweise sollte ich lernen, mich schuldig zu fühlen.
2.2. »Villa Ludi«, Nienbergen/Niedersachsen, ca. 1976-1978
Dieses Heim war in einer ehemaligen Gastwirtschaft untergebracht, zu der ein weitläufiges Grundstück gehört. Das Gebäude ist in baufälligem Zustand und wird während meiner Zeit dort mehrfach durch Baumaßnahmen erweitert. Der Heimleiter ist auch für mehrere andere Heime in anderen Dörfern der Umgebung zuständig.
Die Unterdrückung der Sexualität gehörte hier offenbar zum Erziehungsprogramm. Selbst heute weiß ich vieles, was ich dort erlebt habe, noch nicht einzuordnen, sehr wohl aber zu berichten. So tauchte eines Tages auf dem Hof ein Polaroid von einem Penis auf, das ich fand und natürlich überall herumzeigte, wie Kinder bei so was halt so sind. Meine kindliche Angeberei hatte aber Folgen: alle Kinder aus diesem Heim (und mehreren anderen zugehörigen Heimen, u.a. in Malsleben) wurden zu einer Versammlung („offenes Team“) zusammengeholt und ich mußte bekennen, das Bild von meinem Penis gemacht zu haben – was zwar nicht stimmte, aber nur so konnte ich den mir angedrohten Rauswurf auf die Straße vermeiden. Daß die das gar nicht gedurft hätten, weiß ich natürlich erst heute. Und da ich einen Polaroid-Apparat besaß, war ich natürlich verdächtig. Heute halte ich es für sehr gut möglich, daß mir das Bild absichtlich untergeschoben wurde – nur nicht, weshalb. Paradoxerweise warf man mir aber gleichzeitig auch Schüchternheit in sexueller Hinsicht vor und zwang mich in die erste Reihe zu kommen, als die Kinder zwei kopulierende Hunde beobachteten, die sich beim Akt verklemmt hatten und nicht mehr auseinanderkamen; erste schüchterne Küsse mit einer Freundin führten aber prompt zu allen erdenklichen Strafen. Wenn man mitkriegte, daß ich zur Toilette ging, wurde bisweilen von den Erziehern gelauscht, was ich in der WC-Kabine mache; möglicherweise wollte man wissen, ob ich dort onaniere. Diese Maßnahmen gingen hauptsächlich von einer Erzieherin namens R. W.-L. aus, die auf ihr Studium an der Universität Göttingen stolz war. Die Frau ist heute noch im Telefonbuch einer niedersächsischen Stadt zu finden, wo sie eine Schulberatungsstelle für Eltern von Problemkindern betreibt. Wie passend!
Es ist übrigens möglich, daß die regelmäßigen Saunabesuche eine Bedeutung in dieser Richtung hatten, denn die Teilnahme und damit die kollektive Nacktheit waren Pflicht. Möglicherweise war auch das ein verqueres Erziehungskonzept.
Ein weiterer Aspekt an diesem Heim war eine Art, eh, Begabtenförderung. Ich lieh mir Bücher über Transistortechnik aus der Schulbücherei aus, die ich zwar nur halb verstand, die mich aber lehrten, aus drei Transistoren, ein paar Widerständen und einer Batterie einen kleinen Verstärker zu basteln. In einer Schulstunde demonstrierte ich meine kleine Erfindung, indem alle Kinder einen Kreis bildeten. Als die letzten beiden ganz hinten sich die Hand gaben, ging auf meiner Leiterplatte eine Glühbirne an – denn mein kleines Gerät konnte den Stromfluß durch die Körper aller Kinder messen. Prompt aber nahm man mir (angeblich auf den Rat eines Psychologen hin) alle technischen Basteleien weg, denn ich sollte mich nicht mit Elektronik beschäftigen. Auch durfte ich auf meine Briefe nicht „Dr.“ vor den Namen meiner Mutter schreiben und wenn ich Fremdwörter benutzte, wurden diese korrigiert. Das wäre unangemessen. Man gab mir den Spottnamen „Professor“, was indes zweifellos treffend ist, denn in späteren Jahrzehnten habe ich wirklich unterrichtet.
Immer wieder kommt es zu Razzien, bei denen meine persönlichen Sachen durchwühlt werden – offenbar, um versteckte Technikbasteleien zu finden. Offiziell wird das mit dem brennbaren Zustand des Hauses begründet, das nur aus trockenen Balken und bröseligen Lehmwänden besteht. Als es einmal wegen Schweißarbeiten wirklich zu brennen beginnt, warne ich alle vor dem im Obergeschoß beginnenden Feuer, das erfolgreich im Keim erstickt wird. Bedankt hat man sich dafür aber nie.
Natürlich war das Essen auch hier ein Thema. Hier ging es aber weniger um Zwangsessen oder darum, wie ich das Besteck hielt, sondern daß ich zu gierig wäre. Mir wurde daher das Essen regelmäßig weggenommen – jedenfalls, wenn es mir schmeckte. Süßspeisen sind oft gänzlich tabu.
Die Villa Ludi war übrigens in Wirklichkeit eine Villa Laboris, ein Ort der Arbeit. So hatte ich mich zunächst, wie es wohl alle Kinder tun, um den Tischdienst gedrückt; das aber hatte zur Folge, daß ich fortan stets und immer die Drecksarbeit bekam. Auch an endlose Gartenarbeit kann ich mich gut erinnern – und an die Strafen, als ich die falschen Büsche ausriß. Eine Tischlerei und eine Töpferei dienten der Beschäftigungstherapie, aber man nahm mir meine Werke weg, damit ich Geduld lernen solle – was bis heute nicht gewirkt hat.
Aus dem gleichen Grund wird mir alles weggenommen, was mir sonst Spaß machen könnte. Als ich eines Tages von meiner Adoptivmutter einen Fotoapparat geschenkt kriege findet man schnell einen Grund, diesen zu konfiszieren. Nach der oben geschilderten Affäre mit dem Polaroidbild durchsucht man meine sämtlichen privaten Fotos, um „Pornos“ zu finden. Ich bin zu dieser Zeit ca. 14 bis 15 Jahre alt, also vermutlich kein Sexualstraftäter. Wenn ich an irgendeiner Arbeit Spaß habe, wird mit diese Betätigung mit der Begründung verboten, ich biedere mich an. Alle Kinder erhalten vom Heim ein Fahrrad, nur mir gibt man keines. Andere Kinder dürfen mich bestehlen, ohne daß ich mich wehren kann. Selbst wenn es für Diebstähle Zeugen gibt, wird nichts in meinem Sinne unternommen.
Prügel hat es auch hier gegeben, aber nur ein Mal vom Heimleiter U. S. Dafür um so öfter von anderen Kindern, denen ich körperlich in der Regel unterlegen war. Heute erscheint es mir auch nicht als Zufall, daß ich immer mit denen auf einem Zimmer schlafen mußte, vor denen ich am meisten Angst hatte – auch mit einem, der mir in Gegenwart der Erzieher Gewalt angedroht hat und dafür bekannt war, solche Drohungen auch in die Tat umzusetzen. Mit Schrecken denke ich noch heute an die Nacht, die folgte. Das hat, soweit ich erkennen konnte, für diese anderen Kinder niemals Folgen gehabt. Ich werde jedoch bestraft als ich mich ein Mal in einer Keilerei erfolgreich wehre.
Zum therapeutischen Programm gehörte auch ein Stall mit Hasen und anderen Kleintieren, an denen die Kinder Verantwortung üben sollten. Natürlich mußte man Grünzeug sammeln, um die Tiere zu füttern, aber wer dabei erwischt wurde, am Feldrand eine Zuckerrübe ihrer Blätter zu berauben, mußte sich beim Bauern unter Aufsicht eines Erziehers entschuldigen (obwohl das den Landwirten irgendwo zwischen egal und peinlich war). Eines Tages rastete jemand aus und tötete alle Tiere, der Stall war voller Blut und Fetzen. Einige der armen Viecher waren offensichtlich an der Wand zerschmettert, andere aufgespießt oder lebendig zerhackt worden. Ich war wurde natürlich verdächtigt, aber war es nicht. Allerdings hätte es sehr gut gewesen sein können, denn der seelische Druck war extrem. Mit einer solchen Explosion hatte man aber offenbar nicht gerechnet. Nach dem Hasenmord durfte niemand mehr ein Tier besitzen.
Ein Gerücht behauptete, jemand aus diesem Heim, der eine Lehre bei einem Steinmetz machte, habe für den Heimleiter aus Wut einen Grabstein hergestellt. Ob das stimmt, weiß ich nicht, aber ich halte es für glaubwürdig.
2.3. Rauhe Sitten im »Rauhen Haus«, Hamburg-Horn, ca. 1979/80
Gewalt ist auch eine der Grunderfahrungen meiner Hamburger Zeit. War ich schon früher immer der, der die Klassenkeile kriegt, war es hier besonders übel. Eine Rolle spielte dabei auch ein Erzieher namens S., der offensichtlich andere Insassen gegen mich aufhetzte. Er schlug aber nicht selbst zu, sondern hatte subtilere Methoden. Das schlimmste Erlebnis in dieser Richtung war ein Besuch meiner Adoptivmutter. Als sie diesen Erzieher sprach gelang es mir, sie von der Schule aus anzurufen und am Telefon vor dem Mann zu warnen. Sie wiederholte aber in Gegenwart des Erziehers S. jedes Wort, das ich sagte, so daß dieser genau wußte, was ich über ihn dachte. Die Quittung bekam ich bei der nächsten Gelegenheit, als der Mann mich vor der ganzen Gruppe verspottete. Ob er auch über sich selbst nachgedacht hat, weiß ich nicht.
Ich erinnere mich auch gut an die unvorhersagbaren Brüller, die ich mir von diesem Mann immer wieder fing. Einmal kam ich abends von einem Klassentreffen und wurde angebrüllt ohne daß mir klar gewesen wäre, weshalb. Körperliche Angriffe anderer Kinder auf mich waren bekannt, wurden aber billigend geduldet. Auch ein Angriff mit Silvesterknallern in der Dusche schien niemanden wirklich aufzuregen: mein Zimmergenosse hatte Knallkörper mit brennender Lunte zu mir ins Bad geworfen und die Tür von außen verriegelt. Zum Glück sind die, die in Duschkabine fielen, nicht explodiert. Ich war nachher aber stundenlang fast taub. Aus Angst fuhr ich manchmal tagelang mit der U-Bahn im Kreis und blieb nachts in Abbruchhäusern hängen. Dabei war das Gebäude, in dem meine „Gruppe“ untergebracht war, selbst sehr baufällig und ausgesprochen schmutzig.
Wenn ich etwas wollte, mußte ich schriftliche Anträge stellen, über die dann auf der nächsten Dienstberatung der Erzieher entschieden wurde. Das kam öfters vor, etwa nachdem mir das Taschengeld gestrichen worden war, weil ich wieder mal irgend was ausgefressen hatte. Auch Strafarbeiten im Zusammenhang mit der benachbarten Wichern-Schule waren häufig, wohl schon deshalb, weil diese Schule mit dem Rauhen Haus irgendwie zusammenhängt (gleicher Träger oder so). Einmal mußte ich eine Woche je eine Stunde nach der Schule Hausmeisterarbeiten machen, u.a. Tafeln schleppen. Auch an der Wichern-Schule war ich übrigens öfter das Opfer von Schulhofkeilereien, was die Lehrer wenig interessiert hat. Die Täter kamen stets aus dem Rauhen Haus, meist aus meiner eigenen Gruppe, und hatten in der Schule keine Probleme für solche Prügelattacken zu befürchten, weil es die Erzieher dort nicht sahen oder sehen wollten und ein Rausschmiß für Heimkinder unmöglich war.
Natürlich gehörte Arbeit auch sonst zum Programm. Das meint aber weniger Hausarbeiten, sondern solche im Hamburger Hafen. Wer ein Privileg wollte, wie auf eine Klassenfahrt gehen zu dürfen, mußte Arbeitsstunden nachweisen. Hierzu gab es einen Treffpunkt im Hafen, wo Jobs verteilt wurden. Man mußte sich in den frühen Morgenstunden anstellen und wurde von Hafenleuten für Hilfsdienste aller Art im Umfang von bis zu zehn Stunden aufgesammelt, wobei man Glück oder Pech mit der zugeteilten Arbeit haben konnte. Dies hatte, soweit ich erkennen kann, aber nur eine „pädagogische“ Intention und war keine Ausbeutung. Das Heim scheint von dieser Arbeit keine Vorteile gehabt zu haben. Ich durfte so verdientes Geld behalten. Ob es freilich nach den damaligen Regeln legal war, vermag ich nicht zu sagen.
3. Weitere Lebensgeschichte
Während meiner Heimkarriere hatte ich keine durchgängige Schulausbildung; allerdings habe ich mich auch immer durch die Schule unterfordert gefühlt. Streckenweise war ich in der Hauptschule, für einige Zeit in gar keiner Schule. Dennoch schaffte ich am Ende ein Abitur, und meine Adoptivmutter finanzierte mein Studium. Ja, Geld gab es immer, aber eben nur Geld. Erst an der Universität hatte ich das Gefühl, daß ich hier wirklich was lernen kann, ich mich aber auch wirklich anstrengen muß. 1988 machte ich das zweitbeste Examen meines Jahrganges an der Universität.
Gesellschaftlich habe ich indes mit meinen Kommilitonen oft quergelegen, da ich es nicht unterlassen konnte, selbst zu denken und gegen den (damaligen) linken Zeitgeist zu polemisieren. Seither bin ich erfolgreich selbständig tätig, liege aber immer noch mit dem (inzwischen grünen) Zeitgeist quer, nur daß meine Publikationen inzwischen in den einschlägigen Suchmaschinen ganz oben erscheinen, aber hier werde ich natürlich keine meiner Titel nennen. Auch nicht die, die man in Buchläden kaufen kann.
Ich habe eine Ehefrau, die wenig über meine Vergangenheit weiß, und ein halb abbezahltes Einfamlienhaus, aber keine Kinder. Ich hasse Kinder. Das aber liegt weniger an ihnen sondern nur an mir selbst, denn Kinder erinnern mich an meine eigene Kindheit. Das kann ich nicht ertragen.
Mit meiner Adoptivmutter habe ich schon seit ca. zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Ich weiß aber, daß sie mir nie geglaubt hat, was damals passiert ist. dafür kenne ich seit einigen Jahren meine wirkliche Mutter und meinen Vater, die mit den geschilderten Ereignissen nichts zu tun haben.
4. Spätfolgen
Unfreiheit ist ein gemeinsames Thema aller meiner Heimaufenthalte. Ständig unter der Kontrolle von Erziehern, die mich gleichwohl nie erziehen konnte, wurde die Freiheit folglich zum Generalbaß meiner späteren Lebenszeit. Bis heute habe ich außer der Kfz-Haftpflicht, zu der ich gezwungen werde, keine Versicherung – nicht mal eine Kranken- oder Rentenversicherung. Ich verachte alle kollektiven Systeme und halte mich systematisch aus ihnen fern. Aus dem gleichen Grund hatte ich auch noch nie ein Arbeitsverhältnis, was indes in meiner Branche bei sehr vielen freiberuflichen Aufträgen leicht ist.
Die Dinge, die man mir wegnehmen wollte, habe ich mir doch erhalten: ich bin frei und selbständig, niemandem zur Rechenschaft verpflichtet und mein Kapital ist mein Geist. Indes war ich 27 Jahre als ich zum ersten Mal Sex mit einer Frau hatte; vorher war ich impotent, und das hatte ganz gewiß keine oganischen Gründe. Erhebliche bisexuelle Tendenzen mögen auch auf die Heimzeit zurückzuführen sein.
Meine latent stets vorhandene Gewaltbereitschaft ist erheblich und eine ständige Gefahr für mich und andere, obwohl ich nur ein Mal wirklich einem Menschen Schaden zugefügt habe, aber das war 1975 (und hatte erstaunlicherweise keinerlei Rechtsfolgen, obwohl eine Jugendstrafe dringewesen wäre). Ich bin sehr ungeduldig und betrachte die Hupe als wichtigsten Teil am Auto; auch dürfte es kaum ein Zufall sein, daß ich Inhaber eines stolzen Punktekontos in Flensburg bin.
Aggression ist meines Erachtens nach aber nur die Kehrseite eines eisenharten Willens, und normalerweise schaffe ich gegen alle Widerstände, was ich mir vornehme, auch wenn es nächtelange Arbeit erfordert. Das hat seither aber auch dazu geführt, daß ich keine Probleme mit Arbeitslosigkeit habe.
Daß ich als Kind nur gelernt habe, mich zu verteidigen, nicht aber, mit anderen Menschen angemessen umzugehen, hat sich anfänglich als erhebliches Problem erwiesen. Erst als Freiberufler mußte ich bestimmte Umgangsformen und soziale Konventionen lernen, die andere Menschen normalerweise in dem Alter längst beherrschen.
Zu den weiteren Spätfolgen gehören Schlaflosigkeit, Ängste und ein unklares Herzproblem. 1998 hatte ich einen Herzstillstand und seither mehrfach gravierende Kreislaufprobleme. Für einige Jahre war ich von Schlaftabletten abhängig, konnte dieses Problem aber aus eigener Kraft überwinden. Seit ich (in mehreren Heimen) zeitweise Klebstoff geschnüffelt habe, bin ich von schleimhautabschwellenden Nasentropfen hochgradig abhängig (Konsum mehr als eine Flasche am Tag). Da diese Mittel in den Heimen nicht verfügbar waren, habe ich die Nase mit chlorhaltigem WC-Reiniger freigebombt, was nicht unbedingt gesundheitlich förderlich ist. Das muß bekannt gewesen sein, da man ständig die WC-Ente in meinem Zimmer gefunden hat; behandelt wurde es damals indes nie. Ich habe daher jetzt keinen Geruchssinn mehr.
Daß ich inzwischen Diabetiker bin, könnte mit übermäßigem Süßigkeitenkonsum zu tun haben. Dies könnte ein Nachholverhalten aus der Zeit der weggenommenen Leckereien sein. Selbst als Student habe ich oft eine 400g-Tüte Zuckerzitronentee ohne Wasser während einer einzigen BWL-Vorlesung konsumiert, oft noch mit 500 g Traubenzucker aufgepeppt, was mir wohlverdiente Spitznamen eingetragen hat. Diabetes und die gefürchteten Spätfolgen sind aber nur ein Grund dafür daß ich seit einiger Zeit ein Gift besitze, mit dem ich jederzeit meinem Leben ein Ende machen könnte, wenn ich müßte. Auch wenn ich das vielleicht nie wirklich tue ist doch das Bewußtsein, mit einem stets verfügbaren Notausgang nur leben zu können aber nicht zu müssen, eine große Beruhigung für mich.
Der Tod ist im Grunde mein ständiger Begleiter, und von den beiden schon erwähnten Selbstmordversuchen abgesehen habe ich in späteren Jahren (während meiner ausgedehnten Aufenthalte in anderen Ländern) bisweilen sehr risikoreiche Dinge getan. Einmal bin ich absichtlich in ein Kriegsgebiet gereist und als Tourist über die Grenze der beiden verfeindeten Staaten gereist – ohne dabei erschossen oder verhaftet zu werden.
5. Vergessen und vergeben
Der jahrelange Weg durch ferne Länder und mehr oder weniger gefährliche Situationen hat es nicht gebracht. Der Weg nach innen ist vielleicht eine Alternative, aber auch keine einfache. Viel besser wäre es vermutlich, den deutschen Soldaten ein Trainingscamp für den Häuserkampf zu bauen – in St. Peter, in Nienbergen oder anderswo. Ich weiß nicht, ob Deutsche am Hindukush den Drogenanbau schützen müssen, aber ich weiß einen guten Platz für ein Bombodrom, nämlich da, wo ich als Kind gefangengehalten wurde. Da gäbe es gleich eine ganze Auswahl neuer Truppenübungsplätze.
Da aber die Soldaten keine neuen Panzerplätze brauchen, und ich auch die Bebauungspläne nicht ändern kann, könnte ich Alkoholiker werden, doch nach vier Mal Malaria vertrage ich nicht mal mehr ein Mon Cherie. Also bleibt nur die Arbeit, und die ist in Wirklichkeit ein Kampf ums Überleben. Denn der Kampf, das ist mir in der härtesten aller Schulen in die Seele gebrannt worden, ist der einzige Weg der Existenzsicherung, wirtschaftlich wie physisch. Immerhin habe ich meinen Weg genommen, gegen alle Widerstände. Von Klebstoff und Benzin gegen Hunger und Verzweiflung bin ich bis zum Eigenheim gekommen. Das ist immerhin auch was wert.
Eines aber habe ich gelernt: Man kann kämpfen, man kann siegen. Nur nicht vergessen und vergeben. Noch nicht.

Nachbemerkung:

Für Zwecke der wissenschaftlichen Aufarbeitung stehe ich für weitere Fragen und Auskünfte zur Verfügung. Jetzt da ich nach Jahrzehnten erstmals über diese dunkle Zeit geschrieben habe, werde ich den Weg auch weiter beschreiten. Ein Kontakt ist nur über www.heimseite.de möglich.